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Magazin für Theologie und Ästhetik


Ästhetische Theologie?!

Eine Topologie medialer Heiligenlegenden

Andreas Mertin

Erfrischende Theologie

Wer mit der üblichen Sterbenslangeweile konventioneller theologischer Bücher vor allem systematisch-theologischer Provenienz vertraut ist und mit diesem Vor-Urteil Klaas Huizings "Ästhetische Theologie. Der inszenierte Mensch"[1] aufschlägt, wird überaus angenehm enttäuscht. Betont subjektiv und gerade darin nachvollziehbar vermittelt Klaas Huizing seine zahlreichen Lektüreerfahrungen (von der wissenschaftlichen Literatur über den Kinofilm bis zu Videoclips und zum postmodernen Kunstwerk) an die Leserinnen und Leser und bietet ihnen viel Stoff zum Nachdenken und Nach-Lesen/Schauen/Hören. Schon die sympathetisch vorgetragenen Lektüren Huizings lohnen die Lektüre des Buches durch den Leser.

Klaas Huizing, geboren 1958, promovierte in Philosophie und Theologie und veröffentlichte 1993 seinen ersten Roman Oberreit oder Der Gesichtsleser. Mit seinem in mehrere Sprachen übersetzten Bestseller Der Buchtrinker (1994) und seinem Kant-Roman Das Ding an sich (1998) erlangte er auch bei der literarischen Kritik großes Ansehen.[2] Huizing lehrt Systematische Theologie an der Universität Würzburg und lebt am Starnberger See. "Der inszenierte Mensch" ist der zweite Band einer auf drei Teile angelegten "Ästhetischen Theologie".[3]

Die Einleitung zur Medien-Ästhetik

Als Aufbauwissenschaft der Theologie möchte Huizing in seinem einleitenden Kapitel die Medien-Ästhetik verstehen. Dazu rekonstruiert er noch einmal die zentralen Gleichungen des ersten Bandes zur Ästhetischen Theologie, die da lauten:

A. Theologie = (Bibel) Ästhetik
B. Bibel = Inkarnationsdrama
C. Leseakt = Reinkarnation = Wiedergeburtsdrama
D. Ästhetische Theologie = Phänomenologie + (Hermeneutik = Symbolismus + Pragmatismus)

Darauf aufbauend entwickelt Huizing drei weitere medienbezogene Gleichungen:

E. Theologie = Medienästhetik als Medienanthropologie
F. Ästhetische Theologie > Leseästhetik
G. Ästhetische Theologie = ästhetische ( religiöse Erfahrung.

Dabei gibt es für die In-Beziehung-Setzung verschiedene Deutungsangebote

a. Das ontologische Angebot [Paul Tillich]
b. Das hermeneutische Angebot [Hans Georg Gadamer]
c. Das urteilslogische Angebot [Wilhelm Gräb]
d. Das gestische Angebot [Hermann Schmitz]

Schmitz folgend beschreibt Huizing seine Programmatik so: "Die neuen, audiovisuellen Medien inszenieren, so meine These, Wiedergeburtserfahrungen oder Konversionsangebote bei Ihnen, den Rezipienten, wenn Legenden gecovert oder neu gestiftet werden. Will man diese Prozesse beschreiben und bewerten, muss man zwischen den gestischen Kulturen unterscheiden, die die Legenden bebildern, um spezifische Motivationen bei den Menschen zu erzeugen. Christlich religiös sind diese ästhetischen Erfahrungen, wenn das biblisch archivierte Gestenvokabular von Toleranz und Solidarität in neuer Gestalt berührt und zu einer Lebenswende herausfordert. Ich schlage folgende zunächst weiche Definition vor: Christliche Religion artikuliert sich im Kontext der audiovisuellen Medien als religiös-ästhetische Erfahrung. Durch spezifische Gesten werden dabei leibkörperlich gespürte Atmosphären inszeniert, in denen die christlich-religiöse Wahrnehmungskultur und Lebensdeutung wiedererkannt und eigens als Motivation aufgenommen und im Lebensvollzug dargestellt wird. Hinsichtlich des Gegenstandes, des Aneignungsmodus und der Funktion aufgeschlüsselt ergibt das: Inhaltlich wird die christliche Religion an die in Jesus inkarnierte Liebesatmosphäre, die sich in spezifischen Gesten ausdrückt, zurückgebunden. Formal wird die christliche Religion als zunächst (!) eigen-leiblich gespürte Erfahrung bestimmt, die den Prozess des Wiedererkennens anstößt und auf eine kreative Einleibung drängt. Funktional wird die christliche Religion als Wiedergeburt oder Konversion verstanden, was einer religiösen Lebenswende gleichkommt, die trotz der eingewobenen Dramatik auch entlastende Momente einschließt. So definiert, wird die Schnittmenge von ästhetischer und (christlich) religiöser Erfahrung auf urbildliche Eindruckserfahrungen - die sich durchaus auch partiell in abstrakten Verdichtungen der Liebes-Atmosphäre darstellen können - eingeschränkt." [S. 35f.]

