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Magazin für Theologie und Ästhetik


Prae-posthumane Ansichten

Einige Bemerkungen zu harten und weichen Cyborgs und der Menschlichkeit

Stefanie Schäfer-Bossert

Ganz kurzfristig wurde ich angefragt, zum Themenkreis "Cyborgs"
einen Beitrag zu schreiben. Wohlan – und in der Kürze der Zeit
darf ich es mir genehmigen, essayistischer zu werden.
Donna Haraways Cyborgs

Dass die Cyborg-Gestalt inzwischen einen festen Platz in zeitgenössischen Debatten eingenommen hat, ist unter anderem Donna Haraway zu verdanken, einer gelernten Biologin, inzwischen jedoch interdisziplinär arbeitenden Wissenschaftstheoretikerin, die in Santa Cruz, Kalifornien lehrt. Sie hat ein "Manifest für Cyborgs" verfasst und lässt das Cyborg-Thema als roten Faden durch etliche Veröffentlichungen laufen.[1] Das Manifest stammt bereits aus der Reagan-Ära, der Zeit kältester Star-Wars,[2] wurde durch Frigga Haug in einer deutschen Vorfassung früher als auf Englisch publiziert, und zB ins Japanische, Portugiesische, Französische, Niederländische und Chinesische übersetzt. In Deutschland erschienen beide Fassungen 1995[3] und seitdem muss jeder, der in einem wissenschaftlichen Diskurs "Cyborg" sagt, auch "Haraway" sagen (was nicht gleichbedeutend ist mit "Haraway gelesen haben") auch wenn sie inzwischen "auf den Hund gekommen" ist.[4]

Das Manifest postuliert: "Im späten 20. Jahrhundert, in unserer Zeit, einer mythischen Zeit, haben wir uns alle in Chimären [Mischwesen], theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschine und Organismus verwandelt, kurz, wir sind Cyborgs."[5] Diese sind "ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion".[6] Damit ist zum einen darauf angespielt, dass die Gestalt auch aus der Science Fiction stammt und das ausmalt, was in Zukunft auf uns zukommen kann, aber es macht auch – bitteren – Ernst damit, dass wir hier und jetzt in den Industrieländern in einer technologisierten Umwelt leben. Haraway plädiert dafür, "die Cyborg als eine Fiktion anzusehen, an der sich die Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität ablesen lässt."[7] Den Natur- und Technologiewissenschaften samt den Informationswissenschaften und ihren Praktiken widmet sie sich besonders, da ihnen unter den Bedingungen spätkapitalistischer Gesellschaften der Gegenwart eine besonders große Macht zukommt. Sie sieht unauflösbare Wechselwirkungen: Es "konstituieren sich sowohl die Tatsachen als auch die Zeugen in den Begegnungen, die die techno-wissenschaftliche Praxis ausmachen. Subjekte wie Objekte der Technoscience landen im Schmelztiegel der spezifischen, verorteten Praxisformen, von denen einige von globaler Lokalität sind, und werden von ihnen gezeichnet. In der Hitze des Feuers verschmelzen Subjekte und Objekte regelmäßig miteinander."[8]

Damit ist eine Trennung zwischen Kultur und Natur genauso fern der Realität wie eine Trennung natur- und technowissenschaftlicher Paradigmen von denen der Geistes- oder Kommunikationswissenschaften - die allesamt einen formatierenden Charakter haben: "Geist, Körper und Werkzeug sind aufs innigste vereint. Die materielle Organisation von Produktion und Reproduktion des alltäglichen Lebens ist davon ebenso betroffen wie die symbolische Organisation von Produktion und Reproduktion des Kulturellen und der Vorstellungswelten."[9] Die Furcht vor Maschinen wird gekontert: "Die Maschine sind wir, unsere Prozesse, ein Aspekt unserer Verkörperung. (...) Wir können für Maschinen verantwortlich sein, sie beherrschen oder bedrohen uns nicht."[10]

Im zeitlichen Abstand kann Haraway dies zusammenfassen als "im Geist einer ironischen Aneignung von Zielen, die von den Sternenkriegern nie ins Auge gefasst worden waren" und als "eine Trope, eine Figur für das Leben in und für die Würdigung der Fähigkeiten und Praktiken der zeitgenössischen Technokultur, ohne die Verbindung mit dem permanenten Kriegsapparat einer nicht-optionalen, post-nuklearen Welt und ihrer transzendenten, sehr material(istisch)en Lügen zu verlieren. Cyborgs können Figuren für das Leben in Widersprüchen sein."[11]

