Religion und Mythologie in der Popkulturam Beispiel von Mylène FarmerAndreas Mertin |
Religion und Moderne in der Popkultur?Dass in der populären Kultur, nicht zuletzt in Videoclips intensiv über Religion nachgedacht wird, ist keine neue Erkenntnis, sondern Teil der Populärkultur seit ihren Anfängen. Im Videoclip wurde seit jeher Religion inszeniert, zelebriert und kritisiert. Von den Jackson 5 mit dem legendären The Triumph / Can you feel it über Madonnas mindestens ebenso berüchtigten Like a prayer bis zum Zombie der Cranberries zieht sich ein Strang der Auseinandersetzung. Dass die Moderne in der populären Kultur und im Videoclip thematisch wird, hat eine mindestens ebenso lange Tradition, denken wir an Elton Johns Rückschau auf die Anfänge des 20. Jahrhunderts in Believe oder Björks post-modernes Versatzstück Bachalorette. Dass Religion und Mythologie im Rahmen einer kritischen Tradition der Moderne seit Baudelaire im Videoclip und in der populären Kultur der Gegenwart reflektiert wird, ist dagegen eher ein Ausnahmefall. Zu diesen Ausnahmefällen gehören die Clips der Franko-Kanadierin Mylène Farmer. Ihr Interesse für die schwarze Romantik, für den Zusammenhang und die Filiationen von Gewalt, Sexualität und Tod bedingt notwendig auch eine Beschäftigung mit religiösen Themen. Wie bei den Künstlern der kulturellen Moderne am Beginn des 20. Jahrhunderts (Pablo Picasso, Luis Buñuel oder Salvador Dali) steht sie in einem kritischen Verhältnis zur (katholischen) Religion. Und wie bei den Künstlern der kulturellen Moderne kommt sie von der Religion nicht los, sondern erprobt sich in einer permanenten Grenzüberschreitung. Vergleichbar vielleicht nur mit der iltalo-amerikanischen Pop-Ikone Madonna übt sie den Pas de deux von Sexualität und Religion, von Tabuverletzung und Wertediskussion. Noch offenherziger als jene (zumindest in den Clips, weniger in der Medienkommunikation), barocker und pathetischer, vor allem aber authentischer im Sinne des existenziellen Einbezugs des eigenen Lebens, beschwört sie die fortdauernde Bedeutung religiöser Fragen im Sinne ihrer Infragestellung. Religion ist für sie keine Vergangenheit, sondern im Fortschreiben dessen, was sich Moderne nennt, eine radikale Herausforderung. Wenn die Rationalität, als instrumentelle Vernunft alles liquidiert, was sich ihrer Logik nicht fügt, dann ist eben nicht nur die Religion, sondern auch die Poesie, die Fantasie und das Gefühl bedroht - worauf nicht zuletzt die Romantik verwiesen hat:
Insofern gehören heute zu den Tradenten der Religion insbesondere die Gebildeten unter ihren Verächtern, insoweit sie den Stachel der religiösen Fragestellung buchstäblich weiter in ihrem Fleisch fühlen. Wer ist Mylène Farmer?Mylène Farmer ist in Deutschland nahezu unbekannt (auch wenn ihre besten "Mylène Farmer (* 12. September 1961 in Pierrefonds, Montréal, Kanada; eigentlich Mylène Gautier) ist eine franko-kanadische Popsängerin. Ihr Künstlername ist eine Hommage an Frances Farmer. Sie ist außerhalb des französischsprachigen Raums kaum bekannt. Sie tritt nur selten in den Medien oder auf öffentlichen Veranstaltungen in Erscheinung. Als drittes von vier Kindern wird sie am 12. September 1961 in Pierrefonds bei Montréal, Kanada geboren. Dort verbringt sie die ersten acht Jahre ihrer Kindheit, weil ihr Vater als Ingenieur an einem großen Staudamm arbeitet. Sie beschreibt diese Zeit als durch Naivität und Geborgenheit geprägt. Die Rückkehr nach Frankreich, insbesondere die Gewöhnung an die hektische Hauptstadt Paris, fällt ihr schwer. Sie leidet neben dem komplizierten Verhältnis zu ihren Eltern, insbesondere ihrem Vater, an einem Mangel an Akzeptanz und Selbstsicherheit. Als Zwölfjährige erhält sie Zugang zur