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Magazin für Theologie und Ästhetik


Transparenz statt Transzendenz

Über Fernsehen und Religion

Jörg Herrmann im Gespräch mit Jochen Hörisch

Das Fernsehen hat ja unter Gebildeten einen ziemlich schlechten Ruf. Sie haben selbst in Ihrer Mediengeschichte darauf hingewiesen. Unter Intellektuellen scheint mir dabei eine Mischung aus Verachtung und Vielnutzung recht verbreitet. Wie halten Sie selbst es mit dem Fernsehen? Welche Rolle spielt es in dem Alltag des Medienwissenschaftlers Jochen Hörisch?

Ich zögere mit der Antwort, weil sie latent peinlich ist. Ich entspreche einem Klischee. Ich bin eitler und stolzer Medienanalytiker und mein Fernsehkonsum ist sensationell gering. Ich entspreche dem Klischee des Bildungsbürgers, der in die Oper geht und ins Theater geht und Bücher liest und extrem wenig fern sieht. Das führt dazu, dass häufig Studenten zu mir kommen, die eine Prüfung über die Lindenstrasse machen wollen und denen ich dann sagen muss, dass ich sie nicht verantwortlich prüfen kann, weil es Jahre her ist, dass ich die "Lindenstraße" das letzte Mal gesehen habe.

Aber auch, wer wenig fern sieht, hat möglicherweise einschneidende Erfahrungen mit dem Fernsehen gemacht. Gibt es in der Geschichte Ihrer Fernseherfahrungen Schlüsselerlebnisse, die für Sie prägend waren?

Eindeutig ja. Ich komme selbst aus einer kleinbürgerlichen Familie, aber mit bildungsbürgerlichem Ehrgeiz, was konkret heißt, dass ich eine fernsehfreie Kindheit und Jugend hatte, bis in die späten 60er Jahre hinein. Ich habe es meinen Eltern immer verübelt, dass sie erst dann, als ich ausgezogen bin, erstens einen Fernsehen und zweitens eine Geschirrspülmaschine gekauft haben. Nur, um mich zu ärgern. Kaum bin ich weg, sind diese wunderbaren Geräte da. Aber tolerant, wie meine lieben Eltern waren, durften wir einmal in der Woche zu ganz festgelegten Terminen zu den Nachbarskindern am anderen Ende dieser Reihenhauszeile gehen. Und dort sahen wir diese legendäre Sendung, ich glaube, Klaus Hafenstein hat sie moderiert, "Zwei aus einer Klasse", also eine frühe Quizsendung, an die sich vielleicht die älteren Semester noch erinnern und in der zwei aus einer Klasse sehr bildungsbürgerlich befragt wurden. Wann war der gallische Krieg? Wann war bei Issus die Keilerei und dergleichen mehr. Und die großartige Erfahrung, die ich hatte, war: endlich kann ich am nächsten Tag in der Klasse mitreden, denn schon damals war das Fernsehen - so etwa in der Mitte der 60er Jahre, als ich schwer pubertär war und darunter litt, wenn ich bei Gesprächen ausgeschlossen war - in der Hälfte der Haushalte vertreten. Ich konnte mich also endlich beim Stand der Diskussionen einklinken. Insofern war "Zwei aus einer Klasse" für mich das Schlüsselfernseherlebnis.

Das war vermutlich kein Erlebnis, was Ihre Weltsicht oder Ihre Lebenseinstellungen nachhaltig geprägt hat, sondern eine Erfahrung, die mehr für den kommunikativen Kontext damals wichtig war.

Ja, erst einmal eine Lebenseinstellung haben müssen im zarten Alter von 12, 13, 14. Denn meine Vermutung wäre ja gerade die, das Fernsehen hat unter anderem auch die Leistung, die Lebenseinstellung, den Habitus, die Gesten zu liefern. Das macht es ja zu so einer starken Institution. Man merkt es vielleicht nicht unbedingt, aber einem wird dann gesagt, dass man so geguckt hat, wie der Junge, der da so gescheit geantwortet hat, dass man den also imitiert hat. Ich denke, die simpelste Theorie der Medien, dass sie uns Skripte, Rollen, Klischees vorgeben, an denen wir uns orientieren, ist vielleicht nicht die unzutreffendste.

Das Deutsche Fernsehen ist ja nun gerade im vergangenen Jahr am 26. Dezember 50 Jahre als geworden - jedenfalls, was den kontinuierlichen Betrieb angeht, es gab ja schon früher Sendungen in Deutschland. Aber damals, am 26. Dezember 1952, wurde die erste Tagesschau aus einem alten Luftschutzbunker in Hamburg gesendet. Und seitdem, darauf wurde in vielen Artikeln angespielt, die es jetzt wegen dieses Jubiläums gegeben hat, beginnt der Abend in Deutschland um 20 Uhr, das Familienleben und überhaupt das Alltagsleben vieler Deutscher wird von der Tagesschau in einem starken Maße mitstrukturiert: vor dem Gong müssen die Teller in der Spülmaschine sein und nach dem Wetter müssen die Kinder ins Bett. Die Tagesschau strukturiert also den Alltag, sie sortiert das Weltgeschehen in 15 Minuten. Vor diesem Hintergrund haben manche Theologen und Medienwissenschaftler die These vertreten, dass das Fernsehen viele Funktionen der traditionellen Religionskultur übernommen hat. Der Medienwissenschaftler Knut Hickethier nennt die Funktionen der Sinnstiftung, der Orientierungsvermittlung und der Ritualisierung. Der Soziologe Jo Reichertz vertritt die These, dass die Institution Fernsehen Dienstleistungsfunktionen von der Institution Kirche übernommen habe. Was halten Sie von solchen Deutungen des Fernsehens?

