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Magazin für Theologie und Ästhetik


Religion und Mythologie in der Popkultur

am Beispiel von Mylène Farmer

Andreas Mertin

Religion und Moderne in der Popkultur?

Dass in der populären Kultur, nicht zuletzt in Videoclips intensiv über Religion nachgedacht wird, ist keine neue Erkenntnis, sondern Teil der Populärkultur seit ihren Anfängen. Im Videoclip wurde seit jeher Religion inszeniert, zelebriert und kritisiert. Von den Jackson 5 mit dem legendären The Triumph / Can you feel it über Madonnas mindestens ebenso berüchtigten Like a prayer bis zum Zombie der Cranberries zieht sich ein Strang der Auseinandersetzung. Dass die Moderne in der populären Kultur und im Videoclip thematisch wird, hat eine mindestens ebenso lange Tradition, denken wir an Elton Johns Rückschau auf die Anfänge des 20. Jahrhunderts in Believe oder Björks post-modernes Versatzstück Bachalorette. Dass Religion und Mythologie im Rahmen einer kritischen Tradition der Moderne seit Baudelaire im Videoclip und in der populären Kultur der Gegenwart reflektiert wird, ist dagegen eher ein Ausnahmefall. Zu diesen Ausnahmefällen gehören die Clips der Franko-Kanadierin Mylène Farmer. Ihr Interesse für die schwarze Romantik, für den Zusammenhang und die Filiationen von Gewalt, Sexualität und Tod bedingt notwendig auch eine Beschäftigung mit religiösen Themen. Wie bei den Künstlern der kulturellen Moderne am Beginn des 20. Jahrhunderts (Pablo Picasso, Luis Buñuel oder Salvador Dali) steht sie in einem kritischen Verhältnis zur (katholischen) Religion. Und wie bei den Künstlern der kulturellen Moderne kommt sie von der Religion nicht los, sondern erprobt sich in einer permanenten Grenzüberschreitung. Vergleichbar vielleicht nur mit der iltalo-amerikanischen Pop-Ikone Madonna übt sie den Pas de deux von Sexualität und Religion, von Tabuverletzung und Wertediskussion. Noch offenherziger als jene (zumindest in den Clips, weniger in der Medienkommunikation), barocker und pathetischer, vor allem aber authentischer im Sinne des existenziellen Einbezugs des eigenen Lebens, beschwört sie die fortdauernde Bedeutung religiöser Fragen im Sinne ihrer Infragestellung. Religion ist für sie keine Vergangenheit, sondern im Fortschreiben dessen, was sich Moderne nennt, eine radikale Herausforderung. Wenn die Rationalität, als instrumentelle Vernunft alles liquidiert, was sich ihrer Logik nicht fügt, dann ist eben nicht nur die Religion, sondern auch die Poesie, die Fantasie und das Gefühl bedroht - worauf nicht zuletzt die Romantik verwiesen hat:

Novalis - Friedrich von Hardenberg"Das Resultat der modernen Denkungsart nannte man Philosophie und rechnete alles dazu was dem Alten entgegen war, vorzüglich also jeden Einfall gegen die Religion [...] Noch mehr – der Religions-Haß, dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Noth oben an, und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey. [...] Frankreich war so glücklich der Schooß und der Sitz dieses neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wissen zusammen geklebt war. So verschrien die Poesie in dieser neuen Kirche war, so gab es doch einige Poeten darunter, die des Effekts wegen, noch des alten Schmucks und der alten Lichter sich bedienten, aber dabei in Gefahr kamen, das neue Weltsystem mit altem Feuer zu entzünden. Klügere Mitglieder wußten jedoch die schon warmgewordenen Zuhörer sogleich wieder mit kaltem Wasser zu begießen. Die Mitglieder waren rastlos beschäftigt, die Natur, den Erdboden, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, – jede Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhebende Vorfälle und Menschen durch Sarkasmen zu verleiden, und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Das Licht war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden. Sie freuten sich, daß es sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft, Aufklärung." [Novalis, Die Christenheit oder Europa]

Insofern gehören heute zu den Tradenten der Religion insbesondere die Gebildeten unter ihren Verächtern, insoweit sie den Stachel der religiösen Fragestellung buchstäblich weiter in ihrem Fleisch fühlen.


Wer ist Mylène Farmer?

