Lektüren IVAus der BücherweltAndreas Mertin |
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Mein letztes LexikonDer April-Ausgabe der Computer-Zeitschrift PC-WELT lag als CD die Vollversion des Brockhaus in Text und Bild 2002 bei. Die CD umfasst ungefähr 110.000 Artikel, 190.000 Stichwörter, 8000 Bilder und entspricht damit in etwa dem 15-bändigen Brockhaus. Einmal mit seinen knapp 500 Megabyte auf der Festplatte installiert kann das Lexikon in jeder Situation und aus jedem Programm sofort genutzt werden. In der Mitte jeden Monats wartet im Internet eine Megabyte große Aktualisierungsdatei auf den Download, so dass das Lexikon inzwischen auch schon weiß, das die Taliban vertrieben wurden oder dass der französische Soziologie Pierre Bourdieu am 23.01.2002 verstorben ist. Kein herkömmliches Lexikon, keine Enzyklopädie kann eine derartige Aktualität vorweisen. Natürlich zollt ein solches zeitgeistnahes Medium diesem auch Tribute, etwa wenn der Artikel über die Kelly-Family ("Die bekannteste Großfamilie der Welt") deutlich länger ist als der über den Romantiker Novalis und nahezu gleich lang wie der über Immanuel Kant. Der erwähnte Bourdieu wird dagegen mit einen Dreizeiler abgespeist. Dennoch ist der schnelle Klick zur Information reizvoll, zumal viele Artikel von renommierten Fachautoren geschrieben wurden. Mein altes Lexikon aus Studentenzeiten habe ich daher nun endgültig aus meiner Bibliothek verbannt, es ist nur noch historisch, im Rückblick interessant. Letztes LexikonEinen Rückblick auf die 250 Jahre lexikalischer Wissensvermittlung liefern Werner Bartens, Martin Halter und Rudolf Walther mit ihrem Buch "Letztes Lexikon", das im April 2002 als zweihundertachter Band der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek erschienen ist. Als "Abgesang auf das allwissende Buch" wird das Werk beschrieben. Die Autoren haben in einer Art Mini-Lexikon von A wie Abenteuer bis Z wie Zwerge Amüsantes, Lehrreiches und Interessantes aus verschiedenen Ausgaben der großen Lexika zusammengestellt. Da lässt sich viel Lesenswertes finden, etwa die Veränderung des Artikels Avantgarde von einer militärtechnischen zu einer kunsthistorischen Beschreibung. Oder die präzise Bestimmung des Lebens im Brockhaus von 1851: "Leben ist ein schwer zu definierender Begriff, obschon vielleicht die meisten Menschen ganz gut zu wissen glauben, was sie sich darunter zu denken haben." Volk ohne BuchAllenfalls noch in Bibliotheken oder Antiquariaten greifbar ist "Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910" von Rudolf Schenda. Dennoch ist das Buch gerade im Rahmen der erregten Debatten über die Schädlichkeit der neuesten Medien äußerst lesenswert. Das - im Klappentext zusammengefasste - Fazit seiner Studie: "Das bürgerliche 19. Jahrhundert hat die hoffnungsvollen Bildungstendenzen der Spätaufklärung aus Furcht und Eigennutz verkümmern lassen; die bei dem lückenhaften Schulsystem wenig zahlreichen Leser, eine dünne Oberschicht von städtischen Bürgern, konsumierten zumeist Bilderbogen, Flugblätter und Heftchen. Diese, vom Kolporteur geliefert, kamen den Forderungen ungeübter Leser nach Information, Identifikation, nach fiktivem Kontakt oder nach Konsolation entgegen". Irgendwie klingt dies vertraut, nur dass es in der Gegenwart in der Regel eher auf Video- und Computerspiele gemünzt wird.
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