Theologie als Medienanthropologie

Unüberlesbar ist Huizing an der Literatur als Paradigma der Beurteilung anderer Medien interessiert. Medienanthropologie wird von ihm konsequent als Lektüreerfahrung durchgeführt. Und so heißt konsequenterweise der erste Abschnitt der Medienanthropologie: "Mediologie oder: Bookmarks zu Ehren Gutenbergs" und verweist den Leser auf die Literatur als Beobachterin der Radio- und Musik-Kultur (F. C. Delius, Nick Hornby, Salman Rushdie), der Fernseh- und Film-Kultur (Walter Kempowski, Douglas Coupland, Bret Easton Ellis, Georg Klein), der Internet- und Cyberworld-Kultur (Richard Powers, William Gibson). Die rekursive Liebe der Filmemacher zum "festen Buchstaben" demonstriert Huizing anschließend an Peter Greenaways Film "Die Bettlektüre".

Der zweite Abschnitt "Anthropologie oder: Der Mensch ist ein Medien-Wesen" lässt nach den Literaten die Theoretiker zu Wort kommen. Allen voran natürlich Marshall McLuhan, aber auch den "apokalyptischen Reiter" Günther Anders, den "Medien-Cowboy" Vilem Flusser und nicht zuletzt den "smarten Konvertiten" Jochen Hörisch. Gegen Hörisch möchte Huizing aber statt an einer formalen Konversionsbeschreibung die Konversion (von Abendmahl zum Geld zu den Medien) an einen "emphatischen Sinnbegriff zurückbinden": "Von der Konversion in einem starken Sinn zu reden macht nur Sinn, wenn Heiliges im Spiel ist" (90f.). Die Erträge der medienphilosophischen Vorstellungen bilanziert Huizing dann in einer kurzen "Medienkunde" (S. 91f:):

  1. Das Primär-Medium im Umgang mit den technischen Medien ist der Körper.
  2. Sekundäre und tertiäre Medien (Pross) sind Körperextensionen (McLuhan) des Primärmediums.
  3. Medien als Körperausweitungen sind Gesten (Flusser), die neue Ausdrucksmöglichkeiten bieten.
  4. Medien ermöglichen als Eindrucksverstärker im Idealfall spielerische Identifizierungen mit Lebensentwürfen. Dies gilt nicht nur für die Literatur, sondern auch für die audiovisuellen Medien und sogar für den Cyberspace.
  5. Medien machen als Eindrucksverstärker Angebote zu kleinen, mittleren und großen Konversionen. Große Konversionen kommen ohne die Idee des (schwachen) Heiligen nicht aus. Heiliges ist im Spiel, wenn sie die Unwahrscheinlichkeit (Luhmann nennt Medien "Unwahrscheinlichkeitsverstärker", 1996) von Heiligenlegenden für das eigene Leben glaubhaft und nachvollziehbar erscheinen lassen.

Es folgt dann im dritten Abschnitt eine knapp fünfzigseitige "Dramatologie oder: Ritual-Schule der Gesten", aus der ich an dieser Stelle nur den abschließenden Teil hervorheben möchte, die Darstellung und Kritik der aktuellen "Gestenkulturen: Die Gesten der Güte, des Cool und der Resignation" (138-146). In der Auseinandersetzung mit Ulf Poschardt (Cool, 2000)[4] und Franz Josef Wetz (Die Kunst der Resignation, 2000)[5] wirbt Huizing für "eine gestische Kultur der Güte", die sich an den Gleichnissen Jesu exemplifiziert.