Mylène Farmer ist in Deutschland nahezu unbekannt (auch wenn ihre besten Fanseiten deutschsprachig sind). Zur Künstlerin schreibt die freie Enzyklopädie Wikipedia:

"Mylène Farmer (* 12. September 1961 in Pierrefonds, Montréal, Kanada; eigentlich Mylène Gautier) ist eine franko-kanadische Popsängerin. Ihr Künstlername ist eine Hommage an Frances Farmer. Sie ist außerhalb des französischsprachigen Raums kaum bekannt. Sie tritt nur selten in den Medien oder auf öffentlichen Veranstaltungen in Erscheinung. Als drittes von vier Kindern wird sie am 12. September 1961 in Pierrefonds bei Montréal, Kanada geboren. Dort verbringt sie die ersten acht Jahre ihrer Kindheit, weil ihr Vater als Ingenieur an einem großen Staudamm arbeitet. Sie beschreibt diese Zeit als durch Naivität und Geborgenheit geprägt. Die Rückkehr nach Frankreich, insbesondere die Gewöhnung an die hektische Hauptstadt Paris, fällt ihr schwer. Sie leidet neben dem komplizierten Verhältnis zu ihren Eltern, insbesondere ihrem Vater, an einem Mangel an Akzeptanz und Selbstsicherheit. Als Zwölfjährige erhält sie Zugang zur École de Saumur, einer Reitschule bei Paris, an der sie zusätzlich eine Ausbildung zur Volksschullehrerin erhält. Mit 17 Jahren verlässt sie diese Schule, um das Abitur nachzumachen, was sie bereits nach wenigen Tagen zugunsten von Schauspielunterricht abbricht. Um Geld zu verdienen, verkauft sie nebenbei Schuhe, arbeitet als Werbemodel und Arzthelferin. Während dieser Zeit lernt sie im Rahmen eines Castings Laurent Boutonnat kennen, mit dem sie bis heute zusammenarbeitet. Er schreibt nicht nur die Musik für ihre Lieder, während sie meist für den Text verantwortlich ist, sondern hat auch bei einigen Musikvideos Regie geführt.

Nach ihrem Debüt mit dem Lied Maman a tort (1984) kam der große Durchbruch mit dem Titel Libertine und ihrem ersten Album Cendres de lune (1986). In den Jahren 1986 bis 1991 reiht sie Erfolg an Erfolg, vor allem mit Sans contrefaçon (Album Ainsi soit-je, 1988) und Désenchantée (Album L’autre, 1991). Bereits ihre zweite Platte, der 1988 erschienene Langspieler Ainsi soit-je …, erreichte Platz 1 der französischen Albumcharts und mit 1,4 Millionen verkauften Exemplaren Diamantstatus. Auch die drei folgenden Alben fanden jeweils mehr als eine Million Abnehmer. 2002 erscheint ihr erstes Best-Of-Album, Les mots. 1992 und 2003 veröffentlichte sie Alben mit Remixes ihrer bekanntesten Titel. Zudem spielte Mylène Farmer in der 1994 aufgeführten Kinoproduktion Giorgino die Hauptrolle (zusammen mit Jeff Dahlgren). Regie führte Laurent Boutonnat. Nach dem Flop von Giorgino kehrte sie 1995 mit dem Album Anamorphosée zurück, mit rockigeren und von elektrischen Musikinstrumenten erzeugten Klängen. 1999 kehrt sie mit Innamoramento zur musikalischen Stimmung ihrer ersten Alben zurück. [...] Mylène Farmer greift in ihren Liedern oft Themen auf, die mit Depression, Tod und Trauer zu tun haben, aber auch mit Religion, Liebe und Gewalt. Die Musikvideos der Sängerin sind besonders sorgfältig produziert und mit einer großen Symbolik aufgeladen. Die Clips von Libertine und Pourvu qu’elles soient douces, beide produziert von Laurent Boutonnat, spielen zur Zeit des Siebenjährigen Krieges. Die Clips von L’âme-stram-gram und California beschäftigen sich mit einer Doppelgänger-Thematik. Farmer fühlt sich sehr verbunden mit Schriftstellern wie Amélie Nothomb, Edgar Allan Poe und Francesco Alberoni. Die Fernsehsender haben bestimmte Clips mit „zu expliziten“ Inhalten zensiert, geschnitten oder gar nicht erst ausgestrahlt. Dies ist etwa der Fall bei Beyond my control, einem Clip, der eine erotische und gewalttätige Liebesszene enthält, in der man die Sängerin buchstäblich ihren Liebhaber angreifen sieht. Im Clip zu Je te rends mon amour, der den Verlust der Liebe thematisiert (zu Gott und/oder den Menschen), kann man sehen, wie die Sängerin in einer Kirchenruine gänzlich unbekleidet in einer Blutlache herumläuft. Im Februar 2005 erscheint die Single Fuck them all, die zahlreiche Fans findet, gefolgt am 4. April vom Album Avant que l’ombre, das sich innerhalb von zwei Wochen 300.000 Mal verkauft."