Ich finde sie im Grundansatz sehr plausibel. Ich bin ja nicht nur Medienanalytiker, sondern auch Philologe. Und als Philologe fragt man sich natürlich: Was heißt Fernsehen? Television! Vision ist ein alter Begriff der theologischen Sphäre. Und wenn man Televisionär ist, dann guckt man in die fernsten aller denkbaren Fernen und das ist traditionell die Sphäre, in der sich Gott bewegt. Also schon von dem Grundbegriff Television her merkt man, dass das Fernsehen und die klassische Religionseinstellung mehr miteinander zu tun haben, als wahrscheinlich beiden Seiten recht ist. Meine These ist in diesem Zusammenhang immer die, dass Theologie ohne Medien nicht denkbar ist. Aber auch die Umkehrung gilt: Medientheorie ist sozusagen die postmodern aufgerollte Form von Theologie. Das soll einfach sehr konkret heißen: Wenn Paulus keine Briefe geschrieben hätte und das römische Postsystem nicht so souverän genutzt hätte, wäre das Christentum nicht so erfolgreich gewesen. Luther wäre heute ein Medienfreak und er war es damals schon. Luther war einfach derjenige, der mit dem damals besten Stand der Medientechnik - mit Flugblättern und eben den Medien der Gutenberg-Galaxis - am souveränsten umgehen konnte. Da sitzt einer in Wittenberg, aber er wird eine welthistorische Figur, weil er weiß, dass es so was wie eine Weltgesellschaft gibt. Kein Wort über den gegenwärtigen Papst. Er mag in theologischer Hinsicht noch so traditionell sein. Er ist auf jeden Fall extrem medientauglich. Und all die Thesen, die Sie zitiert haben, stimmen im Grundansatz ganz gewiss. Sie haben die Beispiele ja genannt: Tagesschau um acht Uhr, eben acht Uhr abends, man geht eben nicht mehr um neun Uhr morgens am Sonntag zur Messe, wenn man das überhaupt noch tut, aber mit größerer Wahrscheinlichkeit, mit größerer ritueller Verlässlichkeit sieht man jeden Tag die Tagesschau. Warum? Damit man den Durchblick hat. Man darf die Analogien nicht zu weit treiben. Die Ritualisierungsthese stimmt, die Sinnversorgungsthese stimmt. Wir sollten dabei aber nicht vergessen, dass es dann doch ganz andere Rituale und ganz andere Sinngehalte sind, die vermittelt werden. Die Formel, die ich dafür anbieten würde, wäre: Statt Durchblick in letzte transzendente Sphären Transparenz. Um es auf einen Nenner zu bringen: das Fernsehen setzt Transparenz an die Stelle von Transzendenz. Rituell gesehen ähnlich, aber der Unterschied ist mehr als nur ein kleiner Unterschied.

Wäre das dann das Heilsversprechen des Fernsehens Transparenz, Durchblick? Sie haben einmal davon gesprochen, dass jedem Medium so etwas wie ein Heilsversprechen innewohnt. Das provoziert natürlich die Frage, was ist das spezifische Versprechen des Fernsehens?

Wenn das Fernsehen Transparenz an die Stelle von Transzendenz setzt, dann setzt es an die Stelle von Heil Heilung. Das Fernsehen ist innerweltlich. Es fokussiert unsere Aufmerksamkeit auf das, was hier auf dieser Erde vorgeht. Wenn man es auf ein philosophisches Niveau bringen will, müsste man sagen, das Fernsehen ist spinozistisch: deus sive natura, Gott gleich Natur. Transzendenzgrößen werden durch innerweltliche Größen ersetzt. Und das heißt sehr konkret auch, dass an die Stelle des ehemals größten Wertes Seelenheil der heute allergrößte Wert tritt, hier schon ein heiles, ein ganzes, ein überzeugendes, ein hedonistisches Leben zu führen. Dazu trägt das Fernsehen ganz erheblich bei. Es fokussiert unsere Aufmerksamkeit auf diese Welt hier.

Das Fernsehen wäre dann also vielleicht, wie es Soziologen einmal gesagt haben, so etwas wie eine Diesseitsreligion.

Ganz genau, es ist eine absolute Diesseitsreligion, es ist ein profaner Kultus, aber ein Kultus absolut. Ähnlich - das ist ja meine häufig belächelte, aber sich langsam doch durchsetzende These - wie ja schon das Geld die alte Religion beerbt. Da tritt der Erlös an die Stelle der Erlösung, indem man Waren oder Dienstleistungen verkauft. Und in dem Maße, wie die Geldgesellschaft sich in eine Mediengesellschaft konvertiert, tritt an die Stelle von Erlös eben Heilung. Der Konversionsbegriff ist auch so ein Begriff, der alle drei Sphären miteinander verbindet: die religiöse Sphäre, innerhalb derer ich konvertieren kann - zum Beispiel vom Protestantismus zum Katholizismus -, die monetäre Sphäre, in der ich Geld konvertieren kann - Euros in Dollar oder umgekehrt -, und natürlich die mediale Sphäre, in der ich Software ineinander konvertieren kann. Meine These wäre: Wir haben Konversionen erster Ordnung, wir haben aber auch Konversionen zweiter Ordnung, das soll heißen, ganze Gesellschaften und Kulturen geben sich einen neuen Rahmen, in dem sie prozedieren. Eine religiöse Gesellschaft übersetzt sich in eine Geldgesellschaft und die Geldgesellschaft ist heute dabei, sich in eine Mediengesellschaft zu übersetzen, zu konvertieren.

Wobei man zumindest kritisch einwenden könnte, dass diese Konversionen nicht absolut sind, sondern Dominanzverhältnisse beschreiben: die alte Religion gibt es noch, die Ökonomie im alten Sinne gibt es auch noch. Wie würden Sie denn die Zukunft der alten Medien einschätzen, insbesondere auch der traditionellen Religion?

Da bewährt sich immer neu der schöne alte Satz des Medienwissenschaftlers McLuhan, das neue Medien alte noch nie überflüssig gemacht haben. Das heißt: auch wenn es den Film gibt, gibt es noch die Fotografie, auch wenn es die Fotografie gibt, gibt es noch das Theater, die Oper und dergleichen mehr. Auch wenn das Fernsehen kommt, schließen die Kinos nicht, anders lautenden Anfangsgerüchten zum Trotz. Und dasselbe gilt auch im großen Maßstab. Sie haben vollkommen Recht, weiß Gott gilt der Satz, dass man auch heute noch religiös sein kann, man muss es aber nur nicht mehr, man wird nicht mehr exkommuniziert - was ja auch ein Medienbegriff und zugleich auch ein religiöser Begriff ist -, wenn man nicht mehr zur Abendmahlsfeier geht. Das Geld hat seine Macht und seinen Einfluss gewiss nicht verloren. Auch die Mediengesellschaft - wir merken es ja an den Krisen etwa der neuen Ökonomie - ist noch extrem von dem alten Stoff Geld abhängig. Die These aber gilt, dass der Systemplatz etwa der Religion oder des Geldes ein neuer wird, wenn die Gesellschaft primär von den Medien und den Informationsströmen abhängig wird, die sie entwickelt. Ich fasse zusammen: McLuhan hat recht, die neuen Medien machen die alten nicht überflüssig, aber neue Medien weisen alten Medien, inklusive Abendmahl und Geld, einen neuen Systemplatz zu.