Topographie medialer Heiligenlegenden

Nach der "Theologie als Medienanthropologie" im ersten Teil des Buches, setzt sich der zweite Teil mit der "Topographie medialer Heiligenlegenden" auseinander. Was Huizing dem Leser dabei ansinnt - und materialiter dann auch auf den folgenden 100 Seiten nahe bringt, ist, die modernen Leinwand- und Pop-Legenden in eine Kontinuität der Heiligenlegenden einzuordnen. Und das soll ganz affirmativ ohne kulturkritischen oder kulturpessimistischen Unterton geschehen.

Zuvor konturiert Huizing am Beispiel des Film verschiedene bereits etablierte "Sehhilfen", darunter:

  • Jörg Herrmanns "religionshermeneutische Sehhilfe", deren Ergebnisse er allerdings - meines Erachtens zu Unrecht - als kontingent verwirft. Nun kann jeder selbst beurteilen, ob und inwieweit Liebe, Natur und das Erhabene leitende Themen des Mainstream-Kinos der letzten 10 Jahre waren.
  • Folkart Wittekinds "postfunktionale Sehhilfe", deren Verknüpfung mit der Religion ihm freilich nicht einleuchten will.
  • Bettina Brinkmann-Schaeffers "Dichte-Beschreibung Sehhilfe", der er mangelnde Bearbeitung des Filmmaterials und damit einseitige Bevorzugung der Rezeptionsästhetik vorhält.

Diesen Ansätzen gegenüber entwickelt Huizing seine "postsubstantielle Sehhilfe", die Erfahrungsorientierung und Funktionsgesichtspunkte aufnimmt und der Kultur der Güte-Gesten treu bleibt. Dabei legt Huizing folgende "harte Definition" (nach der schon zitierten weichen) des ästhetischen Religionsbegriffs zugrunde:

Christliche Religion speist sich aus dem Eindruck, den die urbildliche Legende durch den Einsatz eines Ensembles von Güte-Gesten gemacht hat (1), der auch heute noch religiöse Virtuosen zu medialen Cover-Versionen inspiriert (2), Alltagsrezipienten ermuntert und motiviert, sich spielerisch mit dieser (Medien) Legende zu identifizieren (3), um einen hermeneutischen Prozess des Wiedererkennens und ein Reflexivwerden der Biographie auszulösen, der im Idealfall eine Neukonstitution oder eine Wiedergeburtserfahrung evoziert (4) und auf lebensweltliche Darstellung (5) drängt.

Dazu untersucht er im Folgenden vier Filme und zwei Videoclips (bei deren Auswahl man natürlich auch von einer gewissen Kontingenz sprechen kann). Er geht dabei so vor, dass einer Nacherzählung der Lackmus-Test der Legendenbildung folgt. Diesem wiederum folgt die Analyse des Films bezüglich der atmosphärischen Tönung samt eingeschlossenem Konversionspotential.

Erster Heiliger im Blickfeld der Untersuchung ist die "Truman Show" mit Truman Burbank, gespielt von Jim Carrey, der unter der Überschrift "Die Legende vom True Man" dem Ausbruch aus dem Paradies zugeschlagen wird. Das hat seine filminterne Plausibilität und doch glaube ich, dass Huizing mit der Legende von Christopherus weiter gekommen wäre, die er zwar im Blick auf Truman kurz andeutet, dem aber nicht nachgeht, weil er sie für einen anderen Film reserviert hat. Der Regisseur Christof, der an seinem True Man letztlich scheitert und dessen Größe anerkennen muss: das wäre eine Lektüre gewesen, die über die medienkonforme Lesart hinaus gewinnbringend gewesen wäre. So aber bleibt die negative Erkenntnis: "Das Paradies und das Leben sind anderswo. Der Film lehrt die Kunst, medial inszenierte Authentizität zu feiern und zugleich um die Inszeniertheit zu wissen."

"Die Legende von Franziska von Assisi" (die Assoziation an Franziska van Almsick hat Huizing vermutlich bewusst in Kauf genommen) geht dem Film "Stigmata" nach. Huizings Lesart des Films: "Der Film kritisiert jene Bewegungssuggestionen, die sich in den großen Kathedralen verdichten, und stellt sie um auf die Umgebungsqualitäten des menschlichen Körpers. Der Film bietet eine filmische Kritik der sich in den Bewegungssuggestionen der großen, kalten Gebäude ausdrückenden Religionskulturen, die als schlechtes 'Zwischen' die vom Einzelnen ausgehenden Anmutungscharaktere überstrahlen. Damit übersetzt der Regisseur bildsprachlich die Grundaussage des Thomasevangeliums: Gott ist in dir und um dich herum ...".