Zur Abfassungszeit des Cyborg-Manifests war die Cyborg-Gestalt noch ziemlich unverbraucht und vor allem als – wenn auch ambivalentes – Modell für weibliche bzw. feministische Identität ein völlig neuer Weg. Die neue Frauenbewegung reagierte auf die technologischen Bedrohungen, nicht zuletzt durch die Sternenkriegs-Szenarien, in weiten Teilen im inzwischen als "romantisches Modell" diskutierten "Zurück zur Natur"-Reflex, der mittlerweile aber auch als weitere Befestigung der Dichotomien kritisiert wird, die "Kultur/Technik" und "Natur" trennen und genauestens auf die Geschlechter zu sortieren wissen.

Cyborgmodelle und -definitionen

Der Begriff "Cyborg/Kyborg" war 1983 freilich auch noch nicht besonders alt: Er ist eine Verkürzung von "Cybernetischer Organismus" und erschien das erste Mal 1960 in einem von den Medizinern Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline in einem für die NASA verfassten Artikel, der den Vorschlag macht, für Fahrten in den Weltraum nicht die Bedingungen den Menschen anzupassen, sondern den Menschen körperlich technisiert den dortigen Umweltbedingungen. Daraus spann hinfort, wahrlich nicht ohne Anhalt an der Realität, vor allem die Science Fiction eine Adaption des menschlichen Körpers an Kriegsszenarien.[12]

Inzwischen ist sehr oft von "Cyborgs" die Rede, aber ich möchte gerne auf die "klassische" Definition des organisch-technischen Mischwesens bestehen, wie sie sich auch im Web Dictionary of Cybernetics and Systems von Principia Cybernetica Web findet. Dort wird Cyborg folgendermaßen definiert: (1) ein Organismus mit einer eingebauten Maschine mit einer daraus folgenden Modifikation der Funktion; (2) ein Organismus, der teils Tier und teils Maschine ist. Da einige Theoretiker Organismen als biologische Maschinen betrachten, müssen wir unsere Begriffe genauer definieren. (...) Ein Cyborg ist folglich eine Kreatur, die zusammengesetzt ist aus einigen Teilen, die ohne Hilfe des Verstands , und aus einigen Teilen, die mit seiner Hilfe gebaut sind. Außerdem müssen die Teile größer sein als ein Molekül. Ein Wesen mit Aspirin im Körper ist kein Cyborg. Ein Wesen mit einem künstlichen Herz ist ein Cyborg.[13]

Eine explizit über die Körpergrenze hinaus gefasste Definition, die Körpererweiterungen einbezieht, war in einer Aussstellungsabteilung 'Cyborgs' des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe zu lesen:

"Im modernen Körperbild kommt es zu Vermählungen des menschlichen Körpers mit Objekten. (...) Zu den natürlichen Körperorganen kommen neue Elemente, auch andere Materialien als Fleisch und Knochen. Die Möglichkeiten der Kombination (...) werden über die menschliche Organmenge hinaus weiterentwickelt – in den Horizont der Dinge und Maschinen (...). Es kommt zu einem partiellen Austausch und zur teilweisen Substitution der organisch-natürlichen Körperteile durch künstlich-technische."[14]

In Literatur und Film jedweder Couleur - und den entsprechenden theoretischen Diskursen - sind derzeit vor allem zwei Konzepte von Cyborgs virulent:

Zum einen das der eigentlichen Definition entsprechende Konzept des organisch-technischen Mischwesens, meist in der Kombination Mensch-Maschine, gelegentlich auch mit tierischen Elementen.

Zum anderen sein Vorläufer oder seine ältere Version, der "künstliche Mensch".[15] Dessen "Natur-Anteil" beschränkt sich im Grunde auf die menschliche Körperform und die Imitation menschlichen Handelns, neuerdings partiell überpotenziert. Er ist nicht im ganz engen Sinn als Cyborg zu rechnen, sondern als ein alter Ast am evolutionären Baum, von dem aus der Cyborg-Zweig der Technik-Mischwesen parallel weiter gewachsen ist. Der älteste in unserem Kulturraum ist wohl der Golem, dann kommen – literarisch ziemlich gleichzeitig - die Automaten des 18. Jahrhunderts/ der Aufklärungszeit, schließlich die anthropoiden Roboter und die Künstliche Intelligenz (KI).