École de Saumur, einer Reitschule bei Paris, an der sie zusätzlich eine Ausbildung zur Volksschullehrerin erhält. Mit 17 Jahren verlässt sie diese Schule, um das Abitur nachzumachen, was sie bereits nach wenigen Tagen zugunsten von Schauspielunterricht abbricht. Um Geld zu verdienen, verkauft sie nebenbei Schuhe, arbeitet als Werbemodel und Arzthelferin. Während dieser Zeit lernt sie im Rahmen eines Castings Laurent Boutonnat kennen, mit dem sie bis heute zusammenarbeitet. Er schreibt nicht nur die Musik für ihre Lieder, während sie meist für den Text verantwortlich ist, sondern hat auch bei einigen Musikvideos Regie geführt. Nach ihrem Debüt mit dem Lied Maman a tort (1984) kam der große Durchbruch mit dem Titel Libertine und ihrem ersten Album Cendres de lune (1986). In den Jahren 1986 bis 1991 reiht sie Erfolg an Erfolg, vor allem mit Sans contrefaçon (Album Ainsi soit-je, 1988) und Désenchantée (Album L’autre, 1991). Bereits ihre zweite Platte, der 1988 erschienene Langspieler Ainsi soit-je …, erreichte Platz 1 der französischen Albumcharts und mit 1,4 Millionen verkauften Exemplaren Diamantstatus. Auch die drei folgenden Alben fanden jeweils mehr als eine Million Abnehmer. 2002 erscheint ihr erstes Best-Of-Album, Les mots. 1992 und 2003 veröffentlichte sie Alben mit Remixes ihrer bekanntesten Titel. Zudem spielte Mylène Farmer in der 1994 aufgeführten Kinoproduktion Giorgino die Hauptrolle (zusammen mit Jeff Dahlgren). Regie führte Laurent Boutonnat. Nach dem Flop von Giorgino kehrte sie 1995 mit dem Album Anamorphosée zurück, mit rockigeren und von elektrischen Musikinstrumenten erzeugten Klängen. 1999 kehrt sie mit Innamoramento zur musikalischen Stimmung ihrer ersten Alben zurück. [...] Mylène Farmer greift in ihren Liedern oft Themen auf, die mit Depression, Tod und Trauer zu tun haben, aber auch mit Religion, Liebe und Gewalt. Die Musikvideos der Sängerin sind besonders sorgfältig produziert und mit einer großen Symbolik aufgeladen. Die Clips von Libertine und Pourvu qu’elles soient douces, beide produziert von Laurent Boutonnat, spielen zur Zeit des Siebenjährigen Krieges. Die Clips von L’âme-stram-gram und California beschäftigen sich mit einer Doppelgänger-Thematik. Farmer fühlt sich sehr verbunden mit Schriftstellern wie Amélie Nothomb, Edgar Allan Poe und Francesco Alberoni. Die Fernsehsender haben bestimmte Clips mit „zu expliziten“ Inhalten zensiert, geschnitten oder gar nicht erst ausgestrahlt. Dies ist etwa der Fall bei Beyond my control, einem Clip, der eine erotische und gewalttätige Liebesszene enthält, in der man die Sängerin buchstäblich ihren Liebhaber angreifen sieht. Im Clip zu Je te rends mon amour, der den Verlust der Liebe thematisiert (zu Gott und/oder den Menschen), kann man sehen, wie die Sängerin in einer Kirchenruine gänzlich unbekleidet in einer Blutlache herumläuft. Im Februar 2005 erscheint die Single Fuck them all, die zahlreiche Fans findet, gefolgt am 4. April vom Album Avant que l’ombre, das sich innerhalb von zwei Wochen 300.000 Mal verkauft." Schon aus dieser Beschreibung wird deutlich, dass offenkundig die theo-ästhetische Auseinandersetzung mit ihr lohnenswert ist. Weitere Informationen über die Künstlerin bietet die französischsprachige Website
Die
Viele diese "Inspirationen" sind auch mehr oder weniger direkt im Oeuvre von Mylène Farmer wahrzunehmen., von direkten Zitaten aus den Werken und bildlichen Anspielungen (z.B. der Rabe) bis hin zu Stimmungen und Atmosphären. Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf Clips, die Mylène Farmer auf ihrer DVD