Der Film "Dogma", dem Huizing die "Legende von Christophora" zuweist, ist meines Erachtens die schwächste Wahl in seiner Filmographie. Hier hätten sich sicher andere Filme als geeignetere Wahl angeboten, zumal die Schlussfolgerungen, die Huizing aus der Analyse zieht, denen des Films "Stigmata" ziemlich ähneln.

Bleibt schließlich die "Schweißtuch-Legende" des Films "Forrest Gump" (gespielt von Tom Hanks). Hier lautet Huizings überraschende Diagnose: "Der Forrest-Gump-Jogger-Clip stiftet eine ironisch-kritische Leben-Jesu-Legende für die Gegenwart". Warum dann die Legende nicht auch so nennen? Die insinuierte Analogie ist ja hier eigentlich nicht Forrest Gump = Veronika (= vera ikon), sondern Forrest Gump = Jesus Christus (= Bild Gottes).

Die Legenden des Films reichert Huizing schließlich mit Legenden aus Videoclips an. Zum einen natürlich die inzwischen in der akademisch-theologischen Literatur anscheinend unverzichtbare Madonna [hier verzichte ich auf die Kommentierung, weil ich selbst involviert bin], zum anderen der "erregte Christopherus" Marius Müller-Westernhagen. Ist es unplausibel zu vermuten, dass aktuell noch der "wahre Mensch" Herbert Grönemeyer hinzukommen würde? Und da Huizing offenkundig einen Hang zu den als blasphemisch titulierten Pop-Kultur-Werken hat, schließt sich noch Peter Steeles "Christian Woman" an.

Quasi als "Kontrollgruppe" für sein bis dahin am populärkulturellem Material erprobtes Verfahren, legt Huizing schließlich im Schlusskapitel eine Besprechung von Bill Violas "Nantes Triptych" nach, einem Video-Triptychon, das dem Werden, Leben und Vergehen der menschlichen Existenz in eindringlich atmosphärischen Sequenzen nachgeht. Die Geburt eines Menschen, der gefilmte Tod der eigenen Mutter, ein im Wasser schwimmender, tauchender, treibender Mann - existentielle Paradigmen herausragend inszeniert. Und doch bleibt ein Unbehagen zurück ....

Zur Kritik

Das Problem, das ich in Huizings Arbeitsweise sehe, ist, dass es bestimmten akzentuierten und vor allem überdeutlichen Inszenierungen gegenüber luziden Einspielungen den Vorzug gibt, vielleicht sogar geben muss. Ist es zufällig, dass er mit "Stigmata", "Dogma", "Christian Woman" immer auch solche Werke wählt, die auf Protest gestoßen sind, und die man mit Fug und Recht als gewollt wirkungsästhetisch überpointiert bezeichnen kann?

Man kann vielleicht an Huizings scheinbar unverdächtigen Notationen zu Bill Viola die Grenze(n) seines Auswahlverfahrens aufzeigen. In einer Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. Juli 2002 hatte László F. Földényi einen Vergleich von Arbeiten von Joseph Beuys und Bill Viola vorgenommen, die er beide kurz hintereinander in Berlin gesehen hatte. Und er schreibt über seine Reaktionen:

"Beim Betrachten der Videos (in der Ausstellung von Bill Viola "Going Forth by Day", A.M.), die mich ebenso faszinierten wie die übrigen Zuschauer, hatte ich immer stärker das Gefühl, betrogen zu werden. Ich weiß nicht, von wem. Nicht von Viola, denn seine Filme enthalten kein Element, das sich in seinem eigenen Kontext nicht am rechten Platz befände und nicht authentisch wäre. Und auch Zweifel an seiner Aufrichtigkeit wären überflüssig. Der Ernst, den seine Filme ausstrahlen, sucht heute seinesgleichen. Und dennoch. Vielleicht hätte ich vorher nicht den Beuys- Film sehen dürfen. Nun wurde ich das Gefühl nicht los - Leben und Tod hin, Auferstehung und Katastrophe her -, eine Art Komödie zu sehen, ein Spiel. Verstellung. Wo das Christentum und der Buddhismus, an die man bei Violas Filmen denken muss, die Werke in Wirklichkeit nicht durchdringen, sondern nur Anführungszeichen sind. Und ich sehe nicht den Tod und die Auferstehung, sondern ein Video, das zeigt, wie ich den Tod und die Auferstehung sehen soll. Ich bin davon nicht erschüttert, vielmehr sage ich mir, dass ich erschüttert sein müsste. Dies alles lässt mich Viola lückenlos und auf perfekte Weise wissen. Ich könnte auch sagen, er tut es stromlinienförmig. So, wie heutzutage von allem hauptsächlich Stromlinienförmigkeit verlangt wird - ob es sich um ein Auto, eine Partnerschaft, einen Gedanken, einen Roman, ein Kunstwerk handelt. Und dieser Spuk verdarb mir endgültig den Genuss."

Meines Erachtens bevorzugt Huizing nun bei seiner Materialauswahl genau derartige inszenierte kulturelle Produkte, die unter dem von László F. Földényi herausgearbeiteten Vorbehalt der religiösen Nicht-Durchdringung stehen. Natürlich kann man das mit guten Gründen vertreten und darauf hinweisen, dass die gesamte kulturelle Praxis des Christentums letztlich eine inszenierte ist und dass etwa der Beuys'sche Ansatz eher einen peinlichen Zug ins Schamanistische hat. Das Unbehagen, dass László F. Földényi artikuliert, bleibt jedoch auch dann bestehen.

Vielleicht ist dieses leichte Unbehagen genau in dem Vorgang begründet, den Markus Steinmayr in Heft 9 des Magazins für Theologie und Ästhetik am Beispiel von Vinterbergs Dogma-Film "Das Fest" beschrieben hat: Das es nämlich im engeren Sinne auch um ein "Recycling" christlich-jüdisch Gedankenguts geht. Steinmayr schreibt dazu: "Recycling ... bezeichnet die Gegenbewegung zu einer Geschichtsphilosophie des Fortschritts in der Zeit. Recycling ist eine Gründungsstruktur kultureller Praktiken, die davon ausgeht, dass sich Wiederverwertung kulturellen Kapitals dahingehend beschreiben lässt, Neues auf der Basis des in neue Gestalt geronnenen Alten und damit gleichzeitig Vergessenen zu gründen. Es bezeichnet von daher eine Strategie des Vergessens."[6]

Videokunst jedoch, wie sie etwa Bjørn Melhus in der Aufnahme religiöser Gesten präsentiert, ist wesentlich eindringlicher, weil sie über die Inszenierung hinaus eben auch analytisch und kritisch ist. Semiotisch gesprochen: sie bietet mehr Lesarten, ist ein wesentlich offenere Form der Kunst. Vor allem aber geht sie den Transformationen der Kultur ergebnisoffen nach. Allerdings hat Melhus - anders als Beuys und Viola - auch keine religiösen Intentionen. Er bearbeitet Kultur bzw. Medienkultur ganz allgemein.

Nimmt man die Frontstellungen auf, die Huizing in der akademischen Analyse kultureller Phänomene skizziert, fragt sich, wie viel er etwa über eine semiotische Lesart hinaus leistet. Über weite Strecken des Buches argumentiert und analysiert Huizing semiotisch, ohne freilich das angestrengte Vokabular dieser Disziplin zu verwenden. Die Gesten der Güte und die wiederholte Rede von des Lesarten der untersuchten Materialien lassen sich gut in eine semiotische Erschließung des untersuchten Materials integrieren. Dort, wo Huizing meine eigenen Studien zu Madonnas "Like a prayer"[7] phänomenologisch interpretierend aufgreift, wären seine Beobachtungen ohne größere Mühe in meine Studien zu integrieren.[8] Was umgekehrt ja offensichtlich auch gilt wie das Madonna-Kapitel zeigt.

Die Aufregung dagegen, die Huizing bei konventionellen Theologen[9] hervorruft, ist dagegen ebenso so verständlich wie unberechtigt. Verständlich, weil er produktiv Chaos in die nur noch scheinbar geordnete Welt der Gemeinde- und Kirchen-Theologen bringt, unberechtigt, weil deren Weltbild schon lange keine Gültigkeit mehr besitzt. Nicht zuletzt weil die beliebte Gegenüberstellung von Ethik und Ästhetik, die mancher noch betreiben zu müssen meint, seit nahezu 50 Jahren überholt ist.