Schon aus dieser Beschreibung wird deutlich, dass offenkundig die theo-ästhetische Auseinandersetzung mit ihr lohnenswert ist. Weitere Informationen über die Künstlerin bietet die französischsprachige Website optimistique, die unter dem Stichwort Inspirationen auch die von Mylène Farmer selbst referenzierten Einflüsse aufzählt. Dazu gehören u.a.

  • Frances Farmer, eine Schauspielerin, nach der die Sängerin sich benannt hat (obwohl ihr richtiger Name Gautier heute sicher auch zugkräftig wäre)
  • Der 1970 erschienene Film Ryans Tochter, eine Liebesgeschichte
  • Der 1956 realisierte Film Baby Doll unter der Regie von Elia Kazan nach dem Buch von Tennessee Williams
  • Der 1975 unter der Regie von Stanly Kubrick produzierte Film Barry Lyndon
  • Madame X, 1966 unter der Regie von David Lowell Rich entstanden, mit Lana Turner in der Hauptrolle.
  • Egon Schiele (1890-1918), den österreichischen expressionistischen Maler der Wiener Moderne
  • Hans Ruedi (HR) Giger, Schweizer Maler, der insbesondere durch seine Ausstattung des Films Alien I bekannt wurde
  • Die Jazzsängerin Marie France
  • literarisch Paul Verlaine (1844-1896), Primo Levi (1919-1987), Marquis de Sade (1740-1814), Guillaume Apollinaire (1880-1918), Alfred de Vigny (1797-1863), Sogyal Rinpoché (*1948) und Pierre Reverdy (1889-1960).

Die deutschsprachige Fansite nennt als weitere Inspirationen:

Viele diese "Inspirationen" sind auch mehr oder weniger direkt im Oeuvre von Mylène Farmer wahrzunehmen., von direkten Zitaten aus den Werken und bildlichen Anspielungen (z.B. der Rabe) bis hin zu Stimmungen und Atmosphären.


Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf Clips, die Mylène Farmer auf ihrer DVD "Music Videos II & III" versammelt hat. Dies sind:

  1. QUE MON COEUR LACHE (1992; Regie Luc Besson)
  2. XXL (1995; Regie Marcus Nispel)
  3. L'INSTANT X (1995; Regie Marcus Nispel)
  4. CALIFORNIA (1996; Regie Abel Ferrara)
  5. COMME J'AI MAL (1996; Regie Marcus Nispel)
  6. L'AME-STRAM-GRAM (1999; Regie Ching Siu Tung)
  7. JE TE RENDS TON AMOUR (1999; Regie François Hanss)
  8. SOUVIENS-TOI DU JOUR (1999; Regie Marcus Nispel)
  9. OPTIMISTIQUE-MOI (2000; Regie Michael Haussmann)
  10. INNAMORAMENTO (2000; Regie François Hanss)

Wer sich mit der Bedeutung Mylène Farmers in Frankreich auseinandersetzen und sich diese Bedeutung atmosphärisch vermitteln lassen will, sollte mit dem zehnten Clip auf der DVD einsteigen: mit dem unter der Regie von François Hanss realisierten Innamoramento. Eigentlich verdient diese Inszenierung nicht das Wort Videoclip, es ist eine Konzertverfilmung mit eingeschobenen Backfischbildern der Künstlerin vor Naturmotiven. Was den - videoästhetisch betrachtet eigentlich gescheiterten - Clip dennoch atmosphärisch dicht und damit gut macht, ist die eingefangene Beziehung von Inszenierung, Superstar und Publikum. Das Stück handelt vom Prozess des sich Verliebens und vom Verliebtsein, der italienische Titel Innamoramento ist nicht zuletzt auch eine psychologische Kategorie. Beeindruckend die ins Erhabene zielende Bühnendekoration, interessant, wie das Publikum bei diesem Lied, seiner Pathetik und gleichzeitigen Trivialität mitgeht.