Das leuchtet ein. Ich würde gern noch einmal auf den Begriff der Transzendenz zurückkommen, den Sie gerade im Zusammenhang mit der These gebraucht haben, dass Transzendenz durch das Fernsehen in Transparenz umgewandelt werde. Da gehen Sie ja von einem speziellen Begriff von Transzendenz aus, der im Grunde mehr auf die großen Transzendenzen, die transmundanen Transzendenzen abzielt. Wenn man, wie etwa der Soziologe Thomas Luckmann, einen sehr weiten Begriff von Transzendenz hat, der unterscheidet zwischen kleinen, mittleren und eben großen Transzendenzen, dann könnte man doch an dem Begriff der Transzendenz auch im Blick auf die Fernsehreligion festhalten. Oder halten Sie das für eine unangemessene Begriffsverwendung?

Man kann natürlich einen scharfen Begriff von Transzendenz haben. Der würde einen Überstieg von einer Sphäre in die nächsten Sphäre beinhalten, der ohne Kategorienfehler nicht zu haben ist. Das klingt abstrakt, meint aber etwas sehr Konkretes: säße Gott hier im Studio und wir könnten ihn anschauen, hören, mit ihm ein Glas Wein trinken, dann hätten wir keinen Sphärenwechsel und wir würden ihn nicht als eine transzendente, sondern als eine in einem fast kalauerhaften Sinne immanente, in diesem Raum immanente Größe bezeichnen. Trotzdem hat die These von Luckmann einen gewissen Charme. Wir alle können die Erfahrung nachvollziehen, dass es kleine Schritte in Richtung Transzendenz gibt. Dann hat man eine kleine Transzendenztheorie und die heißt: Überschreiten. Wenn man das Wort ins gute alte Deutsch übersetzt, dann heißt Transzendenz einfach: den Überschritt leisten. Und dann kann man sich häufig fragen, ob man sich jetzt schon jenseits oder noch diesseits der Grenze befindet. Wenn ich etwa die Schritte in Richtung auf einen Gerichtssaal lenke, wann habe ich dann die Alltagssphäre hinter mir gelassen, wann überschreite ich die Schwelle hin zu den heiligen Sphären von Justitia? Eine andere Form, das zu illustrieren, sind natürlich erotische Erfahrungen mit denen man sein langweiliges Alltagsleben transzendiert. Drogenerfahrungen wären weitere Möglichkeiten, kleine Transzendenzen zu schalten. Mir liegt daran zu zeigen, dass die Umstellung einer religiös orientierten Kultur auf eine medial orientierte Kultur bedeutet, dass man den Versuch aufgibt, große, Kategorien sprengende Überschreitungen zu versuchen und die kleine Münze an deren Stelle setzt, das heißt, die Television, das heißt, ich sitze jetzt in Mannheim, kann aber sehen, wie Bush eine Pressekonferenz in Washington gibt. Das wäre dann im Luckmannschen Sinne eine kleine Transzendenz. Ich kann über den großen Teich springen, bleibe aber in dieser Welt.

Die Sinnorientierung ist also nicht mehr angeschlossen an die ganz großen, jenseitsbezogenen Transzendenzen.

Genau...

Wir leben in unserer konkreten Welt, mit ihren konkreten Vernetzungen und Sinnstrukturen.

Die großen Erzählungen, die immer einen großen Joker auf alle möglichen Schlussfragen anbieten, sind am Ende und es treten viele kleine, schmutzige Geschichten an deren Stelle. Also Weltbilder, bei denen man mit der Antwort Jesus, Gott, Fortschritt, Emanzipation oder Ödipus-Komplex immer recht hatte, machen sich heute eher lächerlich. Und ich denke, das hat auch mit der internen Verfassung unserer Mediengesellschaft zu tun.

Zu diesen vielen kleinen, schmutzigen Geschichten, die Sie jetzt erwähnten, gehören ja auch die sogenannten "Daily Soaps", etwa Sendungen wie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Ich vermute, dass Sie darum wissen.

Ich habe es ab und an dann doch gesehen, im Interesse meiner Studenten, damit die Examen machen können.

Diese Soaps sind ja speziell auf Jugendliche zugeschnitten. Von einigen Ihrer Kollegen wird nun die These vertreten, dass diese Soaps eine sehr wichtige Funktion für die Identitätsbildung und die Sozialisation Jugendlicher haben. Es wird gesagt, die Soap-Filme würden den Jugendlichen Vorbilder, Lebensentwürfe und Wertvorstellungen anbieten. Sie werden in der Bedeutung für die Sozialisation sehr hoch gehandelt. Würden Sie diese Einschätzung teilen?

Ja, denn das Fernsehen ist heute so etwas wie eine universelle Gebrauchsanweisung. Ich kann zwar nicht auf den Fahrschulunterricht verzichten, wenn ich fernsehe, aber ich weiß von Kindesbeinen ab, wie Autofahren geht, wie Essen geht, wie Verreisen geht, wie Liebe geht, wie Sex geht, wie Crime geht und dergleichen mehr. Also, das Fernsehen stellt wirklich, auf eine analphabetische Art und Weise, alle möglichen Skripte für Rollenverhalten zur Verfügung und insofern ist es das primäre Sozialisationsmedium. Was ja auch dazu führt - nehmen wir ein schlichtes, aber eindringliches Beispiel -, dass viele Eltern glauben, die peinliche Aufgabe nicht mehr erfüllen zu müssen, ihre Kinder sexuell aufzuklären. Es wäre ja geradezu lächerlich, wenn die Eltern herumstammeln, wo die Kinder ja schon in Vorabendserien sehen können, wie es eigentlich geht. Und in dem Sinne meine ich, zeigt das Fernsehen, wie es eigentlich geht und was die Welt im Innersten zusammenhält. Es inszeniert diese kleinen, schmutzigen, lustigen, heiteren Geschichten, also die Fülle des Lebens im Zeitalter der späten Moderne. Deshalb kann man das Fernsehen als universale Gebrauchsanweisung für das sogenannte Leben verstehen.

Ein für Jugendliche auch wichtiger Teil dieser universalen Gebrauchsanweisung sind die nachmittäglichen "Daily Talks", von denen gesagt wird, dass es darin besonders um die Moral geht, um die Wertorientierung, um den moralischen Konsens. Nun kann man in letzter Zeit beobachten, dass die Talks zunehmend von Gerichtsshows verdrängt werden. Wie würden Sie diese Entwicklung deuten?