Daneben gibt es immer wieder ein Verständnis von "Cyborg" als Höherentwicklung in geistige, unkörperliche oder körperlose Welten der Virtualität. Es basiert auf einer Sicht des Körpers, die diesen als "schwächsten Teil des Computers" verachtet, als meat, Fleisch, oder wetware, Feucht-Ausstattung, und möglichst zu eliminieren trachtet. Ein solches Abspalten des Körpers – der ja schließlich trotz allem noch vor dem Computer sitzt! –, diese altbekannte Körper-Geist- oder Leib-Seele-Spaltung wird auch im neuen Gewand nicht plausibler und verliert sich so im Diskursiven oder im Cyberspace, dass die konkrete Materialität vitaler und gesellschaftlicher Prozesse aus dem Blick gerät und damit auch konkrete Handlungsfähigkeit im real life.[16] Die Roboter des Massachusetts Institute of Technologie (MIT) kamen jedenfalls erst dann vom Fleck, als sie nicht mehr nur ihre Position berechnet haben, sondern anfingen, sich als Körper zu bewegen, und die Neuausrichtung der KI-Forschung an der embodied artificial intelligence geht davon aus, dass Intelligenz auf einen körperlich realisierten Kontakt zur Umwelt angewiesen ist.[17]

Sind Cyborgs posthuman?

Für Donna Haraway ist die Cyborg-Figur auch ein Denkmodell, das Bestimmungen des "Menschlichen" und vor allem "Weiblichen" abschüttelt, die "wissenschaftlich" oder "natürlich" als vorgegeben und damit unhintergehbar postuliert werden. "Die Metaphorik der Cyborgs kann uns einen Weg aus dem Labyrinth der Dualismen weisen, in dem wir uns unsere Körper und Werkzeuge erklärt haben."[18] Sie können und konnten auch anders erklärt werden und sie sollten das auch.

Von dieser Epistemologie durchaus überzeugt habe ich das Experiment mit offenem Ausgang gestartet, Cyborgs und die Bibel in Beziehung zu setzen, und dieses wandelte sich zunehmend von einem Verfremdungs- zu einem Erschließungseffekt.[19] Gerade dort, wo ich größte Differenzen erwartet hätte, bei der engen körperlichen Verbindung Mensch-Technik, fand sich die ungebrochenste Übereinstimmung. Wenn gilt "Ein Cyborg ist folglich ein Wesen, das zusammengesetzt ist aus einigen Teilen, die ohne Hilfe des Verstands, und aus einigen Teilen, die mit Hilfe des Verstands gebaut sind", dann können wir den in der Bibel beschriebenen Menschen oft genug den Cyborg-Status zuerkennen. Auch im biblischen, nicht nur "im modernen Körperbild kommt es zu Vermählungen des menschlichen Körpers mit Objekten, anderen Materialien als Fleisch und Knochen." Der Organismus ist hier wie dort "über die menschliche Organmenge hinaus weiterentwickelt – in den Horizont der Dinge und Maschinen."[20] Es besteht eine enge Wechselwirkung zwischen dem organischen Körper und möglichen Erweiterungen, seien es Kleidung, Insignien, Attribute, Amulette oder Werkzeuge: Sie vergrößern die körperliche Präsenz, das Machtfeld eines Menschen erheblich und auf jeden Fall weit über seine Hautgrenze hinaus. Dies geschieht realiter, und gleichzeitig auf der Ebene der Be-Deutung: Sie zeigen den Ort eines Menschen im sozialen Raum und stellen gleichzeitig diesen Ort, die Bedeutung eines Menschen, mit her.

Der Bibel geht es nicht um organische Biologie, sondern um soziokulturelle Wirkungen und Auswirkungen.

Die Grenze Mensch-Technik als solche ist keinerlei Problem. Wo auch immer biblisch die menschlichen Fähigkeiten in Kulturtechniken münden, sie sind ins Körperkonzept des Menschen integriert, und es werden weder die einen noch die anderen dämonisiert – solange sie sozialverträglich bleiben und die Bindungen an GOTT und die Mitmenschen nicht angreifen oder bedrohen. Dann kommt die dämonische Metapher zum Zuge.

