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Magazin für Theologie und Ästhetik


Wikipedia III

Digital und Analog

Andreas Mertin

Zum dritten Mal nach den Vorstellungen in Heft 32 und Heft 35 steht die freie Online-Enzyklopädie mit einer neuen statischen Ausgabe im Zentrum eines Reviews. Die aktuelle Ausgabe 2005/2006 mit einem Redaktionsstand von Oktober 2005 ist Mitte Dezember als DVD erschienen. Dieses Mal ist die DVD mit 7,9 Gigabyte so umfangreich geworden, dass man sie unter vernünftigen Bedingen nicht mehr herunterladen kann bzw. sollte. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die DVD eine Fülle von hochauflösenden Bildern enthält und Bilder nun einmal komplexer als Texte sind.[1] Aber auch ohne die Bilder ist die herunter zu ladende Datei immerhin noch 2,6 Gigabyte groß. Da macht es schon Sinn, auf eine DVD zuzugreifen. Diese ist nun in einer sinnvollen Kombination mit dem ersten Band der neuen Buchreihe WIKIPRESS erhältlich. Für die DVD als Ergänzung zur online-Ausgabe spricht vor allem die schnellere und bequemere Recherche und die Unabhängigkeit vom Internetzugang. Und in der DVD-Ausgabe der Digitalen Bibliothek ist die optische Annäherung an das Buchformat wesentlich gelungener als die z.T. unübersichtliche online-Ausgabe.

Sündenfälle

Seit der letzten Vorstellung hat die Wikipedia-Welt jedoch ihre Unschuld verloren. In der englischsprachigen Ausgabe wurde ein Journalist unzutreffenderweise und aufgrund eines scherzhaften Eingriffs eines Nutzers als Verschwörer denunziert, ohne dass das jemand über einen längeren Zeitraum aufgefallen wäre. In der deutschsprachigen Ausgabe wurden in kurzer Zeit zahlreiche Artikel aus dem marxistisch-leninistischen Wörterbuch eingestellt, die nun mühsam wieder entfernt werden müssen. Beides sind keine harmlosen Vorgänge, sondern berühren das soziale Konzept der Wikipedia zutiefst. Dass Nutzer der Wikipedia Inhalte der Enzyklopädie in ihrem Sinne zu verändern trachteten, war schon häufiger vorgekommen und in der Regel schnell von anderen Nutzern korrigiert worden. Dieses Mal haben die Korrekturmechanismen aber nicht oder doch nur sehr verspätet funktioniert. Deshalb wird nun engagiert diskutiert, wie man einen Kompromiss zwischen der Freiheit der Enzyklopädie und den Anforderungen von Urheberrecht, Persönlichkeitsschutz und vor allem der Qualitätssicherung finden kann. Natürlich ist die freie Enzyklopädie etwas anderes als ein von speziell ausgewählten Autoren und Redakteuren erstelltes Lexikon. Der Anspruch der wikipedia war aber immer, sich an derartigen Lexika messen zu wollen. Daran muss aber noch kräftig gearbeitet werden.

Denn in der vorliegenden Form ist an manchen Punkten die Lektüre der Wikipedia eine intellektuelle Qual. Man lese nur einmal den Artikel Weihnachten. Das ist eine Mischung von Vorurteilen, weltanschaulichen Beurteilungen, Halbwahrheiten und Falschdarstellungen, die nur schwer erträglich ist. Der seit dem deutschen Nationalsozialismus gehäuft auftretende Verweis auf die heidnischen Ursprünge des Weihnachtsfestes ist ebenso zu finden wie die historisch zumindest problematische Behauptung der substantiellen Querverbindungen zu anderen religiösen Kulten. Man sollte mit derartigen Konstruktionen vorsichtig umgehen und an die Versuche denken, "im 'Amt Rosenberg' 'germanisches' Brauchtum regelrecht zu konstruieren und ihre Erfindungen als uralt auszugeben - übrigens mit bleibenden Folgen bis heute in Schulbüchern, Illustrierten und zahlreichen populären Büchern zum Weihnachtsfest, wo die tatsächliche 'Ideologisierung eines Familienfestes durch Volkskundler' noch heute als wissenschaftliches 'Forschungsergebnis' wahrgenommen wird."[2] Und natürlich darf in der Wikipedia der Hinweis nicht fehlen, dass Weihnachten nur ein bürgerliches Familien-Konsumfest sei. Das ist sicher nicht falsch, aber muss es deshalb einen von zehn Hauptpunkten zur Darstellung des Weihnachtsfestes sein? Bei analogen Festen anderer Religionen, das zeigt eine stichprobenartige Überprüfung, findet sich ein derartiger Hinweis nicht. Insofern ist - nicht nur an dieser Stelle - die Wikipedia fortdauernd überarbeitungsbedürftig: wikipedia semper reformanda!

Vom Digitalen zum Analogen und zurück

Mit dem ersten Band der neuen Reihe WIKIPRESS wendet die freie Enzyklopädie Wikipedia sich nun auch der analogen Welt und der Gutenberg-Galaxis zu. Das ist sicher ein mehr als sinnvoller, konsequenter und auch notwendiger Schritt, denn manche Informationen liest man - vor allem wenn sie einen bestimmten Umfang überschreiten - nur ungern am Bildschirm oder sucht sie sich in einem längeren Zeitraum nach und nach aus Einzelartikeln eines Lexikons zusammen. Und manche Informationen hat man gerne neben dem Bildschirm liegen, wenn man gerade mit dem Computer arbeitet. Zum Beispiel, wenn man sich entschlossen hat, selbst an der Enzyklopädie Wikipedia mitzuarbeiten.