Es ist die Stärke des Buches von Klaas Huizing, dass es diese Frontstellung weit hinter sich lässt. Zu Recht verweist Huizing darauf, dass eine Ästhetische Theologie und eine Ethische Theologie als Theorie der Lebensführung sich ergänzen. Vielleicht sollte man darauf hoffen, dass Klaas Huizing nach seiner dreibändigen Ästhetischen Theologie zur Ergänzung noch eine ebensolche Ethische Theologie schreibt.

Anmerkungen
  1. Klaas Huizing: Ästhetische Theologie. Band II: Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie, Stuttgart 2002.
  2. Klaas Huizing: Oberreit oder: Der Gesichtsleser. Ein physiognomischer Roman. Stuttgart 1992. Ders., Der Buchtrinker. Zwei Romane und neun Teppiche, München 3/1994. Ders., Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen, Berlin 1996. Ders., Das Ding an sich. Ein Kant-Roman, München 2000. Ders., Das Buch Ruth. München 2000. Ders., Auf Dienstreise, München 2001.
  3. Klaas Huizing: Ästhetische Theologie Band I: Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie. Stuttgart 2000.
  4. Ulf Poschardt: Cool, Frankfurt/M. 2000
  5. Franz Josef Wetz: Die Kunst der Resignation, Stuttgart 2000.
  6. Markus Steinmayr, Monotheismus der Zeichen und der Aufstand der Söhne. Dogma95 und Thomas Vinterbergs Fest, www.theomag.de/09/ms1.htm
  7. Vgl. Verf.: "Like a sign. Medienkunst - Semiotik - Bilddidaktik"; in: Dressler/Meyer-Blanck (Hg.), Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik. Münster 1998, S. 83-142.
  8. Wenn es eine Schwäche in Huizings Buch gibt, dann seine missverstehende Reduktion der Semiotik auf Zeichensammlung und religiöser Semiotik auf das Aufspüren religiöser Zeichen.
  9. Exemplarisch Prof. Dietz in seinem der Öffentlichkeit vorübergehend über das Internet zugänglich gemachten Referat auf der Dekanatssynode Aschaffenburg am 13. März 1999 unter dem Titel "Evangelische Identität in einer sich wandelnden Gesellschaft": "Grundmerkmal der Postmoderne ist ein Ästhetizismus, d.h. eine primär ästhetische Weltauffassung. In diesem Kontext ist Gott entweder ganz überflüssig oder eine Art Oberdramaturg bzw. Schriftsteller, die Welt seine Bühne und die Bibel eine Art dramaturgisches Handbuch, das uns hilft, die dunkle Grammatik der Schöpfung zu entziffern [So z.B. der Würzburger Theologe Klaas Huizing, Homo legens, 1996]. Die ästhetische Dimension der Weltdeutung wird verabsolutiert, die ethische Dimension nivelliert und die religiöse in das Ästhetische zurückgenommen. Schleiermacher, Novalis, Hamann und Lavater sind neben anderen Romantikern die "Großväter" dieser ästhetischen und alles ästhetisierenden Weltsicht. Im Jahr 1842 hat der Däne Søren Kierkegaard in Berlin damit begonnen, literarisch die Auseinandersetzung mit diesem Geist des Ästhetizismus aufzunehmen. Heraus kam sein Buch "Entweder/Oder", das die ethische Dimension der Religion gegen eine ästhetisch-schöngeistige Sicht stark macht. Die Pointe seiner Auseinandersetzung mit dem Ästhetischen liegt darin, dass sie letztlich in Nihilismus mündet (Kierkegaard spricht von "Verzweiflung"). Dies gilt zweifellos auch für die Postmoderne, die an den romantischen Ästhetizismus und Nietzsche anschließt." Das Ganze ist in seinem geballten Unsinn nur schwer erträglich. So gut wie nichts in dieser Charakterisierung ist noch sachadäquat. Vor allem die Beschreibung Kierkegaards dürfte kaum dem Stand heutiger Erkenntnis entsprechen. Kierkegaard ist kein billiger Popanz, der für die Ethik zuungunsten der Ästhetik eingesetzt werden kann.