Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren XXVI

Aus der Bücherwelt

Andreas Mertin

Aus der Anderen Bibliothek, dieser seit dem Januar 1985 (!) andauernden Erfolgsgeschichte einer Buchreihe, sind wieder einige schöne Bücher nachzutragen und vorzustellen, die seit der letzten Besprechung des Bandes 248 erschienen sind. Im Augenblick scheint die Andere Bibliothek wieder im gewohnten monatlichen Rhythmus zu erscheinen, nachdem sie zwischenzeitlich erheblich in Verzug geraten war (und ein Band des letzten Jahres immer noch nicht erschienen ist).

Bei den Neuankündigungen fällt allerdings auf, dass der Hinweis auf Hans Magnus Enzensberger als Herausgeber getilgt wurde. Nähere Informationen darüber gibt es darüber aber auf den Verlagsseiten und im Verlagsprospekt nicht. Dafür fällt auf, dass nun wechselnde Herausgeber Kompilationen oder Bücher anderer Autoren vorstellen. Dennoch wäre es angebracht, wenn der Verlag seinen Leserinnen und Lesern seine Editionsgrundlagen für die Fortführung der Anderen Bibliothek offen legen würde. Wird die Programmatik beibehalten oder werden nun andere Schwerpunkte gesetzt? Wir werden es sehen bzw. lesen.

Romdeutsch

Karl-Wilhelm Weebers Buch "ROMDEUTSCH. Warum wir alle lateinisch reden, ohne es zu wissen" ist eine vergnügliche und angenehm zu lesende Einführung in den Gebrauch lateinischer Lehnwörter in der deutschen Sprache. Latein ist – in der Regel aufgrund schrecklicher Schulerfahrungen – eine nicht sehr angesehene Sprache. Man assoziiert viel stupides Auswendiglernen und in der Regel noch die Lektüre von Caesars "De Bello Gallico". Dass es auch anders geht, versucht Weebers Buch zu zeigen. Der Verlag bewirbt das Buch so: "Hokuspokus"* oder Latein als Sesam-öffne-dich. Sind wir wirklich alle Lateiner? Ja, behauptet Karl-Wilhelm Weeber, denn was wäre die deutsche Sprache ohne Latein? Und, noch wichtiger: Was funktioniert im Deutschen eigentlich ohne Latein? "Voll krasse Sprache", sagt auch der Nichtlateiner und ahnt in den seltensten Fällen, wie Recht er hat. Denn woher soll er wissen, dass "krass" sich vom Lateinischen "crassus" ableitet und "fett" bedeutet? Anhand vieler Beispiele zeigt der Autor, wie lebendig das lateinische Erbe in der deutschen Sprache ist - in Medizin, Naturwissenschaft und Philosophie, aber auch im Alltagsdeutsch. Geld stinkt nicht, die Daumen drücken, vor Neid platzen, lachende Erben - deutsche Redewendungen entstanden vor 2000 Jahren, als noch kein Mensch Deutsch sprach. Aber das Lateinische ist nicht nur in unserer Sprache quicklebendig, sondern hilft sie auch zu verstehen. Anders formuliert: Wer kein Latein kann, den bestraft das Deutsche. Denn warum ist ein Konfirmand kein Konfirmant? Was unterscheidet den Simulanten vom Simulator? Was haben alle deutschen Verben gemein, die auf -ieren enden? Ob Bits und Bytes - (fast alle) lateinische Wortwege führen in die moderne Welt. Und nach Lektüre dieses fröhlichen Vademekums werden selbst neoliberale Latein-Gegner eingestehen, dass sie im Grunde überzeugte "Latin lovers" sind.

Tatsächlich ist es überaus interessant festzustellen, bei wie vielen Worten sich Bezüge zur lateinischen Sprache herstellen lassen, sei es direkt oder auch indirekt. Denn Weeber lässt es nicht dabei bewenden, direkte Filiationen aufzuweisen, sondern zeigt auch, wo es deutsche Nachbildungen und Gegenbildungen zur lateinischen Sprache gibt.

