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Magazin für Theologie und Ästhetik


Ur-Sprung im dunklen Licht

Eine resonante Begehung von
Bill Violas Video-Installation "Five Angels for the Millenium" im Gasometer Oberhausen

Harald Schroeter-Wittke

Wer in Bill Violas Video-Installation eintaucht, ist mittendrin - so mittendrin, dass die Frage nach der Mitte kaum noch auftaucht. Die Eindrücke sind so stark, dass sie nur schwierig auszudrücken sind: in the eye of the storm. Und dennoch wäre die Behauptung nicht richtig, die Eindrücke würden plätten, nein, sie heben (mich) auf. Archaik in jeder Hinsicht - mit den allerneuesten Mitteln der Projektion: Religion pur - heilig, ausgegrenzt, wasserdicht.

Der Gasometer Oberhausen - mit 117,5m Höhe, 210m Umfang und 67,6m Durchmesser der größte Scheibengasbehälter Europas, mittlerweile Kunst gewordene und beherbergende Industriekathedrale im Ruhrgebiet. Hier, wo in den industriellen Hochzeiten des Ruhrgebietes Gas zwischengelagert wurde, sind seit dem 17. Mai 2003 fünf Engel für das neue Jahrtausend zu sehen und zu hören. Im Zwischenraum Gasometer bewegen sich nun jene Zwischenwesen, über die man so wenig zu sagen weiß, außer dass sie Boten einer Botschaft sind, die uns Menschen meist unverständlich bleibt, weil sie viel sagend raunend an unser Ohr dringt.[1]

Wer den Gasometer begeht, beginnt ebenerdig und landet später in über 100m Höhe auf der 11. Etage. Bei Bill Violas Installation betritt man zunächst den unteren Bereich mit Garderobe, Cafe und Ausstellungswänden, auf denen die letzten großen Installationen Bill Violas dokumentiert sind.[2] Ein Hinweisschild fordert dazu auf, erst diese Dokumentation als Einblick zur Kenntnis zu nehmen, bevor man sich auf den Innenraum des Gasometer einlässt. Warum diese Aufforderung? Ist ansonsten zu befürchten, dass nicht das verstanden wird, was verstanden werden soll, nämlich religiöse Ur-Sprungs-Inszenierungen?

Die Ausstellungsräume sind allerdings keine reine Retrospektive, denn wer in ihnen steht, ist immer schon den eindringlichen Klängen der Installation ausgesetzt. Sie durchdringen den Gasometer vibrierend, ohne aufdringlich zu sein. Sie rufen einen förmlich in die Höh(l)e und nehmen einen mit. Wer jedoch den Weg nach oben wagt, sieht sich zunächst einem Durcheinander von Stahlstangen ausgesetzt: die Unterkonstruktion der Plattform. In der Dunkelheit ist der Weg kaum zu finden. Wer zum ersten mal ins Gasometer kommt, ist verwirrt, denn hier war anderes zu erwarten: mehr Raum, mehr Licht, mehr Luft. Doch der Weg zur Plattform findet sich bald durch Entgegenkommende. Eine Treppe führt aus dem Gewirr hinauf ins Zentrum, in den Uterus. Nun weitet sich der Raum ins Unermessliche. Die Dimensionen verschwimmen. Viola installiert im Gasometer einen heiligen Raum. Nicht von ungefähr hat er ihn mit dem Kölner Dom verglichen. Ich gerate ins Staunen und setze mich den Eindrücken aus.

Wie bei vielen seiner vorherigen Installationen, so haben auch Bill Violas Five Angels for the Millenium im Gasometer mit den Elementen Wasser, Feuer, Licht und Luft zu tun. Diese Projektionen aus schwebendem Licht und Sound erschaffen einen Raum, der in dunklem Licht erstrahlt. Die Projektionsflächen bestehen aus Leinwänden von ca. 12 mal 20 Metern. Sie sind der Länge nach gleichmäßig in der Innenumrandung des Gasometer verteilt. Allerdings sind sie in verschiedener Höhe gehängt, ohne dabei eine auf- oder absteigende Linie zu bilden. Die unterste Projektionsfläche ist mir nahe. Die anderen vier Projektionsflächen sind höher gehängt, einige scheinen sehr weit weg.

Ich brauche einige Zeit, bis ich mich auf diese Installation einlassen kann, bis ich meinen Platz gefunden habe, ihn wieder verlasse und einen anderen Platz einnehme. Ich beginne mit meinem Standpunkt zu experimentieren. Von keinem Punkt aus habe ich den Überblick. Der Fußboden ist komplett mit Teppich ausgelegt. Ich könnte mich hinlegen, wenn ich wollte. Durch das ständige Nach-oben-Schauen beginnt das Genick nach 30 Minuten Zuschauen und Zuhören zu schmerzen.

Auf jeder Projektionsfläche läuft ein anderer Film. Es sind Unterwasser- oder Überwasseraufnahmen, die in atemberaubend langsamer slow motion laufen. Die Videos zeigen einen Menschen, der springend ins Wasser eintaucht oder aus ihm herauskatapultiert wird. Jedes mal, wenn auf einem Video ein Mensch die Grenze zwischen Wasser und Luft durchbricht, schwillt das den Raum erfüllende Rauschen explosionsartig an. Ein Video läuft in normaler Richtung, andere Videos laufen rückwärts oder auf dem Kopf oder seitenverkehrt oder rückwärts auf dem Kopf. Wie in der Fugentechnik sind Thema, Krebs, Umkehrung und Krebs der Umkehrung zu sehen und zu hören. Durch die unterschiedliche Länge der Videos (zwischen vier Minuten und einer Viertelstunde) kommt es in dieser Installation zu immer neuen Konstellationen - polyphonphänomenale Endlosschleifen. Vier Videos sind in videounterwasserblau gehalten. Ein Video spiegelt Feuerschein auf dem Wasser - untergehende Sonne, Vulkan, Feuersbrunst? Es ist nicht genau auszumachen, woher der rote Schein stammt. Bis zum Schluss ist mir nicht klar, ob es sich um denselben Ur-Sprung handelt oder um verschiedene.

