Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips XXIV

ARTE meets BILD

Andreas Mertin

Was immer man unter Sünden und Todsünden verstehen mag, aber das, was der Fernsehsender ARTE Ende des Jahres 2005 unter dem Titel "Die 7 Videosünden" präsentierte, gehörte nicht dazu. Wenn man etwas Sünde nennen will, dann war es die Sendung selbst. Sie war bigott, sensualistisch reißerisch aufgemacht und gleichzeitig nahezu inhaltsleer. Ich habe selten eine Sendung gesehen, die kulturelle Phänomene derartig oberflächlich präsentiert hat. Zudem waren zahlreiche Informationen falsch. Und auch die Clips wurden nicht - anders als vollmundig angekündigt - ungekürzt gesendet, sondern zum Teil geradezu sinnentstellend gekürzt. Die Auswahl der sieben videoästhetischen Todsünden war zudem vollkommen willkürlich und videoästhetisch auch kaum zu begründen. Die gesamte Sendung hatte mehr von der halbnackten Frau auf der Titelseite der Bildzeitung als von irgend etwas anderem.

David Combe und Jean-Marc Barbieux zeichnen für dieses Elaborat verantwortlich, mit dem Arte zum Jahresschluss noch einmal die Stimmung anheizen wollte: "Sie wollen wissen, was Ihnen vorenthalten wird? .... Sieben Videos, die die sieben Todsünden zeigen, die gegen den Urmeter unserer Moral verstoßen. Heute ist der Abend des großen Zitterns. Die Zensurenschere bleibt in der Schublade." Was dann zu sehen war, hatte mit den Todsünden wenig, mit Effekthascherei dafür um so mehr zu tun.

Die Todsünden begannen mit Madonnas umstrittenen, aber insgesamt doch im Vergleich etwa mit "My favorite Game" von den Cardigans harmlosen Clip "What It Feels Like For A Girl". Angeblich repräsentiert er die Todsünde "Zorn". Gedreht Anfang 2001 unter der Regie ihres Ehemannes Guy Ritchie zeigt er Madonna über Geschlechterrollen philosophierend bei einer Auto-Amokfahrt, quasi als Crash-Woman. Das Ganze ist mehr Slapstick als anstößig und nur weil eine beschränkte Medienkontrollbehörde irgendwo auf der Welt an diesem Video Anstoß nahm, muss man es nicht gleich zu den Todsünden zählen. Da hat Madonna wahrlich schon Anderes produziert. Und wenn man "What It Feels Like For A Girl" nimmt, müsste man dann nicht auch erwähnen, dass Guy Ritchie und Madonna direkt anschließend mit dem Werbeclip für den BMW-Star das exakte Gegenmovie zum Musikclip gedreht haben? Sollte man nicht beide Clips im Zusammenhang "lesen"? Beide arbeiten mit Klischees, Slapstick und Übertreibungen. Allerdings ist der BMW-Clip wesentlich besser.

Die zweite Todsünde heißt "Faulheit" und wird durch Rammsteins Video "stripped" repräsentiert. Stripped ist unbestritten skandalös, weil es reflexionslos und unkommentiert Bilder aus Leni Riefenstahls Olympia-Machwerken präsentiert. Ob aber die angebliche Faulheit der Band, eigene Bilder zu präsentieren, schon das Etikett Todsünde verdient? Da wäre die gesamte Medienwelt eine einzige Todsünde. Gezeigt wird das Video darüber hinaus nur in einem kurzen Anspiel; ganz im Gegensatz zur Ankündigung findet hier schon die erste Zensur statt.

Die dritte Todsünde heißt "Wollust" und wird vertreten von "Put me in" von "Add N to X". Thema ist der Sex und das laut der Erläuterung der Kommentarstimme als Hardcore-Version. Was man dann sieht, hat mit Hardcore wenig zu tun, Machart und Inszenierung sind billig und effekthascherisch, das Ganze ist mehr ein "Making of ..." als ein Exempel von Wollust.