Die erste Figur im ersten Clip Que mon coeur lache ist ausgerechnet Gottvater selbst (ein älterer Brite, der die Times liest), sein erstes Wort "Jesus Christ" (gesprochen wie das umgangssprachliche "Mein Gott" - was Jesus selbst nicht sofort begreift), der Gegenstand seiner Betrachtung der menschliche Umgang mit der Liebe. Wie heißt es schon im Johannesevangelium: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort ... Und das Wort ward Fleisch. Es ist eine gehöriges Stück Humor, mit dem der Clip einsteigt. Luc Besson, der Regisseur des Clips, zeichnet auch für bekannte Filme wie Im Rausch der Tiefe, Nikita, Leon - Der Profi, Das fünfte Element und Jeanne d'Arc verantwortlich. Seine Handschrift ist im Clip unverkennbar. Da Gott Jesus nicht mit noch einer Erdenmission betrauen möchte (schon die erste war ein Desaster), beauftragt er nun seinen besten Engel (die Walkman hörende Mylène Farmer) damit, in Sachen Liebe dem merkwürdigen Treiben der Menschen auf der Erde nachzuspüren. Die Welt, auf die sie dann trifft, ist eine zweigeteilte und zwar weniger im Sinne von gut und böse, als vielmehr von langweilig/trivial/bigott/aseptisch einerseits und interessant/begehrenswert/faszinierend andererseits. Zwischen beiden Welten steht in einer Inversion der Paradieserzählung der Torwächter, der nicht jeden, sondern nur bestimmte Menschen durchlässt. Die schwarz gekleideten Gefallenen, die Outsider und Schrägen bekommen Zutritt, den Langeweilern, den Normalos und Spießbürgern wird er verwehrt. Was ihnen bleibt, ist die Sauerstoffkur "Liebe", die imaginierte und virtualisierte Erotik, der die Triebe sublimierende Traum vom idealen Körper, der gleichzeitig der technisch perfekt beherrschte Körper ist (ironisch im Clip durch Michael Jackson repräsentiert, der kurz darauf vom Kreuz Christi erschlagen wird).

Nach einer gewissen Beobachtungszeit begreift der weiße Engel das Prinzip des Wächters der anderen Welt (der Heterotopie aller bürgerlichen Welten) und konvertiert zum schwarzen Engel, der prompt eingelassen wird. Aber was erwartet einen im begehrten Reich Jenseits von Eden? Im Reich der schrankenlosen und entfesselten Triebe? Eine schreckliche Wahrheit, die dem Leitspruch von Dantes Hölle nahekommt: Lasst, die ihr eingeht jede Hoffnung fahren. Zwischen Wunsch und Erfüllung hat sich ein Realitätsbruch, ein Plastik-Universum geschoben, die unmittelbare Befriedigung ist aufgehoben. Wo es zur Sache geht, schieben sich die Sachen zwischen die Menschen. Les temps sont amour plastique. Was bleibt zur Befriedigung, ist auch hier nur die Simulation, ist die Sauerstoffkur "Liebe", die imaginierte und virtualisierte Erotik. Im Zeichen von AIDS ist nichts mehr so normal, wie es einmal war (aber wann war es das schon?). Genau davon handelt der Liedtext: Toi entre nous / Caoutchouc / Tu t'insinues / Dans nos amours / C'est pas facile / Le plaisir / Apprivoiser / Ton corps glacé. Da kann man sich schon fragen, welcher böse Engel das bewirkt hat und welcher Engel die Trennung aufheben bzw. das Plastik / die Trennung verschwinden lassen kann.

Die gängigen Deutungen im Internet werten den Clip als Kritik an der Haltung der katholischen Kirche in Fragen der Sexualität. Abgesehen vom ironischen Einstieg gibt es dafür keine Argumente. Schließlich ist es auf der Ebene der ironischen Rahmengeschichte Gottvater selbst, der mit der Liebe auf Erden nicht einverstanden ist und deshalb seinen Engel losschickt. Was Mylène Farmer mit der katholischen Kirche eint, ist die Überzeugung: Les temps sont amour plastique. Ihr Dissenz besteht bezüglich der Grenzen und Formen der Liebe. Was sie ebenfalls eint, ist ihre artikulierte Non-Konformität gegenüber einem Zeitgeist, der die Ratio in Fragen der Liebe und der Sexualität als letztes Argument ansieht. Was sie trennt, ist die Haltung zur Ambiguität, zur Offenheit der (körperlichen) Wahrheit. Hier ist Mylène Farmers Haltung überzeugender und authentischer, zumindest aber: diskutabler.