Genau das ermöglicht das Mitte Dezember erschienene Buch über die Wikipedia. Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte:

  1. Ein Kapitel über die Wikipedia allgemein, ihre Geschichte, Grundsätze und ihre "Machtstrukturen" sowie alle Projekte rund um die Wikipedia.
  2. Ein Kapitel geht den Regeln und Konventionen nach, die bei der Mitarbeit an der Wikipedia gelten.
  3. Und das dritte Kapitel bietet systematisch Referenzen zu allen Aspekten der Arbeit mit der Wikipedia.

Das gesamte Buch ist weniger eine Einführung zur passiven Nutzung - dafür braucht man kein Buch -, als vielmehr zur aktiven Mitgestaltung der freien Enzyklopädie. Und dafür braucht man das Buch auch, denn selbst Gutwillige dürften an der komplexen Struktur und den Voraussetzungen zum Erstellen von Artikeln scheitern. So aber kann man erst einmal Schritt für Schritt sich in die Anlage von Artikeln einlesen und es dann auch - mit dem Buch in der Hand - auch konkret ausprobieren.

Die im ersten Kapitel dargestellte notwendige Neutralität in der Darstellung pflegt Wikipedia im eigenen Falle nicht. Zumindest die Überschriften lesen sich wie Parolen aus der Werbebranche: Wikipedia ist dynamisch *** Wikipedia ist schnell *** Wikipedia ist transparent *** Wikipedia ist kollaborativ *** Wikipedia ist international *** Wikipedia macht Spaß ... Das ist mehr ein Pfeifen im Wald als Realitätsbeschreibung. Etwas weniger Werbesprache wäre hier bei allem Enthusiasmus angebracht gewesen.

Der Rezensent selbst greift nur ab und an in die freie Enzyklopädie ein, etwa wenn sich antijudaistische Formulierungen finden - was ziemlich häufig, wenn auch in der Regel nicht bewusst geschieht. Auf der DVD findet sich etwa die Formulierung alttestamentarisch* noch mehrfach. Und das ausgerechnet bei Artikeln wie "Auge für Auge" oder "Ewiger Jude", aber auch bei "Leges Visigothorum", "Stammbaum Jesu" oder "Wahnsinn". Das analog gebildete "neutestamentarisch" ist ebenfalls mehrfach vertreten. Aber immerhin bietet die online-Version die Möglichkeit, das sofort zu korrigieren.[3] Wie das zu machen ist, schildert das Wikipedia-Buch und zugleich verhilft es dazu, derartige Korrekturen für alle aus einsichtigen Begründungen vorzunehmen.

Insbesondere für Lehrerinnen und Lehrer und Unterrichtende an Universitäten halte ich das Buch für eine empfehlenswerte Anschaffung, insofern sie sich anhand der Lektüre von den Möglichkeiten der Enzyklopädie überzeugen können und zugleich mit den Schülerinnen und Schülern bzw. den Studierenden im Rahmen ihrer Bildungsarbeit an der Weiterentwicklung der Enzyklopädie arbeiten können. Wem bisher die Enzyklopädie und ihre Gestaltung ein virtuelles Buch mit sieben Sigeln war, dem kann das Buch zur Wikipedia weiterhelfen. Zwar wird das Buch auch als PDF-Download angeboten, aber das sollte man nur ergänzend zum Buchkauf nutzen. Es hilft, bestimmte Stichpunkte im Buchtext zu finden (hier zeigt sich der Mangel eines Registers im Buch), aber es ist nicht so lesefreundlich wie dieses.

Das Buch selbst hat einige Redundanzen (etwa zu den Bildrechten), was wohl der Tatsache geschuldet ist, dass es aus verschiedenen Enzyklopädie-Artikeln zusammengestellt wurde. Des öfteren werden auch Dinge vorausgesetzt, die im Buch erst später erläutert werden. Insgesamt handelt es sich aber um eine sehr hilfreiche Einführung in das Wiki-Universum.

In der Zukunft sollen in rascher Folge in der WIKIPRESS-Reihe weitere Bände erscheinen. Angekündigt wurden für die ersten zehn Ausgaben Bücher aus der Wikipedia zu den Themen

  • Färöer
  • Hip Hop
  • Antarktis
  • Robben
  • Sonnensystem
  • Computersicherheit
  • Fahrräder
  • Druckvorstufe
  • Friedensnobelpreis

Die Themenzusammenstellung ist sicher etwas wikipedia-like und gewöhnungsbedürftig. Einige der Bücher werden offenkundig nur publiziert, weil es dazu exzellente Wikipedia-Artikel gibt. Andere - wie der Band zum Hip-Hop - dürften tatsächlich ein absoluter Gewinn auch für den Buchmarkt sein. Was ich in der Liste vermisse, ist ein Buch analog zum guten Wiki-Reader "Internet". Dessen Buchausgabe im WikiPress sollte schnell folgen. Auch das Thema der Religionen ist in der aktuellen Planung der Wikipedia-Buchausgaben unterbelichtet (wie in der wikipedia selbst). Ich wünschte mir ein WikiPress-Buch zum interreligiösen Dialog - aber auch ein Reader zum Thema "Kirchenbau" wäre ein Gewinn.

Anmerkungen
  1. Einen kleinen lustigen Fehler habe ich in der DVD entdeckt: Was immer man in der Bilderrecherche sucht, man stößt immer auf die Abbildung des Guyots. Mir ist nicht erkennbar, warum das so ist
  2. http://www.religio.de/dialog/497/497s23.html
  3. In der Online-Ausgabe sind die entsprechenden Formulierungen inzwischen getilgt und lassen sich nur noch über die Versionshistorie verifizieren.

© Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 39/2006
https://www.theomag.de/39/am174.htm

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