Wer sich mit der Bedeutung Mylène Farmers in Frankreich auseinandersetzen und sich diese Bedeutung atmosphärisch vermitteln lassen will, sollte mit dem zehnten Clip auf der DVD einsteigen: mit dem unter der Regie von François Hanss realisierten Innamoramento. Eigentlich verdient diese Inszenierung nicht das Wort Videoclip, es ist eine Konzertverfilmung mit eingeschobenen Backfischbildern der Künstlerin vor Naturmotiven. Was den - videoästhetisch betrachtet eigentlich gescheiterten - Clip dennoch atmosphärisch dicht und damit gut macht, ist die eingefangene Beziehung von Inszenierung, Superstar und Publikum. Das Stück handelt vom Prozess des sich Verliebens und vom Verliebtsein, der italienische Titel Innamoramento ist nicht zuletzt auch eine psychologische Kategorie. Beeindruckend die ins Erhabene zielende Bühnendekoration, interessant, wie das Publikum bei diesem Lied, seiner Pathetik und gleichzeitigen Trivialität mitgeht. Die erste Figur im ersten Clip Que mon coeur lache ist ausgerechnet Gottvater selbst (ein älterer Brite, der die Times liest), sein erstes Wort "Jesus Christ" (gesprochen wie das umgangssprachliche "Mein Gott" - was Jesus selbst nicht sofort begreift), der Gegenstand seiner Betrachtung der menschliche Umgang mit der Liebe. Wie heißt es schon im Johannesevangelium: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort ... Und das Wort ward Fleisch. Es ist eine gehöriges Stück Humor, mit dem der Clip einsteigt. Nach einer gewissen Beobachtungszeit begreift der weiße Engel das Prinzip des Wächters der anderen Welt (der Heterotopie aller bürgerlichen Welten) und konvertiert zum schwarzen Engel, der prompt eingelassen wird. Aber was erwartet einen im begehrten Reich Jenseits von Eden? Im Reich der schrankenlosen und entfesselten Triebe? Eine schreckliche Wahrheit, die dem Leitspruch von Dantes Hölle nahekommt: Lasst, die ihr eingeht jede Hoffnung fahren. Zwischen Wunsch und Erfüllung hat sich ein Realitätsbruch, ein Plastik-Universum geschoben, die unmittelbare Befriedigung ist aufgehoben. Wo es zur Sache geht, schieben sich die Sachen zwischen die Menschen. Les temps sont amour plastique. Was bleibt zur Befriedigung, ist auch hier nur die Simulation, ist die Sauerstoffkur "Liebe", die imaginierte und virtualisierte Erotik. Im Zeichen von AIDS ist nichts mehr so normal, wie es einmal war (aber wann war es das schon?). Genau davon handelt der Liedtext: Toi entre nous / Caoutchouc / Tu t'insinues / Dans nos amours / C'est pas facile / Le plaisir / Apprivoiser / Ton corps glacé. Da kann man sich schon fragen, welcher böse Engel das bewirkt hat und welcher Engel die Trennung aufheben bzw. das Plastik / die Trennung verschwinden lassen kann. Die gängigen Der dritte Clip auf der DVD, L'instant X, 1995 unter der Regie von Marcus Nispel realisiert, ist ähnlich apokalyptisch zugespitzt und von zugleich ähnlicher Ambiguität. Wir sehen gleich am Anfang Schaum über ein Paar verlassene Schuhe rauschen, ahnen aber noch nicht, dass dieser Schaum im Verlaufe des Clips die Welt überschwemmen wird. Er quillt durch die Ritzen der Wohnungen, füllt die Flüsse und Ozeane und bedeckt die Wolkenkratzer. Er dringt durch die Kanalisation ins Privateste, er rinnt von oben die Skyline herab, bis er alles und jeden verschlingt. Mais qu'est ce qui / Nous englue la planète / Et embrume m'a comète? Die Mythologie hat gewechselt, die Kontamination mit der Religion bleibt. Nun sind wir in der griechischen Götterwelt gelandet, genauer: bei der Theogonie nach Hesiod. Mylène Farmer verweist im Liedtext selbst auf den Das Motiv des Doubles, des Wieder- oder Doppelgängers durchzieht das Werk von Mylène Farmer. Selbst dort, wo es nicht explizit wird, trifft man das Motiv an: in der Spaltung derselben Figur in Gut und Böse, Weiß und Schwarz, Kind und Frau, Hure und Heilige usw. Im Clip California, 1996 unter der Regie