Der dritte Clip auf der DVD, L'instant X, 1995 unter der Regie von Marcus Nispel realisiert, ist ähnlich apokalyptisch zugespitzt und von zugleich ähnlicher Ambiguität. Wir sehen gleich am Anfang Schaum über ein Paar verlassene Schuhe rauschen, ahnen aber noch nicht, dass dieser Schaum im Verlaufe des Clips die Welt überschwemmen wird. Er quillt durch die Ritzen der Wohnungen, füllt die Flüsse und Ozeane und bedeckt die Wolkenkratzer. Er dringt durch die Kanalisation ins Privateste, er rinnt von oben die Skyline herab, bis er alles und jeden verschlingt. Mais qu'est ce qui / Nous englue la planète / Et embrume m'a comète? Die Mythologie hat gewechselt, die Kontamination mit der Religion bleibt. Nun sind wir in der griechischen Götterwelt gelandet, genauer: bei der Theogonie nach Hesiod. Mylène Farmer verweist im Liedtext selbst auf den Styx, den Fluss des Hasses, der die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich Hades darstellt. Ein Fluss, der sowohl unverwundbar macht (Achilles) wie giftig ist (Alexander). Naheliegend aber auch durch die Form der Inszenierung, bei der im Schaum allein Mylène Farmer Halt gewinnt, ist die Verknüpfung mit Aphrodite, die nach Hesiod aus dem Samen des abgeschnittenen Glieds des Uranos in Verbindung mit dem Meer entstand. "Aber die Scham, sobald er einmal mit dem Stahle sie abschnitt, und vom Strande des Meers in die rauschenden Fluten hineinwarf, ward gar lange getragen vom Wasser, und ringsum erhob sich Weisslicher Schaum vom unsterblichen Glied: doch drinnen ein Mägdlein aufwuchs: ... Aphrodite - Schaumgeborene Göttin". In der nordeuropäischen Mythologie ist es das Schicksal der Meerjungfrauen, zum seelenlosen Schaum auf dem Meer zu werden: Wir können dreihundert Jahre alt werden, aber wenn wir dann aufhören zu sein, so werden wir in Schaum auf dem Wasser verwandelt [...] Wir haben keine unsterbliche Seele, wir erhalten nie wieder Leben. [Andersen: Die kleine Seejungfrau] Mylène Farmers Lied selbst bleibt mehr bei der Styx, der Umnebelung unseres Planeten, der apokalyptischen Zuspitzung, dem Moment X, in dem alles auf dem Spiel steht. Das ist zugleich höchst romantisch: "Aufbraut der Nebel um den Gletschern, – Wolken / Ziehn kraus und schnell zur Höhe, weiß und schweflig, / Wie Schaum vom aufgepeitschten Meer der Hölle, / Deß Flut an ein lebendig Ufer brandet, – / Statt Kies verdammte Köpf', – ich werde schwindlig heißt es bei Byron, den Mylène Farmer sicher auch zu ihren Inspirationen zählen dürfte: Byrons Werke, die der englischen Spätromantik (sog. Schwarze Romantik oder Negative Romantik) zuzuordnen sind, sind geprägt von Ablehnung gegenüber althergebrachten Strukturen; seine Helden sind, vielleicht als Projektion oder Inszenierung seiner selbst, intelligent, mutig und leidenschaftlich, jedoch gleichermaßen rastlos, verletzlich und einsam, so dass ihnen letztlich Zufriedenheit und Glück versagt bleiben. [ wikipedia]