Also ist, wie spätestens das Bibel-Unterfangen gezeigt hat, ein Cyborg grundsätzlich anthropologisch einholbar.[21] Gelegentlich wird in diffusem Eingedenken solcher Anschlussfähigkeiten unterschieden zwischen "softer" und "harter" Cyborgisierung: "Nenne es die sanfte Seite der Cyborg-Revolution, wenn die Computer auf dir, nicht in dir sind".[22] Freilich sind uns schon in der allgemeinen Definition die Träger eines Herzschrittmachers als folglich "harte Cyborgs" begegnet und kann, wer Hörgeräts-Implantate trägt, auch der einen Computer voraussetzenden Engführung nicht mehr entkommen. Die fürsorglichen Halterinnen eines Haustiers, die dieses "chippen" lassen, sollten sich dann im Klaren darüber sein, dass ihr Schmusetier in Wirklichkeit ein knallharter Cyborg ist.

So sehr es, nicht zuletzt von ihm selbst, als Wendpunkt gehandelt wurde, dass sich der englische Professor Kevin Warwick (Chairman of the Cybernetics Department at the University of Reading) im August 1998 einen Silikonchip unter der Haut implantieren ließ, um damit Funktionen in seinem Büro und Wohnbereich zu steuern, so wenig unterscheidet sich dieser doch bislang von herkömmlichen Fernsteuerungen. Auf die Frage, ob er die Welt oder sich nun anders wahrnehme, antwortete Warwick: "Da du schließlich (just) ein Mensch bist (human being), fühlst du dich physisch als das, was du bist. Mit diesem Chip habe ich eine Verbindung (link) mit einem Teil von mir, der nun separat ist. Es ist nicht nur so, dass ich ein physikalisches Etwas (thing) bin wie ich es bin, es ist etwas anderes, außerhalb."[23] Allerdings kann ich den Unterschied, Fernbedienungen in der Hand oder unter der Haut zu haben, nur graduell finden und das neue Gefühl deshalb nicht ganz nachvollziehen. Mein geistiges Auge zeigt mir einen Pharao – und das deshalb, weil dies wörtlich nichts anderes heißt als "großes Haus" – der mit einem Wink seiner Hand, möglicherweise erweitert durch ein Szepter, so gut Türen von weitem öffnen, Gesänge an- und abstellen etcpp wie wir mit einer Fernbedienung. Warwick schränkte dann auch selbst etwas ein, aber lud gleichzeitig religiös auf: "Manche könnten dasselbe auf spirituelle Art fühlen."[24] So ganz neu ist alles also doch nicht, und die Unterscheidung zwischen harten und weichen Cyborgs scheint mir vor allem den Grad der Härte widerzuspiegeln, in dem sich jemand bedroht fühlt.

In der Tat wird jedoch die Verbindung Mensch-Technik zunehmend enger, rückt uns die Technik immer mehr auf die Pelle, und gehen uns die Computer immer mehr unter die Haut, neuerdings kann man sich auch die Zugangs- und Abbuchungsermächtigung für Discos als Chip implantieren lassen. Das muss aber alles nicht als "posthuman" definiert werden, wahrscheinlich auch dann nicht, wenn, so die Zukunftsmusik, Interface-Schaltungen zu Computern implantiert werden können. Hier sollte besser ein zu sehr der organischen Biologie, der Hautgrenze oder romantischen Naturdiskursen verhaftetes Körperbild zur Debatte stehen.

Aber es kann unmenschliche Folgen nach sich ziehen und sollte deshalb dringend als "Möglichkeiten des Menschen" diskutiert und abgewogen werden – was umso besser möglich ist, wenn man nicht der impliziten Behauptung aufsitzt, die bereits im Begriff selbst steckt, "Posthumanes" befände sich ohnehin jenseits dessen, was bislang für das Humanum, für den Menschen, gegolten hat, auch an Regeln.

