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Magazin für Theologie und Ästhetik


White Cube VI

Chen Zhen: Residence - Resonance - Resistance (R - R - R)

Karin Wendt

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Dass etwas vereinzelt ist und dennoch nicht allein (so) ist, ist das große Thema der Installationen des chinesischen Künstlers Chen Zhen. Eine Retrospektive seiner weit reichend Wirklichkeit analysierenden Arbeit ist zur Zeit im Landesmuseum in Münster zu sehen. Erfahrbar ist dort ein Resonanzraum menschlicher Kulturgeschichte, der seinesgleichen sucht.

Chen Zhen wird 1955 in Shanghai geboren, wächst dort während der Zeit der Kulturrevolution auf und emigriert Mitte der 80er Jahre als Bildhauer und Installationskünstler der chinesischen Avantgarde nach Paris. Sieben Jahre später kehrt er erstmals nach Asien zurück. Anhand von Skizzen, die Chen Zhen 2000 für eine Ausstellung im Centre de Création Contemporaine in Tours anfertigte, kurz bevor er starb, hat seine Frau seine letzte Projektidee realisiert: Zhen wollte fünf große Installationen, die seit 1997 in der Auseinandersetzung mit einem jeweils anderen Kontinent entstanden waren, zu einem offenen Arrangement zusammenfügen. So ist ein persönlicher Parcours und zugleich ein Gang durch die Symbolwelten der fünf Kontinente entstanden mit dem Titel "Residence - Resonance - Resistance (R - R - R)".

Gleich im Foyer des Landesmuseums stehen zwei miteinander verbundene, überdimensionale Tische, um deren Kanten sich jeweils vierzehn Stühle aus unterschiedlichen Epochen und Ländern ranken, leere Stühle, die scheinbar schweben; eine Arbeit, die in etwas einfacherer Form bereits 1995 für den Platz der Vereinten Nationen in Genf realisiert worden war. Round Table - Side by side (1997) schafft einen Raum für individuelle Platzhalter, deren Verschiedenheit als Voraussetzung jeder Dialogsituation erscheint. Die Arbeit ist damit zugleich eine Metapher für Zhens künstlerisches Anliegen.

Geht man weiter, kommt man in den Lichthof des Museums. Hier liegt ein riesiger Kokon aus weißem Papier am Boden. Wie in eine Höhle kann man eintreten und findet dort eine "Gebetsmühle", ein zylinderförmiger, um eine Achse drehbarer Behälter, der ursprünglich im Inneren Papierstreifen mit kurzen heiligen Texten enthielt und im tibetischen Buddhismus (Lamaismus) die mündliche Rezitation heiliger Sprüche mechanisch ersetzen soll. Zhen hat das sakrale Gerät über und über bedeckt mit Rechenmaschinen, vom chinesischen Abakus bis zum zeitgenössischen Taschenrechner. Im Innern des Kokons ist es kühl, aber es herrscht ein warmes Licht, das Lampen mit roten Glühbirnen von außen durch die papiernen Wände werfen. Mit der Installation Prayer Wheel - money makes mare go (1997) lässt Zhen offen, ob die Kapitalisierung der Welt als Religionsersatz dient oder Religion bereits eine frühe Form der diskreten Wiederholung, der Berechnung der Welt also darstellt.

An der Wand gegenüber versammelt die Collage Social Investigation (1997) Fotos von Repräsentationsbauten westlicher und östlicher Prägung in Shanghai. Kommentare in Skizzen und Notizen zeigen, wie Zhen sich mit den Symbolisierungen in der Kunst und Architektur unterschiedlicher (Stadt-)Kulturen beschäftigt und immer wieder auf die Grenzen einer "transexperience" (Chen Zhen) zu stoßen scheint: "Does Asia always embody its whole values less in buildings than Western society?"

Im Rundgang steht ein mannshoher Turm aus Stühlen und miteinander verschmolzenen bunten Kerzen, eingebauten Bildern, Fotografien, Schachspielen und kleinen Figuren: der Human Tower (1999). Jeder einzelne Docht der tausend Kerzen liegt frei, der Turm würde brennen, sobald nur ein Docht gezündet würde. Es ist eine fragile, "gesetzlose" Architektur, die sich potenziell verbraucht. Die Arbeit trägt einen zweiten Titel: Couldn't Bananas be Black? und erzählt von Zhens Erfahrungen in Afrika.