Das Motiv des Doubles, des Wieder- oder Doppelgängers durchzieht das Werk von Mylène Farmer. Selbst dort, wo es nicht explizit wird, trifft man das Motiv an: in der Spaltung derselben Figur in Gut und Böse, Weiß und Schwarz, Kind und Frau, Hure und Heilige usw. Im Clip California, 1996 unter der Regie Abel Ferrara realisiert, wird das ganz besonders deutlich. Der Clip erzählt eine sich kreuzende Parallelgeschichte zweier Frauen (gespielt von Mylène Farmer) und zweier Männer (gespielt von Giancarlo Esposito). Wir sehen zunächst ein elegantes Paar bei der Vorbereitung des abendlichen Ausgangs zu einem Empfang. Es ist keine durchweg idyllische Szene, man schlägt sich, man verträgt sich, man liebt sich. Danach die parallele Szene mit einem etwas schrägen Paar bei der Vorbereitung auf den abendlichen Straßenstrich. Die Handlung ist nahezu identisch, nur der Kontext ist ein anderer. Das noble Paar fährt dann zum Empfang, wobei es am Straßenstrich vorbei kommt. Die beiden Frauen sehen sich an, erkennen sich als Doubles, als Doppelgänger. Während der Zuhälter seine Frau wegen geschäftlicher Inaktivität mit einem Messer bedroht, möchte die noble Frau aus dem Wagen aussteigen und wird von ihrem Partner daran gehindert. Auf dem Empfang kümmern sich alle um den Mann, während sich die Frau vernachlässigt fühlt. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Plötzlich geht die noble Frau auf die Toilette und macht sich als Prostituierte zurecht. Als sie am Straßenstrich eintrifft, ist ihr Double/ihre Doppelgängerin tot - erstochen vermutlich von ihrem Zuhälter. Nun steht die noble Frau an ihrer Stelle und wird vom Zuhälter mitgenommen. Im Hotelzimmer ersticht sie dann den Zuhälter (vermutlich stellvertretend für alle Männer). Der Clip arbeitet auf mehreren Ebenen. Zum einen zeigt er, dass unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse keinesfalls unterschiedliches subjektives Erleben bedingt. Darin zeigt er Kehr-Seiten des Lebens, die trotz aller Differenz nahe beieinander liegen. Zum zweiten greift er ein Motiv aus, das aus Luis Buñuels Belles du jour vertraut ist: von der schönen, gesellschaftlich anerkannten Frau die zur Prostituierten wird. Und schließlich thematisiert der Clip das Thema des Doppelgängers schlechthin: „Der Doppelgänger macht das Original sich selbst unähnlich, ent-stellt es, versetzt in Bewegung und beunruhigt“ [Sarah Kofman, Melancholie der Kunst, S. 17]. Was wäre, wenn man einem zweiten Ich begegnen würde, dass ganz vertraut und zugleich ganz anders wäre?


Der fünfte Clip auf der DVD Comme j'ai mal, 1996 unter der Regie von Marcus Nispel entstanden, ist nicht nur textlich von einer geradezu depressiven Grundstruktur. Rein optisch äußert sich das schon darin, dass der Clip weitgehend im Dunklen verharrt. Wir sehen im Wechsel eine Frau im intimen Gespräch mit einer Gottesanbeterin und ein Kind mit krabbelnden so genannten Schwarzen Witwen. Offenkundig ist das eine (die Frau) eine Rückerinnerung an das andere (ihr Schicksal als kleines Kind). Sie wurde von ihrem Vater verprügelt und mit dem Lederriemen geschlagen. Das Kind versüßt sich das Leben mit Zucker und Honig und wird dann von der Schwarzen Witwe bzw. von Seidenraupen in einen Kokon eingesponnen, aus dem sich dann Mylène Farmer als geflügeltes Insekten-Mensch-Wesen entwickelt, ähnlich einer gefleckten Heidelibelle mit menschlichem Körper. Parallel sehen wir das Kind aber auch durch den Wald flüchten. Der Clip endet ziemlich abrupt, ohne die Geschichte wirklich zu einem Ende zu bringen ...

Offensichtlich ist die Eingangsszene zugleich die Schlüsselszene. Weniger für das Geschehen im Clip, das einigermaßen dunkel bleibt, als vielmehr im Blick auf den Liedtext. Dieser handelt vom Verlassen des Ich und vom Aufbrechen, vom reflexhaften Erstarren und vom Loslassen des Anderen, bevor man ihn mit der Liebe verzehrt. Das mythologische Motiv der männerverzehrenden Gottesanbeterin - volkstümlich verwandt mit dem Motiv der männerverzehrenden schwarzen Witwe - wird hier nur angedeutet, als Möglichkeit, nicht als realisiertes Geschehen. Auch dieser Clip bewegt sich im Raum der Mythologie, was spätestens dann deutlich wird, wenn wir der Spur der Arachne nachgehen: "Arachne kann betrachtet werden als Prototyp der spinnenden Frau, der seither vielfach literarisch in Erscheinung tritt, zum Beispiel als Schicksalsspinnerin bei den Moiren (oder Parzen, im Germanischen Nornen). Noch in europäischen Märchen tauchen alte Frauen auf, die mittels der Spindel Zauber ausüben (zum Beispiel die böse Fee in „Dornröschen“). Frauen (insbesondere den Femmes fatales) wird noch heute nachgesagt, dass sie Männer einwickeln oder um den Finger wickeln und aussaugen, wie die „Schwarze Witwe”. Analog dazu stellte der Psychologe Karl Abraham zu Beginn des 20. Jahrhunderts die These auf, dass die Spinne als Traumsymbol der phallischen und damit als bedrohlich empfundenen Mutter entspreche. In den romanischen Sprachen ist Arachne direkter Namensgeber für die Spinne, zum Beispiel "araignée" im Französischen." [wikipedia]