Wenn an unserer These etwas dran sein sollte, dass das Fernsehen von Transzendenz auf Transparenz umstellt, ist ja die Frage, wer ist da die letzte Instanz? Wo ist die geblieben? Wenn wir kein Weltgericht mehr haben und Gott nicht mehr unsere guten und bösen Taten im Buch des Lebens verzeichnet - ich karikiere jetzt, aber doch einigermaßen scharf am Phänomen entlang - und dementsprechend soundsoviel Höllenqualen oder Fegefeuerjahre zuteilt. Dann muss ja etwas an die Stelle treten. Man kann zeigen, wie die ganze Gerichtsmetaphorik unser Denken begleitet hat, spätestens seit Sophokles. Ich nehme einmal als nicht sehr spektakuläres Beispiel die Kritik der reinen Vernunft von Kant, die ja durchweg mit Gerichtsmetaphorik arbeitet. Gericht, zu Gericht sitzen - übrigens auch in einem doppelten Sinne: zu Mahlzeit sitzen und zu Gericht sitzen -, das sind Grundmotive, die uns kulturhistorisch begleiten. Wir wissen aber auch, dass Gerichtsverfahren im Mittelalter anders aussahen als heute. In den USA sieht es wieder anders aus als in Europa. Wir merken gerade im Augenblick im Zusammenhang mit der Irak-Krise, wie stark unterschiedliche juristische Vorstellungen - was ist ein gerechtfertigter Krieg - die Köpfe umtreiben. Was ich sagen will ist, wenn wir uns nicht zuletzt dank des Fernsehens von Weltbildern entfernen, in denen es eine letzte Instanz gibt, dann wird das Bedürfnis nach Gerichtsverfahren, die über gut und böse entscheiden, stärker. Mir leuchtet es absolut ein, dass Gerichtssendungen heute Kultcharakter haben.

Das Fernsehen muss als universale Gebrauchsanweisung mit allen Ereignissen und Erfahrungen irgendwie fertig werden und auch Katastrophen bearbeiten, so auch die Terroranschläge vom 11. September, die ja in gewisser Weise schon als Medien- oder Fernsehereignis von ihren Tätern kalkuliert worden waren. Auffällig war, dass die Katastrophenbilder in der Zeit unmittelbar nach den Anschlägen extrem oft wiederholt wurden. Viele haben sich gefragt: Warum eigentlich? Dietrich Leder hat dies als eine Form des Durcharbeitens des Schreckens gedeutet. Was halten Sie von dieser Interpretation?

Er zitiert damit ja die berühmte Freudsche Formulierung "Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten". Das ist die Formel, die Freud anbietet, um einen angemessenen Umgang mit Traumata zu schildern, die wegzudrücken bedeutet, sie zu wiederholen, unbewusst zu wiederholen. Man kann sich das sehr deutlich klar machen am Verhalten eines Neurotikers. Wer es nicht schafft auf die Linie zu treten, die zwei Platten auf dem Gehsteig voneinander trennen - wegen einer klassischen Form etwa von Zwangsneurose -, der muss sich dem Verdacht aussetzen, dass er einmal eine Grenzüberschreitung vollzogen hat, die nicht ganz anständig gewesen ist. Um ein sehr plumpes Beispiel wiederum zu bemühen. Und ich denke, ähnlich schnell kann man plausibel machen, dass auch noch Generationen später, ich glaube, ich überschätze da nichts, die Ereignisse vom 11. September in ihrer immensen Fernsehtauglichkeit geradezu darauf warten, immer wieder abgerufen zu werden. Ich würde mich da auch keiner oberflächlichen Kulturkritik anschließen, sondern würde sagen, das ist gut, wenn man das macht, wenn man nicht wegguckt, sondern die Aufmerksamkeit dahin fokussiert. Hinzu kam natürlich, dass die Ereignisse so ungeheuer waren, dass man bei jedem einzelnen Mal noch anderes gesehen hat. Wer sprang aus dem Fenster, in welchem Abstand kamen die Flugzeuge, gab es so etwas wie ein satanisches Gesicht in den Feuerwolken, die aufgestiegen sind, wie sind die Leute weggerannt? Man kann die Liste fortführen: Welche Feuerwehrleute kamen, wer kam zurück, wie rußgeschwärzt waren die Gesichter, wie entsetzt waren die Augenausdrücke? Das Material, das es zu sehen gab, war so reich, dass man jedes Mal etwas Neues gesehen hat. Und diese Erfahrung, in der Wiedergabe eines und desselben Ereignisses immer wieder Neues entdecken zu können, ist gut. Ich würde eine große Huldigung an das Fernsehen machen und sagen: Stellen wir uns vor, wir hätten kein Fernsehen und würden über den 11. September nur in der Form von Zeitungsberichten erfahren, wir hätten noch nicht einmal Fotografie, was hätten wir dann für Legendenbildungen, was hätten wir dann für noch traumatisiertere, mystischere Formen, mit diesem Ereignis umzugehen! Also auch da denke ich, hat das Fernsehen in seiner penetranten Art und Weise hinzugucken eine wichtige und positive Funktion gehabt.

Sie würden durchaus sagen, es hat geradezu eine entmythologisierende, eine aufklärerische und therapeutische Funktion....

Ja, weil man hingucken kann, man guckt nicht weg. Ein Vergleich, der wie alle Vergleiche, nicht eins zu eins aufgeht: Nehmen wir nach 1945 das Verhalten der Deutschen gegenüber den Konzentrationslagern. Die alte Diskussion: Was haben die gewusst, was haben die nicht gewusst? Dass dann die Konzentrationslager im Augenblick der Befreiung fotografisch, filmisch festgehalten wurden, war eine extrem wichtige Angelegenheit. Was wir sonst möglicherweise an Verdrängung hätten, an Feindesgerücht und dergleichen mehr, ist gar nicht auszudenken. Das hat übrigens, da wir gerade über Gerichte sprachen, in der Geschichte des deutschen Gerichtswesens eine gewisse Rolle gespielt. Meines Wissens war es das erste Mal, dass Filmdokumente als Beweismittel zugelassen wurden. Und von Göring ist der Satz von den Nürnberger Prozessen überliefert: "Es sah eigentlich gar nicht schlecht aus. Und dann kam dieser grauenhafte Film" - ein Film, der im April, Mai die Befreiung einiger KZs festhält - "und alles war verloren." Ich freue mich sehr, dass alles verloren war für die Nazis. Und ich denke es ist wichtig, ein kollektives Gedächtnis zu pflegen, dass Mystifikationen relativ wenig Raum gibt, sondern sagt: Seht mal her, so war das.