Es ist sicher kein Buch, das man in einem Zug durchliest (es sei denn man befände sich gerade in einem solchen und wäre auf einer längeren Reise), aber zum Nachschlagen und vergnüglichen "Sich-Belehren-Lassen" ist es zu empfehlen. Und es ist natürlich auch in Zeiten der vorgeblichen nationalen Identitätsbildung ein politisches Buch, denn es zeigt, wie wichtig und bereichernd die interkulturelle Beeinflussung seit Jahrtausenden ist.

Die Wissenschaft vom lieben Gott

Otto Kallscheuers "Die Wissenschaft vom lieben Gott. Eine Theologie für Recht- und Andersgläubige, Agnostiker und Atheisten" versucht in einer schein-säkularisierten Welt, in der nichts weniger interessiert als gerade eine Erläuterung der dogmatischen Rede von Gott, die Gottes-Lehre einsichtig und nachvollziehbar zu machen. Dabei ist Kallscheuers Buch weniger eine Rede über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern im Stile Friedrich Daniel Schleiermachers, als vielmehr eine Rede über Gott an die gebildeten Religionsphilosophen. Denn die gelebte Religion kommt bei Kallscheuer nicht immer gut weg. Die so genannte Volksfrömmigkeit wird mit harschen Worten gegeißelt und beiseite gefegt. Ob es allerdings die Wissenschaft vom lieben Gott - die aktuell ja eher eine traurige Wissenschaft ist - heute noch gäbe, wenn es die Volksfrömmigkeit mit all ihren Irrungen und Wirrungen nicht gäbe, dieser Frage müsste man sich doch stellen. Bei aller Klarheit und Wahrheit, die die philosophische und theologische Gottesrede auszeichnen kann, überleben kann sie nur auf dem Boden der von ihr verachteten Volksfrömmigkeit.

Der Verlag bewirbt das Buch so: Wer hat Angst vor der Religion? Wer die Theologie den Fernsehpredigern, den Drewermännern und dem Dalai Lama überlassen will, sei gewarnt. Dieses Buch ist dazu angetan, mit dem Dünndenken aufzuräumen. Es ist schon sonderbar, dass eine alte Leitwissenschaft, auf die sich die besten Köpfe Europas jahrhundertlang konzentriert haben, derart in Vergessenheit geraten ist. Ein Publikum, das sich aufgeklärt dünkt, scheint sich von einem der größten intellektuellen Abenteuer der europäischen Geschichte definitiv verabschiedet zu haben. Otto Kallscheuers Buch wird diesem Zustand nicht abhelfen können. Aber es hat demjenigen viel zu bieten, der verstanden hat, dass die Religionen keineswegs vom historischen Horizont verschwunden sind – eher im Gegenteil. Kallscheuer nimmt sie ernst, ohne in den Tonfall der Dogmatiker zu verfallen. Er führt mit der Leserin, dem Leser einen fortlaufenden Dialog, der keiner Frage, keinem Zweifel und keiner Kritik ausweicht. Seine Darstellung ist von einer gründlichen Quellenkenntnis gesättigt. Nicht nur werden die Positionen der großen Kirchenlehrer, der doctorum venerabilium von Augustinus bis Ratzinger erörtert. Auch Vergessene und Abweichler von Nikolaus von Kues bis Karl Barth kommen zu Wort, und zu jeder wichtigen Frage nimmt Kallscheuer in den Blick, wie die anderen Hochreligionen sie beantworten: der Islam, der Hinduismus und die buddhistischen Lehren.

Dabei hätte das Buch manche Straffung verdient gehabt, die ausführliche und immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaft ist eher den Aufgeregtheiten der Debatten der 70er- und 80er-Jahre geschuldet. Zentrale Punkte, wie etwa christologische Positionen kommen meines Erachtens erst relativ spät vor. Dennoch ist dieses Buch eine wirkliche Leseempfehlung und ein Gewinn für den an Religion und Theologie interessierten Leser!

© Andreas Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 42/2006
https://www.theomag.de/42/am189.htm