Der 1999 wiederum unter der Regie von Marcus Nispel realisierte Clip zu Souviens-toi du jour ist von einer merkwürdigen Ambivalenz getragen. Thematik und Inszenierung klappen weit auseinander. Auf der Ebene des Liedtextes geht es u.a. um das Scheitern und Gelingen von Liebe in einer sich verändernden Welt. Zugleich geht es aber auch in der Wortwahl und den Anspielungen um den Holocaust, um die Veränderung der Welt durch den Nationalsozialismus und den Faschismus.

Die Liedzeile "Si c'est un homme" zitiert den französischen Titel des Hauptwerks von Primo Levis "Ist das ein Mensch?" Für die intendierte Erinnerung an den Holocaust und als Hommage an Primo Levi ist der Clip aber zu harmlos, ja verharmlosend, und zu sehr auf die Hauptprotagonistin fixiert. Wir sehen Mylène Farmer spärlich bekleidet in einem Haus, in dem nach und nach alles zu brennen beginnt: von der Korrespondenz über die Bücher bis zum gesamten Inventar. Symbolisch steht die Welt in Flammen, was zur melancholischen Inszenierung der Sängerin wenig passt. "Geborgtes Leid" wäre die zutreffende Bezeichnung für das, was hier abläuft. Nicht einmal die assoziative Verknüpfung mit Walter Benjamins "Engel der Geschichte" hilft hier weiter, denn von diesem Engel heißt es: "Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst." Neben der Anspielung auf Primo Levis Hauptwerk sind es noch zwei Details, die auf das Thema anspielen: der Verweis auf den Gleichklang und das Lärmen der Schritte und zum anderen das hebräische Zachor! Erinnere Dich, das Mylène Farmer im zweiten Teil des Liedes mehrfach wiederholt. "In der hebräischen Bibel wird der Begriff "Sachor = Erinnere Dich" 169 mal wiederholt. Das Wort Sachor gilt entweder G-tt oder dem Volk Israel. Israel soll sich seines G-ttes, seiner Geschichte und seiner Feinde erinnern. Ohne die Fähigkeit der Erinnerung gäbe es das jüdische Volk heute nicht mehr. Sachor bedeutet letztendlich Existenzsicherung durch Erinnern. Das jüdische Volk war das erste, das Geschichtsschreibung betrieb, aber nicht im Sinne einer Aufzeichnung vergangener Zeiten um der Lehre willen, sondern als direkter persönlicher Bezug zu den Vorfahren und als Erkenntnisquelle für den Willen G-ttes." [ Glossar: Grundbegriffe im Judentum]

Trotzdem ergibt sich aus dem Ganzen keine stimmige Aussage. Das liegt nicht zuletzt am Stil von Mylène Farmer, der alle ihre Clips trägt, und der die Künstlerin konsequent als Akteurin in den Vordergrund stellt. Was in den melancholisch-existentiell angehauchten Clips noch funktionieren mag, muss bei komplexen Themen wie der Erinnerung an Auschwitz notwendig scheitern. Selbstverständlich ist es möglich, eine Liebes- und Beziehungsgeschichte mit der Geschichte des Holocaust zu verknüpfen - viele Betroffene und Nichtbetroffene haben das gemacht ( Carlo Ross, Im Vorhof der Hölle; Roberto Benigni: Das Leben ist schön). Aber bei Mylène Farmer scheitern Clip, Text und Musik an diesem Versuch: Die barocke Inszenierung, der Text, der sich nicht für ein Thema entscheiden kann, die Musik, die nicht zum Thema passt - das alles ist irgendwie danebengegangen. Hätte Mylène Farmer nicht ostentativ den Bezug zum Nationalsozialismus und zu Primo Levi gesucht, hätte der Clip als einer über eine Beziehung in Flammen durchgehen können, wie es etwa in dem Clip "Sie ist weg" der Fantastischen Vier 1995 geschildert wird: "Am Ende steht der radikale, scheinbar kompromisslose Aufbruch, alles andere geht in Flammen auf. Einer gescheiterten Beziehung entkommt man nur durch Annullation, Vernichtung, dem Autodafe der Liebe. Nicht nur die Liebe verzehrt wie ein brennendes Feuer, auch ihr Scheitern bietet genügend Brennstoff.