Wobei natürlich dieses "Seht mal her, so war das!" auch legitimatorische Funktionen haben kann und je nach den Machtverhältnissen, in die das eingebettet ist, dann so oder so auch funktionalisiert werden kann.

Das ist klar, man kann aber ein paar Sachen dann mit großer Plausibilität nicht mehr sagen. Zum Beispiel wird schon deutlich, wenn man nur die Aufnahmen vom 11. September sieht, dass die Terroristen das Zentrum des multikulturellen Lebens angegriffen haben. Man sieht: da rennen Männer und Frauen, Schwarze und Gelbe und Weiße raus. Es war ein sehr bewusst gesuchtes Ziel, ein für jeden Fundamentalisten unerträglicher Ort, an dem ein paartausend Menschen unabhängig von ihrer Konfession, von ihrer Lebenshaltung, von ihrem Geschlecht, von ihrem Alter im selben Gebäude friedlich nebeneinander arbeiten und dann auch noch zugeben, dass sie es nur machen, um gut zu leben und gut zu verdienen. Das ist ja die Horrorvision für jeden Fundamentalisten. Das heißt, man kann diese Bilder nicht beliebig interpretieren. Wenn zum Beispiel einer sagt, es war das Zentrum der Wasps, der weißen angelsächsischen Protestanten, guckt man sich das Material an und sagt, das kann nicht sein. Es war vielmehr das Zentrum des Multikulturalismus. Audivisuelles Datenmaterial lässt sich wie alles im Leben unterschiedlich interpretieren, aber es sind nicht alle Interpretationen gleichermaßen zulässig. Von Umberto Eco stammt das Beispiel von jemandem, der mit einer Knarre durch eine Fußgängerzone rennt und alle Leute in einem Amoklauf niederstreckt und dann gefragt wird, warum er das getan habe, und er antwortet, weil ich die Bergpredigt so interpretiert habe. Dem würde man doch sagen: lieber Freund, da hast du irgendetwas falsch verstanden. Es ist also nicht so, dass man alle Interpretationen mit allen Texten und allem audiovisuellem Material garnieren kann.

Es gibt ein Feld möglicher Interpretationen und auch ein Außerhalb dieses Feldes.

Ja, und Dokumentieren ist eine wichtige Funktion. Die kontrolliert Interpretationen und restringiert ihre Willkür.

Ich würde gerne eine zentrale These Ihrer Mediengeschichte ansprechen. Sie haben da insbesondere im Blick auf die Wende von der Gutenberg-Ära zu den audiovisuellen Medien von einer Entwicklung vom Sinn zu den Sinnen gesprochen. Bei den AV-Medien bräuchte man sich nichts mehr vorzustellen, sei keine der Lektüre vergleichbare Anstrengung des Sinnverstehens und der Vorstellungskraft mehr notwendig, weil die Audiovisionen in Form von Film und Television beständig sinnliche Anschauung lieferten. Aber ist es nicht so, dass auch die Produkte der audiovisuellen Medien von Deutungsschemata durchdrungen sind, von Sinnmustern und symbolischen Ordnungen? Und müssen sie nicht ebenso wie Texte entziffert werden? Wäre es nicht gerade medientheoretisch naiv, audiovisuelle Produkte einfach so hinzunehmen und gerade nicht nach ihren von ihrer suggestiven Sinnlichkeit möglicherweise verdeckten Messages zu fragen?

Da haben Sie eindeutig recht. Die Vorteile des audiovisuellen Mediums im Vergleich mit der Literatur liegen auf der Hand. Ich mache mir das immer mit mäßigen Literaturverfilmungen klar. Mäßig, was ja auch heißt, nicht unbedingt schlecht, wie etwa die Zauberbergverfilmung. Thomas Mann braucht zwanzig Seiten, um eine Hotelfassade zu beschreiben. Und wie die Liegestühle und die Decken auf den Balkonen aussehen: weitere zwanzig Seiten. Wenn die Kamera zwei, drei Minuten über eine Hotelfassade gleitet, sich an einen Balkon heranzoomt, dann kommt uns das schon sehr lange vor. Nun war Ihre Frage die: Wir sind damit aber den Sinn nicht los. Welche allegorischen Momente stecken darin, wenn Hans Castorp an seiner Zigarre zieht? Das beschreibt Thomas Mann sehr freudianisch und wer einigermaßen geschult ist, merkt, aha: Phallussymbol. Danach das Thermometer und man liegt mit der derselben Interpretation nicht ganz falsch. Und dann wird der Krayon, dieser ausfahrbare Bleistift, benutzt. Man stellt fest: die Zigarre, das Thermometer, der Krayon - Thomas Mann hat es mit Phallussymbolen. Dafür muss er einen sehr subtilen Text schreiben. Und nun hängt natürlich einiges von der Fähigkeit des Regisseurs ab, diesen Text in die Bildersprache umzusetzen. Aber ich gebe Ihnen vollkommen Recht, wenn man versucht, hinter dieser Sinnesebene eine Bedeutungsebene zu entwerfen, dann muss man auch als Kinogänger ähnlich kulturhistorisch, kulturanalytisch und symbolpolitisch geschult sein wie als Leser. Wir werden also auch da die Interpretationen nicht los, nur, ich sage es mit einer gewissen Provokationslust, die Freundlichkeit des Filmmediums besteht darin, dass das alles sehr viel schneller geht. Zwischen Lesen und Leben steht nur ein Buchstabe. Man tauscht das "S" aus und aus Lesen wird Leben. Zu dieser Umwandlung gehört auch: das Lesen verbraucht sehr viel Lebenszeit. Den Film zu sehen, dauert vielleicht drei Stunden, den Zauberberg zu lesen dauert dreihundert Stunden. Worauf ich hinaus will: Man kann als Analphabet ins Kino gehen und Fernsehfilme sehen - insofern: immens demokratische Medien -, man sollte aber darauf achten, dass man die Fähigkeit zum wirklichen Sehen entwickelt, also die Fähigkeit, Bedeutungsschichten hinter den bloßen Sinnesdaten als diese Bedeutungsschichten wahrzunehmen und zu dechiffrieren. Ich denke, es wäre wirklich sinnvoll, parallel zum Deutschunterricht an deutschen Schulen auch einen Medienunterricht zu schalten, der uns beibringt, wirklich zu sehen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Rilkes "Malte Laurids Brigge" als einer der avantgardistischsten Romane deutscher Sprache in der Literatur des 20. Jahrhunderts mit dem Satz anfängt: "Ich lerne sehen." Und das fällt in die Zeit, in der Rilke in Paris in der Hauptstadt der Medien feststellt: Es gibt die Fotografie, es gibt die Phonographie und es gibt auch das Kino. 1895 ist in Paris das Kino erfunden worden, um 1900 ist der Malte Laurids Brigge in Paris. Und er muss Sehen lernen. Man denkt immer, das Sehen ist automatisiert. Das stimmt auch. Es ist schwer, nicht zu sehen. Aber richtig zu sehen, also angemessen zu sehen. Zu sehen, was im Sehen mitgeliefert wird an geballter Bedeutung, das ist eine Kunst, die gelernt sein will.