Abel Ferrara realisiert, wird das ganz besonders deutlich. Der Clip erzählt eine sich kreuzende Parallelgeschichte zweier Frauen (gespielt von Mylène Farmer) und zweier Männer (gespielt von Giancarlo Esposito). Wir sehen zunächst ein elegantes Paar bei der Vorbereitung des abendlichen Ausgangs zu einem Empfang. Es ist keine durchweg idyllische Szene, man schlägt sich, man verträgt sich, man liebt sich. Danach die parallele Szene mit einem etwas schrägen Paar bei der Vorbereitung auf den abendlichen Straßenstrich. Die Handlung ist nahezu identisch, nur der Kontext ist ein anderer. Das noble Paar fährt dann zum Empfang, wobei es am Straßenstrich vorbei kommt. Die beiden Frauen sehen sich an, erkennen sich als Doubles, als Doppelgänger. Während der Zuhälter seine Frau wegen geschäftlicher Inaktivität mit einem Messer bedroht, möchte die noble Frau aus dem Wagen aussteigen und wird von ihrem Partner daran gehindert. Auf dem Empfang kümmern sich alle um den Mann, während sich die Frau vernachlässigt fühlt. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Plötzlich geht die noble Frau auf die Toilette und macht sich als Prostituierte zurecht. Als sie am Straßenstrich eintrifft, ist ihr Double/ihre Doppelgängerin tot - erstochen vermutlich von ihrem Zuhälter. Nun steht die noble Frau an ihrer Stelle und wird vom Zuhälter mitgenommen. Im Hotelzimmer ersticht sie dann den Zuhälter (vermutlich stellvertretend für alle Männer). Der Clip arbeitet auf mehreren Ebenen. Zum einen zeigt er, dass unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse keinesfalls unterschiedliches subjektives Erleben bedingt. Darin zeigt er Kehr-Seiten des Lebens, die trotz aller Differenz nahe beieinander liegen. Zum zweiten greift er ein Motiv aus, das aus Luis Buñuels Belles du jour vertraut ist: von der schönen, gesellschaftlich anerkannten Frau die zur Prostituierten wird. Und schließlich thematisiert der Clip das Thema des Doppelgängers schlechthin: „Der Doppelgänger macht das Original sich selbst unähnlich, ent-stellt es, versetzt in Bewegung und beunruhigt“ [Sarah Kofman, Melancholie der Kunst, S. 17]. Was wäre, wenn man einem zweiten Ich begegnen würde, dass ganz vertraut und zugleich ganz anders wäre? Der fünfte Clip auf der DVD Comme j'ai mal, 1996 unter der Regie von Marcus Nispel entstanden, ist nicht nur textlich von einer geradezu depressiven Grundstruktur. Rein optisch äußert sich das schon darin, dass der Clip weitgehend im Dunklen verharrt. Wir sehen im Wechsel eine Frau im intimen Gespräch mit einer Gottesanbeterin und ein Kind mit krabbelnden so genannten Offensichtlich ist die Eingangsszene zugleich die Schlüsselszene. Weniger für das Geschehen im Clip, das einigermaßen dunkel bleibt, als vielmehr im Blick auf den Liedtext. Dieser handelt vom Verlassen des Ich und vom Aufbrechen, vom reflexhaften Erstarren und vom Loslassen des Anderen, bevor man ihn mit der Liebe verzehrt. Das mythologische Motiv der männerverzehrenden Gottesanbeterin - volkstümlich verwandt mit dem Motiv der männerverzehrenden schwarzen Witwe - wird hier nur angedeutet, als Möglichkeit, nicht als realisiertes Geschehen. Auch dieser Clip bewegt sich im Raum der Mythologie, was spätestens dann deutlich wird, wenn wir der Spur der Der 1999 wiederum unter der Regie von Marcus Nispel realisierte Clip zu Souviens-toi du jour ist von einer merkwürdigen Ambivalenz getragen. Thematik und Inszenierung klappen weit auseinander. Auf der Ebene des Liedtextes geht es u.a. um das Scheitern und Gelingen von Liebe in einer sich verändernden Welt. Zugleich geht es aber auch in der Wortwahl und den Anspielungen um den Holocaust, um die Veränderung der Welt durch den Nationalsozialismus und den Faschismus.