Der Clip zu Optimistique-moi im Jahr 2000 unter der Regie von Michael Haussmann realisiert, ist in einem mehrfachen Sinne eine Gratwanderung. Inhaltlich beschreibt er auf der metaphorischen Ebene die Fragilität der menschlichen Existenz, vergleichbar mit einem fragilen Drahtseilakt, immer gefährdet, immer auf Balance bedacht. Die Zirkusarena, so heißt es, sei die perfekte Metapher für das Leben, für Träume, Illusion, Krankheit, Liebe und Tod. Die Metapher fragt nach den erlebten, erlittenen Verletzungen, Einengungen auch in uns, nach jenen geschlechtsspezifischen Verwundungen, die jeder einzelne an sich erfährt. Ausdrucksstark verkörpert Mylène Farmer im Clip die Ängste dieses Prozesses, schauspielerisch ist es eine beeindruckende Leistung. Ingmar Bergmann hat in seinem Stück "Abend der Gaukler" den Zirkus als exemplarischen Ort künstlerischer Existenz gewählt. Was in diesem Clip nicht gelingt bzw. dem Wishfull thinking geopfert wird, ist der Schluss. Am Ende entkommt die Protagonistin der bedrängenden und gefährdeten Existenz via Zaubertrick. Das ist genauso billig wie das Ende der Truman-Show. Als ob man seiner Existenz auf diese Weise entkommen könnte. Dieser (faule) Zauber schützt nicht davor, sein Leben mit allen Widerfahrnissen und Kränkungen leben zu müssen. You can’t cross the border! Aber dennoch gilt natürlich: Alle Gefühle hoffen auf einen guten Ausgang [Alexander Kluge]. Ohne den Schluss hätte der Clip gut sein können, hätte er eine Metapher (vom Leben als Drahtseilakt und Zirkus in einem) existentiell zuspitzen können. So aber schließt er im Rosemunde-Pilcher-Stil oder sagen wir es präziser mit den falschen Worten im falschen Leben von Nina Ruge: Alles wird gut. Diesen Schluss hat aber eine schwarze Romantikerin wie Mylène Farmer nicht verdient.


Von den verbleibenden drei Clips finde ich zwei nicht besonders besprechenswert (XXL, eine in Schwarz-Weiß gehaltene Eisenbahnfahrt, und L'ame-stram-gram, das noch einmal die Doppelgängerthematik im asiatischen Kampfstil aufgreift). Der dritte ausstehenden Clip Je te rends ton amour wird separat in einer Einzeluntersuchung erschlossen und besprochen.

Insgesamt fällt die Tendenz zur cineastischen Konzeption der Videoclips von Mylène Farmer auf. Das wird von den Fans auch enthusiastisch goutiert. Trotzdem wirkt es so, als schiele der Clip immer aufs Kino, was ihm allerdings in der Regel nicht bekommt. Bei aller Verwandtschaft ist der Videoclip auch ein vom Kino differentes Medium mit eigener Sprache. Dass der Videoclip gegenüber dem Kinofilm auch das experimentellere und attraktivere Medium sein könnte (was für die Zeit zwischen 1988 und 2000 ja durchaus zutrifft), wird in den hier betrachteten Clips nicht deutlich. Mylène Farmer und die von ihr beauftragten Regisseure stellen uns Videoclips als Kleinstform des Kinofilms vor. Das Genre hätte mehr zu bieten. Insofern teile ich nicht das Lob mancher, die diese Clips vor den anderen aus Amerika oder Großbritannien wegen ihrer cinneastischen Gestaltung auszeichnen. Andererseits sind die betrachteten Clips atmosphärisch "dicht", sie fassen Stimmungen brillant ein. Nahezu jeder Clip von Mylène Farmer ist metaphorisch. Und wie im richtigen Leben gelingt nicht jede Metapher. Das sollte aber nicht davon ablenken, dass sie in einer Zeit, in der die Fragen der Freiheit des Individuums, seiner sexuellen wie politischen Autonomie auf ein Minimum reduziert sind, konsequent den Finger auf die Wunde legt, die menschliches Existenz heißt.


© Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 40/2006
https://www.theomag.de/40/am178.htm

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