Also müsste die Bildung oder die Bildungsinstitutionen der Tendenz, die Sie für die Mediengeschichte beschrieben haben, etwas entgegensetzen, nämlich eben diese Kunst des Entzifferns, es ginge darum, diese Hermeneutik stärker zu lernen, als es beim unmittelbaren Konsum schon der Fall ist.

Ja, wie ein Kunsthistoriker gut beraten ist, wenn er einmal Aby Warburg gelesen hat und Panofsky und sich in der Ikonologie, in der Logik der Bildgehalte, auskennt, und weiß, die Lilie ist nicht einfach bloß eine Lilie und das Einhorn ist nicht einfach bloß ein Einhorn, sondern, es ist damit allegorisch etwas mitgemeint, was im Sinn zu haben bedeutet, das Bild angemessener zu sehen. Ich denke, das brauchen wir auch, wenn wir in gegenwärtige Filme hineingehen. Und es müssen nicht so komplexe Filme sein wie die von Peter Greenaway, damit man etwas davon hat, wenn man klug, wach, hellsichtig ins Kino geht. Ich fürchte, dass da sehr viel in letzter Zeit verlorengegangen ist. Warum? Weil sich auf eine seltsame Art und Weise die Avantgardisten und die Kulturkonservativen Hand in Hand arbeiten. Die Kulturkonservativen sagen, was soll dieser ganze Kino- und Fernsehdreck, wir bleiben bei den Büchern, und die Avantgardisten sagen, was haben wir mit der alten Sinnschicht zu tun? Das schwarze Quadrat ist das schwarze Quadrat, das Urinoir ist das Urinoir. Interpretiert ihr nicht zu viel hinein? Man begibt sich damit der Möglichkeit, eine komplexe Welt komplex wahrzunehmen. Also, wir müssen Sehen lernen. Und wir kommen um die Deutungsarbeit nicht ganz herum. Das gilt unabhängig davon, ob wir uns in der Gutenberg-Galaxis bewegen oder in der Sphäre audiovisueller Medien.

Sie haben in dem Zusammenhang Ihrer These "Vom Sinn zu den Sinnen" auch geschrieben, die AV-Medien seien antimetaphysische, neobuddhistische Maschinen. In Anspielung auf den Untertitel von Siegfried Kracauers Filmtheorie haben Sie sie vor diesem Hintergrund als Errettung der Physis gedeutet. Könnte man nicht gerade darin, in dieser umfassenden Gedächtnisleistung der audiovisuellen Medien, in dieser Aufspeicherung des Vergänglichen in seiner physisch-körperlichen Präsenz eine metaphysische Tendenz eigener Art sehen? Liegt es nicht nahe zu sagen, dass die audiovisuellen Medien in einem viel umfassenderen Sinne als die Schrift an dem Projekt der Verewigung des Lebens arbeiten?

Was Sie jetzt gemacht haben, ist eigentlich eine Kracauer-Paraphrase. Kracauer ist ja ein glücklicher Materialist. Der hat seinen Feuerbach gelesen und ist Neomarxist. Er hat also auch den Feuerbachschüler Marx gelesen. Es läuft, denke ich, genau auf das hinaus, was wir auch schon am Anfang unseres Gespräches thematisiert haben. Die Aufmerksamkeit wird, wenn man sie dem Schriftmedium anvertraut, auf Sinn fokussiert. Ich mache mir das immer daran klar, dass man mal gucken kann, was ist sinnvoll verfilmbar und was ist nicht verfilmbar. Und etwa ein philosophisches Buch zu verfilmen, wäre ein ziemlich idiotischer Kalauer. Ich wüsste nicht, wie man Fichtes Wissenschaftslehre, Hegels Logik oder die Kritik der reinen Vernunft am besten verfilmen soll. Eine filmische Einführung in das Medizinstudium hingegen, die mit Mikroaufnahmen des menschlichen Körpers arbeitet - eine Mikrokamera geht durch die Blutbahnen oder so etwas -, wäre extrem sinnvoll. Also: "Redemption of Physical Reality" - wie der Untertitel von Kracauers Buch ja im Amerikanischen lautet. Und das heißt, dass eben wirklich auch die ganze Metaphysik umgestellt wird. Sie findet nämlich ein Ende. Metaphysik heißt ja nichts anderes, als die Aufmerksamkeit auf das zu fokussieren, was nach der Physik kommt. "Redemption of Physical Reality" heißt, die physische Realität als die Physis zu erlösen. Wovon zu erlösen? Davon, sie zu gering zu schätzen. Und die Beispiele, die Kracauer bringt, sind ja wunderbar sentimental: diese Pfütze, in der sich das Leben spiegelt, dieses Blatt, das vom Baum fällt, der wehende Rock einer Frau. Das ist der große Augenblick, fast goethisch: "Zum Augenblicke dürft ich sagen, verweile doch, du bist so schön, es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen." Ich würde so weit gehen zu sagen, Goethe hat nicht das Glück gehabt, noch die Fotografie mitzuerleben, er starb 1832 und Daguerre hat sie erst 1837 erfunden, fünf Jahre nach Goethes Tod. Aber wir können Goethe schon als denjenigen interpretieren, der die große Intuition hatte, der letzte Gefangene der Gutenberg-Galaxis zu sein. Vielleicht träumt gerade Goethe von den befreienden Möglichkeiten der neuen Medien!

Aber was ist das für eine Sinnlichkeit, die uns im Fernsehbild begegnet, auch im Filmbild? Wenn ich etwa denke an Walter Benjamins Begriff der Aura und an diesen primären Augenblick der Wahrnehmung des Physischen ohne Übertragung, ohne Zwischenschaltung. Diese Originalität und Materialität, dieses vielleicht auch Magische des ersten Erscheinens von etwas. Geht das nicht doch verloren mit der Mediatisierung?