Die vierte Todsünde ist der "Neid" und soll durch Robbie Williams "DJ Rock" vertreten werden - warum gerade der Neid, wird nicht verraten. Angeblich - so sagt die Kommentatorenstimme - werde der Clip hier zum ersten Mal ungekürzt im Fernsehen gezeigt. Wann immer der Film "Die 7 Videosünden" gedreht wurde, Robbie Williams Clip ist von Anfang an auch ungekürzt ausgestrahlt worden, wenn auch erst später am Abend. Dieser Clip ist anders als andere der gezeigten Clips videoästhetisch einigermassen auf der Höhe der Zeit, er ist zugegebenermaßen nicht für jeden leicht erträglich, aber eine Sünde ist er nicht. Wie bereits im Magazin für Theologie und Ästhetik besprochen, ordnet er sich bruchlos in die europäische Bildgeschichte ein.

Noch weiter daneben ist die Rubrizierung von Mylène Farmers Clip zu "Je te rends ton amour" unter "Völlerei". Das ist nun absoluter Quatsch. Der Clip ist sicher nach Robbie Williams Clip der zweitbeste in der Auswahl, hoch komplex codiert und intertextuell. Die Sendung bei Arte schneidet aber gleich die gesamte Eingangssequenz und einen knappen Teil des Clipendes weg, so dass ein Verstehen und Deuten des Clips nahezu unmöglich wird. Der "Pas de deux" von "Blindness and Insight", den die Protagonistin in ihrem Erleiden vollzieht, die Doppelung von Braut Christi und Vergewaltigung durch den Priester/Teufel, von gekreuzigtem Christus und gekreuzigter Frau, von geliebter und gehasster Vaterfigur wird so nahezu unverständlich. Das hat der Clip nicht verdient. Soweit ich es sehe, ist er weder theologisch oder religionspädagogisch in Deutschland rezipiert worden. Das sollte schnellstens nachgeholt werden. Die Arbeit an dem Clip ist sicher nicht einfach und wahrscheinlich für manchen auch schmerzhaft. Aber das sollte nicht daran hindern, sich den Bildern und Bild-Metaphern des Clips auszusetzen. Gute Hinweise und weiterführende Informationen finden sich auf der deutschen Mylene-Farmer-Fanseite. Eine ausführlichere Besprechung des Clips soll im nächsten Heft des Magazins für Theologie und Ästhetik erfolgen.

Die sechste Todsünde ist die "Hochmut" und sie ist der Gruppe "The Prodigy" mit ihrem Clip "Babys got a tamper" gewidmet. Was das mit Hochmut zu tun hatte, wird nicht ersichtlich, wahrscheinlich gab es keinen Clip zum Thema. Wenn schon "The Prodigy", dann doch lieber "Smack my bitch up" - da kommt wenigstens der sexistische Hochmut des Betrachters zu Fall.

Die siebte Todsünde "Geiz" wird Lil Jon übergestülpt, weil er für den Clip zu "What U gon' do" auf Dokumentarmaterial aus dem Netz zurückgegriffen hat ohne selbst etwas hinzuzufügen. Warum auch? Die verwendeten Schlaglichter sind aussagekräftig genug. Dass das schon als Todsünde gilt, ist mir neu.

Ergänzt wird schließlich eine achte Todsünde "Zensur", die die Produzenten auf sich selbst beziehen, weil sie diesmal eingestandenermaßen selbst den Clip kürzen. Opfer ihrer Attacke wird "Nine Inch Nails" mit ihrem Clip zu "Happiness in slavery". Die gezeigte bzw. nicht gezeigte Folter mag für viele unerträglich sein, sicher auch nicht sehr geschmackvoll und betrachtenswert, aber wenn es stört, dann sollte man es einfach nicht zeigen. Die kokette Selbstironie der Filmproduzenten ist jedenfalls wenig überzeugend.

Dass somit auch Kultursender wie Arte Schnittstellen mit einem Boulevard-Blatt wie der Bildzeitung haben, ist mehr als bedauerlich.


© Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 39/2006
https://www.theomag.de/39/am175.htm