Ein posthumanistisches Votum für das Prae-Posthumane

Ich gebe es zu – trotz mancher intellektueller Skrupel führe ich, mal mehr und mal weniger gern, diverse "Post"-Vokabeln im Munde. Aber auch beispielsweise Moderne, Christentum und Feminismus sind mit "Post" etwas zu gründlich abgetan, wenn damit – wie es häufig geschieht – übersehen wird, wie sie in veränderter und selbst in verneinter Form doch weiterwirken. Und so wichtig sie als Kategorien sind, sie sind doch deutlich partikularer als die Kategorie "human", an deren praescriptiver Konnotation nicht zuletzt die Menschenrechte hängen. "Menschlichkeit", Humanität, humanity ist auch ein Beziehungswort, und hier halte ich es wieder mit Donna Haraway: "Mein Einsatz ist hoch; und ich glaube, dass 'wir' (...) etwas namens Humanität benötigen. Sie gehört zu den Dingen, von denen Gayatri Spivak sagt, wir 'könnten sie nicht nicht wollen'."[25] Natürlich ist der westliche Humanismus mit seinen eurozentristischen Diskursen[26] längst in die Krise geraten, aber auch Haraways "Interesse gilt der Gestalt einer gebrochenen und leidenden Humanität, die (...) eine mögliche Hoffnung bezeichnet"[27], die Haraway auch "in einer reichen, gefährlichen, alten und fortwährend erneuerten Tradition des jüdisch-christlichen Humanismus" finden kann.[28]

Also ist sie unaufgebbar, die Frage: "Wie vermag Humanität eine Gestalt zu haben außerhalb der Narrationen des Humanismus?"[29] Dafür ist es nun denkbar ungünstig, sich die Kategorie "Humanität" aus der Hand schlagen zu lassen und zeigt sich umgekehrt oft genug, dass diese Kategorie in "posthumanen" Entwürfen völlig außer Acht ist und sie die Individualisierung und Isolation des westlichen Selbst auf die Spitze treiben.

Hier sollte nun auch deutlich unterschieden werden zwischen konkreter Analyse, Zukunfts-Prognosen und den Bildern aus Science Fiction und Cyberpunk, die potenzielle Entwicklungen gern als Horrorszenarien vor Augen malen. "Science Fiction ist ein Mittel zum Ausloten der kulturellen Flächen, auf denen Verschiebungen der Maßstäbe (technische Innovationen, neue Bewertungen u.a.) stattfinden: inhaltliche Neuerungen, die in Korrespondenz stehen mit sozialen Veränderungen – der Cyberpunk hat einige Schlaglichter geworfen auf die kulturellen 'Unsicherheitszonen' der Zukunft, die eine neue 'Fremdheit’ darstellen: Es ist völlig unklar, was 'Posthumanität’ bedeuten kann."[30]

Es kann ein provozierendes, es kann ein aufrüttelndes Schlagwort sein, aber dennoch möchte ich aus oben genannten Gründen zu äußerst wohldosiertem Gebrauche raten und für die analytische Ebene die Vokabeln zur Verwendung vorschlagen, die sagen, was Sache ist: posthumanistisch, nicht posthuman, Posthumanismus, nicht Posthumanität.

Übrigens kann auch der Diskurs über den Cyberpunk die Unterscheidung zwischen "posthuman" und anti-humanistischer Stoßrichtung sehr wohl treffen und wird klar gesehen: "Ein funktionierender Cyberspace wäre auch das Ende von allem, wes bekannt ist; aber: 'Echte paradigma-ändernde Ansätze werden im Cyberspace rar sein’, schreibt Bruce Sterling, 'besonders wenn er von einer technikphilosophischen Rhetorik getragen wird, die eine Revolution im Zustand der Menschen proklamiert.’"[31]

Ein weiteres Feld für posthumanes Erschrecken kann das An- und Ablegen von Identitäten sein. Aber auch dieses, ob freiwillig, spielerisch, ob von Sexualitätsdiskursen oder vom Arbeitsmarkt gefordert, halte ich für eine conditio humana der globalisierten Neuzeit, zumindest des Westens im Spätkapitalismus, und nicht für den Bruch, der "posthuman" suggeriert wird. Einen Bruch sehe ich abermals vor allem als ein Brechen mit – hierfür in der Tat überfälligen – humanistischen Modellen und Idealen der "einen und eindeutigen Identität", die sich zudem möglichst eindimensional zum Schönen, Wahren und Guten entwickelt. Diese Korsettage wird derzeit nach Belieben an- und abgelegt und gerne mit einer Betonung auch des Hässlichen, Partiellen und "Bösen" quittiert.[32]

Die gängigen Leitkonzepte greifen nicht mehr – teilweise ist ihnen nun aber auch nur nachgewiesen, dass sie noch nie gegriffen haben, inzwischen aber Gefahr laufen, ihres Status als mainstream und Hauptdiskurs verlustig zu gehen. Dann muss jedoch nicht eine radikal veränderte Situation postuliert werden, dann muss es darum gehen, die im klassischen Paradigmenwechsel nun auf einmal höchst schwergängigen Leitkonzepte zu revidieren.