In seinen Skizzen betitelt Bill Viola das Ganze als "Cycle of Angels - Annihilation and Eternal Life". Seinen fünf Projektionsflächen gibt er fünf Namen:

I. Departing Angel (Verschwindender Engel)

II. Birth Angel (Geburtsengel)

III. Fire Angel (Feuerengel)

IV. Ascending Angel (Aufsteigender Engel)

V. Creation Angel (Schöpfungsengel)

Den Feuerengel erkenne ich aufgrund seiner roten Farbe. Die anderen Engel kann ich nicht klar und eindeutig wieder erkennen. Ich verliere im Laufe der Betrachtung immer mehr die Orientierung, auf welcher Projektionsfläche welcher Engel zu sehen sein soll. Nach einer gewissen Zeit kann ich mich endlich jenseits solcher Identifizierungsbemühungen darauf einlassen, hinzusehen, was mir und mich passiert. Es ist so, als wenn ich am Strand stehe und der Arbeit des Meeres, dem Spiel der Wellen lausche und zusehe oder als wenn ich bei guter Sicht in den Himmel starre: das ewig Gleiche ewig neu - die Frage nach dem Ursprung. Himmel und Erde kommen hier zusammen auf der Grenze und in der Macht des Wassers. Ich schaue nach oben in die Tiefen des Meeres.

Die Fragen nach dem Ursprung werden hier zum Ur-Sprung: ein Mann als Durchbrecher der Grenze von Wasser und Luft, was jeweils mit großem Getöse und viel Luftblasen bzw. Tropfen einhergeht. Diese Sprünge ins kalte Wasser haben gewaltige Auswirkungen. Sie wirbeln die Elemente durcheinander, ohne sie vermischen zu können. Langsam beschleicht mich eine Science-Fiction-Stimmung, die Installation hat kosmische Dimensionen: Ein Mann springt ins tiefe, blaue Meer - oh, du wunderschöne Tiefenpsychologie. Trotz der leichten Ironie, die mich anfliegt - beim Betrachten von Bill Violas Installation stellt sich mir die Frage nach Anfang und Ende - sie bleibt ein Sprung, an dessen Ur wir niemals geraten. Was Bill Viola sich ursprünglich dabei gedacht haben mag? Eine zunehmend uninteressant und bedeutungslos werdende Frage.

Nach einer Stunde in diesem Raum, die im Nu verfliegt, obwohl und weil alles und nichts passiert, mache ich mich auf und fahre im Innern des Gasometer mit dem gläsernen Aufzug die Dunkelheit durchquerend auf die 7. Ebene zur Besucherplattform und später weiter bis nach ganz oben auf die 10. Ebene. Ich bin fasziniert von dem Perspektivwechsel. Was vorher weit weg und entfernt war, ist mir nun nahe und umgekehrt. Trotz meiner gehörigen Höhenangst wage ich mich ans Geländer für einen intensiven Blick nach unten - wie gut, dass alles im Dunkel des Lichts verschwimmt, es wäre für mich sonst kaum auszuhalten.

Im 10. Stock ist die Tür ins Freie, wo ich aus dem dunklen Licht der Installation auftauche und wieder in das gleißende Licht eines normalen Smogtages im Ruhrgebiet eintauche. Nach einem ausgiebigen Überblick übers Ruhrgebiet - in weiter Entfernung ist die Jahrhunderthalle in Bochum zu erkennen - fahre ich außen wieder mit dem Aufzug herunter. Unten habe ich wieder festen Boden unter den Füßen, bin wieder geerdet, wie man das heute so nennt. Fast schon banal, diese Installation mit Engeln zu betiteln, ganz zu schweigen vom Millenium. Aber beeindruckend, erhebend und bildend war das, dem ich mich gerade 90 Minuten lang ausgesetzt habe, schon. Egal - bewegt verlasse ich diesen lichten Ort und fahre nach hause. Voila Viola.

Anmerkungen
  1. Zum Thema Engel vgl. das instruktive Themenheft 3 (2002) der ZPT "Wenn Engel uns beflügeln" mit exegetischen Beiträgen von Rüdiger Lux und Martin Leutzsch, systematisch-theologischen und philosophischen Einsichten von Gerhard Begrich und Karsten Kenklies sowie kulturtheologischen und religionspädagogischen Impulsen für die Praxis von Inge Kirsner, Harald Schroeter-Wittke, Gotthard Fermor und Norbert Collmar (235-292).
  2. Zu den bisherigen Installationen vgl. Hartmut Böhme: Bill Viola - ein Klassiker der Videokunst; in: NZZ 13./14.03.1999, 81 (www.culture.hu-berlin.de/hb/volltexte/texte/viola.html); sowie Jeanette Schmitz / Wolfgang Volz (Hg.): Five Angels. Bill Viola im Gasometer, Essen 2003.

Weitere Informationen finden sich unter: http://www.fiveangels.de/deutsch.htm


© Harald Schroeter-Wittke 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 24/2003
https://www.theomag.de/24/hsw2.htm