Trotzdem ergibt sich aus dem Ganzen keine stimmige Aussage. Das liegt nicht zuletzt am Stil von Mylène Farmer, der alle ihre Clips trägt, und der die Künstlerin konsequent als Akteurin in den Vordergrund stellt. Was in den melancholisch-existentiell angehauchten Clips noch funktionieren mag, muss bei komplexen Themen wie der Erinnerung an Auschwitz notwendig scheitern. Selbstverständlich ist es möglich, eine Liebes- und Beziehungsgeschichte mit der Geschichte des Holocaust zu verknüpfen - viele Betroffene und Nichtbetroffene haben das gemacht ( Der Clip zu Optimistique-moi im Jahr 2000 unter der Regie von Michael Haussmann realisiert, ist in einem mehrfachen Sinne eine Gratwanderung. Inhaltlich beschreibt er auf der metaphorischen Ebene die Fragilität der menschlichen Existenz, vergleichbar mit einem fragilen Drahtseilakt, immer gefährdet, immer auf Balance bedacht. Die Zirkusarena, so heißt es, sei die perfekte Metapher für das Leben, für Träume, Illusion, Krankheit, Liebe und Tod. Die Metapher fragt nach den erlebten, erlittenen Verletzungen, Einengungen auch in uns, nach jenen geschlechtsspezifischen Verwundungen, die jeder einzelne an sich erfährt. Ausdrucksstark verkörpert Mylène Farmer im Clip die Ängste dieses Prozesses, schauspielerisch ist es eine beeindruckende Leistung. Ingmar Bergmann hat in seinem Stück "Abend der Gaukler" den Zirkus als exemplarischen Ort künstlerischer Existenz gewählt. Was in diesem Clip nicht gelingt bzw. dem Wishfull thinking geopfert wird, ist der Schluss. Am Ende entkommt die Protagonistin der bedrängenden und gefährdeten Existenz via Zaubertrick. Das ist genauso billig wie das Ende der Truman-Show. Als ob man seiner Existenz auf diese Weise entkommen könnte. Dieser (faule) Zauber schützt nicht davor, sein Leben mit allen Widerfahrnissen und Kränkungen leben zu müssen. You can’t cross the border! Aber dennoch gilt natürlich: Alle Gefühle hoffen auf einen guten Ausgang [Alexander Kluge]. Ohne den Schluss hätte der Clip gut sein können, hätte er eine Metapher (vom Leben als Drahtseilakt und Zirkus in einem) existentiell zuspitzen können. So aber schließt er im Rosemunde-Pilcher-Stil oder sagen wir es präziser mit den falschen Worten im falschen Leben von Nina Ruge: Alles wird gut. Diesen Schluss hat aber eine schwarze Romantikerin wie Mylène Farmer nicht verdient. Von den verbleibenden drei Clips finde ich zwei nicht besonders besprechenswert (XXL, eine in Schwarz-Weiß gehaltene Eisenbahnfahrt, und L'ame-stram-gram, das noch einmal die Doppelgängerthematik im asiatischen Kampfstil aufgreift). Der dritte ausstehenden Clip Je te rends ton amour wird separat in einer Einzeluntersuchung erschlossen und besprochen. Insgesamt fällt die Tendenz zur cineastischen Konzeption der Videoclips von Mylène Farmer auf. Das wird von den Fans auch enthusiastisch goutiert. Trotzdem wirkt es so, als schiele der Clip immer aufs Kino, was ihm allerdings in der Regel nicht bekommt. Bei aller Verwandtschaft ist der Videoclip auch ein vom Kino differentes Medium mit eigener Sprache. Dass der Videoclip gegenüber dem Kinofilm auch das experimentellere und attraktivere Medium sein könnte (was für die Zeit zwischen 1988 und 2000 ja durchaus zutrifft), wird in den hier betrachteten Clips nicht deutlich. Mylène Farmer und die von ihr beauftragten Regisseure stellen uns Videoclips als Kleinstform des Kinofilms vor. Das Genre hätte mehr zu bieten. Insofern teile ich nicht das Lob mancher, die diese Clips vor den anderen aus Amerika oder Großbritannien wegen ihrer cinneastischen Gestaltung auszeichnen. Andererseits sind die betrachteten Clips atmosphärisch "dicht", sie fassen Stimmungen brillant ein. Nahezu jeder Clip von Mylène Farmer ist metaphorisch. Und wie im richtigen Leben gelingt nicht jede Metapher. Das sollte aber nicht davon ablenken, dass sie in einer Zeit, in der die Fragen der Freiheit des Individuums, seiner sexuellen wie politischen Autonomie auf ein Minimum reduziert sind, konsequent den Finger auf die Wunde legt, die menschliches Existenz heißt. |