Die Frage bleibt: "Inwieweit stellen die neuen Technologien (Künstliche Befruchtung, Genmanipulation, Microcomputer-Implantate, KI) das Humanum infrage?"[33]

Hier schließe ich mich herzlich gern dem biblischen Befund an: Es geht nicht um organische Biologie, sondern um soziokulturelle Wirkungen und Auswirkungen, und es stellt sich die Frage der "Mitmenschlichkeit". Beispielsweise ist "der Mensch" in diesen Debatten üblicherweise der der technisierten Industrienationen – ohne dass diese doch sehr partikulare Fixierung transparent gemacht würde. Hier wird "der Mensch" schönheitschirurgisch optimiert, während an anderen Orten die Menschen keinerlei ärztliche Versorgung haben. Hier kann sich "der Mensch" im Cyberspace verlieren, während an anderen Orten schon ein Brunnen der Traum technischer Innovation wäre.

Bei allen Veränderungen, die die beschleunigten Möglichkeiten des Dritten Milleniums mit sich bringen – die meisten auch dieser Probleme oder Lösungen starten weder vom Nullpunkt, noch können sie sich "post" materialistischer Fragen stellen. Ich bin eine Cyborg, aber eine prae-posthumane.

Anmerkungen
  1. Für eine Darstellung vgl. Stefanie Schäfer-Bossert, Haraways Cyborgs: Figuren für das Leben in Widersprüchen, in: Das Argument 1/2005 / Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 259, Dialektik des weiblichen Widerstands, S. 69 –82.
  2. Er wurde 1983 in einer Vorform gedruckt in "1984" Gulliver. Deutsch-Englische Jahrbücher, Argument-Sonderband 105, und erschien 1985 auf Englisch in Socialist Review 80.
  3. in den Sammelbänden: Donna Haraway, Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft, Hamburg-Berlin 1995 (=1983); dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/M-New York 1995a, darin: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften, S. 33-72 (zitiert als 1995aa).
  4. Donna Haraway setzt nach immerhin 20 Jahren intensiver Diskussionen einen neuen Impuls. Sie hat ein neues Manifest geschrieben über Hunde und signifikante Andersartigkeit: The Companion Species Manifesto. Dogs, People and Significant Otherness, Chicago 2003. Sei meint " die scharlachroten Lettern 'Cyborgs für das Überleben der Erde!’ lange genug getragen" zu haben, lässt die Cyborgs im Zweiten Millenium zurück und sagt: "Ich bin glücklich auf den Hund gekommen" ("So I go happily to the dogs”, S. 5). "Cyborgs und Companion Species, jede bringt das Menschliche und das Nicht-Menschliche zusammen, das Organische und das Technologische, Karbon und Silikon, Freiheit und Struktur, Historie und Mythos, die Reichen und die Armen, den Staat und das Subjekt, Verschiedenheit und Entleerung, Moderne und Postmoderne, und Natur und Kultur, auf unerwartete Weise." (S. 4, Original englisch).
  5. Haraway 1995aa, S. 34.
  6. Haraway 1995aa, S. 33.
  7. Haraway 1995aa, S. 34.
  8. Donna Haraway, Anspruchsvoller Zeuge@ Zweites Jahrtausend. FrauMann© trifft OncoMouse™,. In: Elvira Scheich (Hg), Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschaft- und Gesellschaftstheorie, Hamburg 1996, S. 347-388, S. 361.
  9. Haraway 1995, S. 167.
  10. Haraway 1995 aa, S. 70.
  11. Haraway 2003, (Anm. 4) S. 4.11 (Original Englisch). Ich möchte dies bestätigen und unterstreichen, vgl. Lit Anm.1.
  12. Ausführlich z.B. in: Dierk Spreen, Cyborgs und andere Techno-Körper. Ein Essay im Grenzbereich von Bios und Techne, Passau 1998, S. 8f. Die feministische Science Fiction wurde zur Verwendung der Gestalt vor allem durch Haraway inspiriert.
  13. http://pespmc1.vub.ac.be/ASC/CYBORG.html, Original englisch. Die Größenangaben sollten freilich spätestens dann korrigiert werden, wenn die Nanotechnik ihre Ziele, Nanobots einzusetzen, erreicht hat.