Nur aus bunten Kerzen hat Zhen gemeinsam mit Kindern in Brasilien eine ganze Ebene von kleinen Häuserkonstruktionen gebaut. Beyond the Vulnerability (1999-2000) ist ein Spiegel ihrer genauen Wahrnehmung und verkörpert zugleich "den noch chaotischen aber fieberhaften Aufschwung der südamerikanischen Gesellschaft."

Geht man den Gang zu Ende, stößt man schließlich auf Silence Sonore (2000), ein kleines Karussell aus Stühlen und hölzernen Nachttöpfen mit eingebauten Lautsprechern, aus denen ein leises Geräusch ähnlich der Bewegung eines Diaprojektors zu hören ist. Es ist eine stille, mechanistische Hommage an Duchamps Junggesellenmaschine und eine Referenz an die (zu Ende gegangene) Moderne.

R - R - R

Zhens Installationen sind Bewegungsstudien von Symbolisierungsprozessen zwischen der Trägheit dessen, was herrscht, den Schwingungen im Fließbereich und dem Brechen an der Grenze zum Anderen und Widerständigen. Raum ist dabei für ihn "not a white cube or a black box, but a mental space." Das ist in der westlichen Vorstellung der diskrete, d.h. in Besitz genommene Raum, und das ist in der östlichen Vorstellung der kontinuierliche, d.h. der belebte und antwortende Raum. Dass beides den Dingen Erscheinungscharakter zuschreibt und dem Ordnungswillen des Menschen Ausdruck verleiht, rückt die Vorstellungswelten zwar nah aneinander, lässt sie aber gerade nicht verschmelzen.

Wie kommt es aber zur Entäußerung dieses "mental space"? In seiner Tusche-Studie für Crystal Landscape of Inner Body (2000) macht Zhen seine Idee von "inneren Landschaften" noch vor ihrer Gestaltwerdung zu identifizierbaren Gegenständen und Gebäuden sichtbar. Immer wieder bewegt ihn die Frage, wie sich eher kristalline oder amorphe Vorstellungen in konkrete Darstellungsformen wandeln. Worin besteht der Wiedererkennungswert von Wohnräumen, Städten und ganzen Kontinenten, und wie lässt sich kultureller Wandel überhaupt verstehen und vermitteln? "Every city resembles very city."

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Es geht bei Zhens Projekt sicher auch um eine Erweiterung kultureller Beschreibungsmodelle. Immer sind Elemente so zusammengefügt, dass sie als einzelne unverwechselbar und sperrig bleiben, und doch ist etwas zu einer untrennbaren Form geronnen. Seine Installationen entwerfen damit keine harmonischen Gestaltintegrale multikultureller Identität, sondern verkörpern Hybriden, deren Trennungslinien haarscharf und fast schmerzlich offen liegen und die darin "man's dominance over his environment" noch einmal mehr verbildlichen und befragen. Zhens Kunst betreibt kein Spiel mit den Kulturen, sondern sie zeigt das regellose (Regel-)spiel der Kultur. Chen Zhen stellt so nicht zuletzt die Frage in den Raum, ob Revolution ein Anfang ist. Eine Antwort findet man auf einem seiner Notizzettel: "Communism is a tabula rasa. A tabula rasa is not the return to the beginning."

Alle Zitate von Chen Zhen, Social Investigation - Shanghai #1, 1997, Fotografie, Dokumente, Holz, Plexiglas, Privatbesitz. Fotos von weiteren Arbeiten unter: http://www.ps1.org/cut/press/zhen.html

Westfälischer Kunstverein & Westfälisches Landesmuseum Münster 21. Juni - 21. September 2003
http://www.westfaelischer-kunstverein.de/aktuell/chen_zhen.html
http://www.lwl.org/LWL/Kultur/Landesmuseum/start_html


© Karin Wendt 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 24/2003
https://www.theomag.de/24/kw24.htm