Ich denke, dass gerade der berühmte Fotografie-Aufsatz von Benjamin häufig falsch gelesen wird. Benjamin ist da anders als Adorno, der der klassische, weinende Bildungsbürger ist, der den Zerfall der guten alten Kulturwerte betrauert, die alle Hollywood zum Opfer fallen. Im Gegensatz dazu ist Benjamin derjenige, der den neuen Medien erst einmal huldigt. Das Großartige der Fotografie ist für Benjamin, dass sie den Augenblick, den Blick als Blick der Augen, still stellt. Und es ist kein anderer als Benjamin, der Goethe-Zitate bringt: "zum Augenblicke werde ich sagen ..." Die Aura zu wahren, heißt ja, die Großmutter ist gestorben, aber hier, auf dieser Fotografie, haben wir ein Stück erlösten, von der Zeit losgelösten Lebens. Und die Aura dieses Nachmittags, als wir im Garten der Großmutter saßen und sie proustsche Motive von selbstgebackenem Kuchen lebendig werden ließ, diese Aura springt uns an in dem Augenblick, in dem wir ins Familienalbum blicken. Ich kann einfach nicht sehen, dass Benjamin getrauert hat. Dass es nur den Aura-Zerfall gibt. Es gibt genauso gut das Moment, dass eine Aura durch neue Medien gerettet wird. Was zertrümmert wird, und das ist ja gut für Benjamin, ist die falsche Aura, ist die falsche Aura des Einmaligen, des Unersetzlichen - jetzt ist Napoleon an mir vorbeigeritten oder jetzt ist dies oder jenes passiert und es wird nie wieder kommen. All das fixiert uns ja auf die großen Männer, auf die großen Ereignisse, denen zu huldigen uns eigentlich immer nur Unglück gebracht hat. Man muss begreifen, dass die Zertrümmerung der falschen Aura für Benjamin ein eminentes Befreiungserlebnis ist. Und auch dazu tragen neue Medien bei. Der Kontrast, denke ich, zwischen Benjamins Medientheorie und Adornos könnte gar nicht größer sein. Für Adorno gilt, der Pianist, der in diesem Konzert die unvergleichlichen Schubert-Akkorde anschlägt, der darf nicht kaputtgemacht werden durch technische Reproduzierbarkeit. Wobei ich aus philologischen Redlichkeitsgründen auch erwähnen will, dass Adorno in seinen späteren Jahren einiges zurückgenommen hat. Es gibt erstaunliche Texte vom späten Adorno - wenn man bei einem Leben, das mit 66 schon zuende ist, überhaupt von einem späten Denker sprechen kann -, wo er sagt, das Fernsehen hat auch erstaunliche Emanzipationswirkungen gebracht, gerade im Blick auf den Vietnam-Krieg. Und es gibt einen kleinen, wenig bekannten Text, der der Langspielplatte huldigt: Auf einmal macht Adorno doch eine Ausnahme von der Kritik der technischen Reproduzierbarkeit und sagt, es ist gut, dass es LPs gibt.

Wie sehen Sie die Zukunft des Fernsehens. Gibt es Trends, die sich abzeichnen am Horizont? Kann man erkennen, in welche Richtung sich die Institution Fernsehen entwickeln wird? Was ist von den Konvergenzthesen zu halten, dass das Internet und das Fernsehen zunehmend ineinander fließen werden?

Das sind viele Fragen auf einmal. Ich bin grundsätzlich bei Prognosen sehr vorsichtig, weil die alte Erfahrung ist, dass man sich immer blamiert. Aber ich will nicht kneifen. Ich sehe zwei absolut konträre Entwicklungslinien. Zum einen die weitere Diversifikation, was sehr konkret heißt, wir haben nicht dreißig Sender, sondern eben 120. Die Digitalisierung des Fernsehens: Man kann es beliebig den individuellen Bedürfnissen anpassen. Auf der anderen Seite sehe ich das absolut gegenläufige Motiv, das man sagt, das Spannende ist ja, dass ich sehe, was der andere auch sieht, sonst kann ich ja darüber nicht diskutieren. Die gegenläufige Tendenz wäre also, dass sehr viele Leute spüren, wir wollen keine neue Diversifikation und Ausdifferenzierung, sondern eine stärkere Zentralisierung. Ich denke, es mag paradox klingen, beide Tendenzen haben recht. Ich glaube, wir werden auf der einen Seite - wie auf dem Zeitschriftenmarkt - eine unglaublich wachsende Zahl an Special-Interest-Kanälen haben, für die Autofahrer, für die Boxer, für die Kleingärtner, für die Kaninchenzüchter. Und eine Rezentralisierung auf der anderen Seite. Man hält sich dann seine zwei, drei Hauptkanäle, die alle beobachtet haben müssen, und seine Spezialinteressen. Und wir werden fröhlich schizophren: öffentlich und extrem privat zugleich.

Sie würden also denken, es gibt dann doch Hauptkanäle und es wird nicht so sein, dass sich ein Fernsehereignis in unterschiedlichen Kanälen wiederfindet und dass das Gemeinschaftsbildende dann die Beobachtung dieses Ereignisses in ganz unterschiedlichen Kanälen ist, sondern es gibt eine Dominanz oder Priorität von zwei oder drei Kanälen, in denen die Hauptereignisse stattfinden.

Das läuft ähnlich, denke ich, wie auch auf dem Markt der Güter und Dienstleistungen. Es gibt dann so etwas wie Markenzeichen. Und man weiß, es gibt unglaublich viele Autos, aber wenn ich diesen Lebensstil habe, dann muss ich zu dieser Automarke greifen. Ähnliches gilt für Parfums und dergleichen mehr. Und wir haben ja eine starke Entwicklung hin zur Zentralisierung auf anderen Gebieten. Nehmen wir, wir kommen an die Anfangsmotive unseres Gespräches zurück, den Geldsektor: Dass lauter souveräne Staaten darauf verzichten, eigene Währungen zu haben und gemeinsam den Euro einführen, ist ein sensationelles Datum. Und ich mache mir manchmal die Geschichte der Medienausdifferenzierung parallel klar: Am Anfang freuen sich lauter Nationalstaaten darüber, dass sie jetzt ihre eigene Währung haben, am Ende machen sie eine gemeinsame Währung. Meine Prognose wäre, dass wir in zehn, zwanzig Jahren einen europäischen Sender haben, der in verschiedenen Sprachen und Übersetzungen in etwa dasselbe Programm ausstrahlt und dass dieses Programm von den Leuten geguckt wird, damit sie gemeinsame Aufmerksamkeitsfokussierungen haben. Das hält sie aber nicht davon ab, in hundert anderen Kanälen ihre Sportbedürfnisse, ihre kulinarischen Bedürfnisse und ihre pornographischen Bedürfnisse zu befriedigen.