  14. ZKM – Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Der anagrammatische Körper und seine mediale Rekonstruktion (Ausstellungsführer), Karlsruhe 2000, S. 48.
  15. Er ist seit dem 18. Jahrhundert das Abbild des Stolzes auf wissenschaftliche Fähigkeiten, meist aber zugleich der Furcht vor den technischen Möglichkeiten des Menschen und der Furcht vor dem dadurch drohenden Identitätsverlust.
  16. Dass diese Materialität freilich nicht nur menschliche Akteure umfasst, ist ebenso eine, nicht etwa posthumane, sehr wohl aber nicht mehr andropozentrische Grundannahme Haraways. Sie bedeutet alles andere, als den Menschen aus Pflicht und Verantwortung zu entlassen, sie erlaubt es aber z.B., juristische Personen, technologische Entwicklungen und Produkte wie auch Natürliches als Faktoren und Akteure gesellschaftlicher Prozesse wahrzunehmen und mitzudenken.
  17. Vgl. Rodney Brooks, Menschmaschinen, Frankfurt/M – New York 2002.
  18. Haraway 1995aa, S. 72 als Schluss des Manifests.
  19. Stefanie Schäfer-Bossert, Cyborgs im Ersten Testament? Über Mischwesen, Körpererweiterungen und Donna Haraway. In: Hedwig-Jahnow-Forschungsprojekt (Hg.), Körperkonzepte im Ersten Testament. Aspekte einer feministischen Anthropologie, Stuttgart u.a. 2003, S. 190 – 219.
  20. Vgl. die Cyborg-Definitionen.
  21. Vgl. Dierk Spreen, Menschliche Cyborgs und reflexive Moderne. Vom Jupiter zum Mars zur Erde – bis ins Innere des Körpers. In: Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne. FS Wolfgang Eßbach, hg. Ulrich Bröcklin/ Axel T. Paul, / Stefan Kaufmann, München 2004, S. 317-346. Der dämonische Aspekt der Cyborgs bietet ebenfalls interessante anthropologische Ansatzpunkte, vgl. Schäfer-Bossert 2003 (Anm. 19).
  22. Alexandra Kahn, Sprecherin des MIT, zit. nach Gail Russell Microchip Under His Skin, www.csmonitor.com/durable/1998/09/03/p51s1.htm., vgl. Sabine Bobert, Praktische Theologie im Zeitalter der Posthumanität. In: Magazin für Theologie und Ästhetik Heft 22, www.theomag.de/22/sbs3.htm.
  23. Russell ebd.
  24. ebd.
  25. Haraway 1995, Ecce homo. Das Humane in einer posthumanistischen Landschaft, S. 118-135, S. 120.
  26. Fröhliche Urstände feiert ein solcher zB aber, trotz vieler sehr berechtigter Nachfragen, in US-amerikanischer Adaption bei Francis Fukuyama, Das Ende des Menschen, Stuttgart/ München 2002.
  27. Haraway 1995, S. 119. Im Zitat ausgelassen habe ich den obligaten Bruch: "ambivalent und widersprüchlich, in gestohlenem Symbolismus und unendlichen Verkettungen nicht unschuldiger Übersetzung".
  28. Ebd. Der Aufsatz spiegelt eine gewisse Re-Bekehrung des ehemals "irisch-katholischen Mädchens" durch die Begegnung mit der Befreiungstheologie und wendet sich neben Sojourner Truth auch Jesus zu, wenn auch ohne jedwede christologische Implikation. Mit der Bezeichnung Jesu als "westliche Trickster-Gestalt" (ebd.) ist ihr freilich ein rezeptionsgeschichtlich generierter Lapsus unterlaufen. Im Manifest von 2003 spiegelt sich zudem eine Wertschätzung der Transsubstantationslehre als "korporeale Verbindung des Materialen und Semiotischen".
  29. Haraway 1995, S. 121.
  30. Wolfgang Neuhaus, Am Nullpunkt der Posthumanität, www.thing.de/hartmoderne/text/neu_gibson.htm
  31. ebd.
  32. Vgl. Stefanie Schäfer-Bossert, Böse (?) Provokationen jenseits der Geschlechtergrenzen (Arbeitstitel), in: Helga Kuhlmann/ Stefanie Schäfer-Bossert (Hg.), Hat das Böse ein Geschlecht? Theologische und religionswissenschaftliche Verhältnisbestimmungen, Stuttgart u.a., erscheint Oktober 2005
  33. Bobert (Anm. 22).