Ich würde gerne zum Schluss unseres Gespräches noch einmal auf die Frage Fernsehen und Religion zurückkommen. Die Religion hat ja im deutschen Fernsehen heute immer noch einen ganz festen Platz. Sie kommt zum einen in den Fachredaktionen vor, die früher oftmals Kirchenfunkredaktionen hießen und heute des öfteren als Redaktionen für Gesellschaft und Religion firmieren. Und zum anderen gibt es religiöse Sendungen im engeren Sinne, also Gottesdienstübertragungen und das Wort zum Sonntag. Wenn Sie insbesondere an diese zuletzt genannten Formate denken, haben die eine Zukunft oder sind das anachronistische Veranstaltungen? Wie, denken Sie, sollten die Kirchen, die ja diese Sendungen redaktionell mitverantworten, an diesen Fragen arbeiten?

Dass diese Sendungen anachronistisch sind, ist ja nicht ernsthaft zu bestreiten. Über das Wort zum Sonntag nicht ironisch zu sprechen, fällt mir wirklich schwer. Vielleicht ist es aber sinnvoll, sich noch solche exotischen, anachronistischen, aus der Welt gefallenen Ecken zu bewahren - wie Alexander Kluge es schafft, sein kleines Privatprogramm in einem Privatsender zu platzieren. Das hat dann eine Einschaltquote im Promillebereich, wird aber eine Kultsendung. Ich finde immer ganz interessant, wenn auf einmal aus dem Mainstream etwas ganz Anachronistisches herausfällt. Das ist, wie wenn wir alte Chaplin-Filme sehen, die uns heute technisch nicht mehr so befriedigen können, wie die neueste Hollywood-Produktion. Gerade dann faszinieren sie uns ja. Ob es sinnvoll ist, da einen festen Sendeplatz zu haben, auf diese Frage will ich mich gar nicht im einzelnen einlassen. Aber vielleicht wäre es doch eine Überlegung wert zu sagen, gerade in dem Strom der Nachrichten fällt es auf, wenn so etwas herausfällt. Vielleicht ist es gar nicht so verkehrt, wenn die Kirchen mit einer gewissen Sturheit darauf aufmerksam machen, dass sie einmal eine Bedeutung hatten. Den Kontrast, die Wahrnehmung, dass das heute nicht mehr der Fall ist, liefern sie ja gleich mit: in der Art der Sendung. Ein Pfarrer, der mit ernstem Gesicht das Wort zum Sonntag spricht, ist heute komisch.

Ja, das kann man wohl schwer leugnen. Zu einer letzten Frage. Wo bleibt eigentlich in Zeiten der Audiovision, die uns ja immer schon so konkrete Bilder liefert von allem, seien sie dokumentarisch oder auch fiktional, wo bleibt da eigentlich das Bedürfnis der Menschen nach so etwas wie Poesie im alten, bildungsbürgerlichen Sinne?

Der Literatursektor ist ja ganz munter. Man darf das nicht vergessen. Wer konnte zu der Zeit, die uns heute als die goldene Zeit erscheint, die frühe Goethezeit, schon lesen? Vielleicht 20 Prozent der Bevölkerung. Heute wird beklagt, dass zu wenige lesen. Ob diese Klage berechtigt ist, sei dahingestellt. Wer schreibt? Es schreiben zu viele. Die alte Klage ist ja, es schreiben zu viele und es lesen zu wenige. Meine Vermutung ist, wir rechnen uns auch da zu gering und zu arm. Das Problem ist ersichtlich. Wir haben eine Überproduktion. Es sind, glaube ich, knapp einhunderttausend Titel pro Jahr in Deutschland. Dass das keiner lesen kann, brauche ich nicht weiter auszuführen. Wir sind immer noch gewohnt, Krisen auf Mangelerscheinungen zurückzuführen. Meine freche Vermutung wäre die zu sagen, wenn wir heute eine Krise des Literatursystems haben, dann deshalb, weil es zu fruchtbar, weil es zu krege, weil es überproduktiv ist. Wir freuen uns dann ja, wenn es noch literarische Großereignisse gibt. Das ist neu, dass ein Buch die Mentalität ganzer Jahrgänge prägt. Ich spreche von Harry Potter. Da haben wir noch einem Bodengewinn für das alte, gute Literatursystem zu verzeichnen. Ich weiß als dreifacher Vater, wovon ich spreche. Die Vorstellungswelten ganzer Jahrgänge werden auf einmal von einem Buch geprägt und die Erinnerungen an das Buch werden dann aufgefrischt und angereichert, indem man ins Kino geht. Ich denke, dass wir uns da häufig Fehleinschätzungen leisten, wenn wir sagen, die Literatur fällt ganz weg. Auch, um einen Computer bedienen zu können, müssen wir noch lesen können. Die Kids, die heute SMS-Nachrichten hin und her schicken, schreiben wahrscheinlich mehr, als ihre Großeltern je geschrieben haben. Und dass die Leute analphabetischer werden, kann ich auch nicht unterschreiben. Es gibt einfach Konkurrenz. Früher konnte man nur lesen und schreiben, heute hat man Alternativen dazu. Der Tag wird jedoch nicht länger. Er hat nach wie vor 24 Stunden.

Verstehe ich Sie richtig, wenn Sie den Begriff Poesie dann doch in erster Linie der Literatur zuordnen und von einer Poesie des Fernsehens eher nicht sprechen würden?

Als Philologe bedenke ich immer den Wortsinn. Poesie kommt bekanntlich vom griechischen poiein, das heißt nichts anderes als herstellen, produzieren, machen. Wer im Barockzeitalter eine Poetik geschrieben hat, der verfasste eine Art Gebrauchsanweisung für ein gutes Gedicht. Und in diesem Sinne kann man natürlich von der Poesie des Fernsehens sprechen. Was sind die Gebrauchsanweisungen für gute, ansprechende Dokumentarfilme, für Direktübertragungen, für Diskussionssendungen? Wir sollten da nicht mit der falschen Opposition arbeiten und sagen, Poesie muss etwas Besonderes, Innerliches, von den Musen Wachgeküsstes sein. Poesie heißt: machen.

Vielen Dank für das Gespräch.


Das Gepräch von Jörg Herrmann mit Jochen Hörisch wird am Samstag, 26.April 2003 um 17.05-18.00 im Nordwestradio gesendet. [UKW 88,3 (Bremen), 95,4 (Bremerhaven), Satellit: Transponder 19 und 71.]


Eine Rezension der Mediengeschichte "Der Sinn und die Sinne" von Jochen Hörisch sfindet sich in Heft 11 des Magazins für Theologie und Ästhetik