Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Raum und religiöses Gefühl

Eine Anmerkung

Andreas Mertin

Als ich im April 2006 während der Passionszeit den Wiener Stephansdom besuchte, fiel mir eine interessante virtuelle Dreiteilung des Raumes auf. Wenn mich meine Wahrnehmungen nicht täuschten, gab es einen offiziellen religiösen Raum, dann einen nahezu das gesamte Kirchenschiff einnehmenden touristischen Raum und schließlich einen subjektiv-religiösen Raum vorne rechts und links des Eingangs, noch vor dem ersten Gitter. Vermutlich wäre es mir normalerweise gar nicht aufgefallen, aber so offenkundig und intensiv flackerten die Kerzen vor dem Herz-Jesu- und dem Marien-Bild,[1] dass es gar nicht zu übersehen war.

Während der hintere Teil der Kirche abgesperrt und daher nahezu leer war, war der mittlere Teil gut gefüllt mit Baedecker-Christen, die Kunstgegenstände suchten, während der vordere Teil von einigen Betenden frequentiert wurde. Die Kirchengemeinde selbst scheint auf diese Rezeptionshaltung zu reagieren, denn wie Pressemitteilungen des Jahres 2005 zeigen, war während der touristischen Hochzeit (Juli bis September) der Zugang zur Kirche ökonomisch reglementiert.[2] Der touristische Bereich war nur gegen Entgelt zu betreten. Der vordere Bereich war dagegen jederzeit zugänglich. Trotzdem gab es offenbar Proteste, so dass die Regelung dahingehend geändert wurde, dass man das Kirchenschiff dann kostenlos (zum Beten) betreten durfte, wenn man sich als Gläubiger zu erkennen gab.[3] Es gibt m.a.W. eine Gruppe von Gläubigen, die der Ansicht ist, dass die gesamte Kirche – und nicht nur spezifisch ausgewiesene Stellen in ihr – ein Raum des Gebets sei. Allerdings bezieht sich dieser Raumanspruch dann vermutlich auf jenen Bereich, der von den Baedecker-Christen okkupiert war (und nicht auf den Kirchenraum als Ganzen).

Vielleicht kann man hinter den Protesten sogar noch mehr vermuten, nämlich die Vorstellung, dass die touristische Begehung und Erschließung der Kirche eigentlich nur ein sekundärer, wenn nicht sogar ein missbräuchlicher Zugriff auf die Kirche sei. Man könnte mit Verweis auf Matth.21,12ff par dafür sogar Verständnis und Argumente entwickeln. Denn für die Interpretation der so genannten Tempelaustreibung Jesu bietet sich ja unter anderem die Möglichkeit an, dass Jesus durch eine prophetische Zeichenhandlung den wahren Tempelkult wiederherstellen oder die wirtschaftliche Macht der Tempelaristokratie kritisieren wollte. Wie dem auch sei, der Protest gegen die touristische Grenzziehung muss sich aus dem Gefühl speisen, dass Gläubige einen „Anspruch“ auf den ganzen Raum haben oder dass ihnen etwas vorenthalten wird, wenn sie „nur“ in den beiden Zonen rechts und links des Eingangs beten dürfen.

Nun ist nicht nur im Wiener Stephansdom zu beobachten, dass es derartige Separationen zwischen verschiedenen Nutzergruppen in Kirchengebäuden gibt. Natürlich tritt diese Aufteilung zunächst und vor allem in ästhetisch und kulturgeschichtlich ausgezeichneten und daher touristisch genutzten Kirchen auf, weil diese eine institutionelle Regelung des Verhältnisses von Gläubigen und den Touristen erfordern. Ich erinnere mich jedenfalls gut an eine ähnliche Regelung in der Marburger Elisabethkirche, in der das Betreten des Chorraumes auch nur gegen einen Obolus möglich war. Das hat mich als Marburger Gemeindeglied seinerzeit extrem geärgert, weil es entweder unterstellte, der Chorraum sei für den Glaubensvollzug belanglos (was es u.a. wegen der eindrücklichen Memento-Mori-Werke des Landgrafenchors nicht war) oder eine Exklusivität in Raumverfügung eintrug, die evangelisch nicht zu rechtfertigen war. Heute würde ich freilich anders darüber denken und anerkennen, dass die Elisabethkirche (auch wenn in ihr sporadisch noch Gottesdienste stattfinden) längst zu einem Museum geworden ist, das unterhalten werden muss und daher auch Eintritt erfordert.

Aber auch für jede ‚normale’ Kirche lassen sich derartige Differenzierungen vornehmen, wenn sie auch nicht immer so offensichtlich sind, sondern eher subkutan ablaufen. Ähnlich wie John Fiske in seinen berühmten „Lesarten des Populären“[4] unter anderem auch „Lesarten des Strandes“ vorgelegt hat, lassen sich eben auch „Lesarten des Kirchenraums“ entwickeln. Das Verhalten der Eingeborenen (Funktionäre) eines religiösen Raumes dürfte sich von den regelmäßigen Gästen (Gottesdienstbesucher; Frauen; Ältere) und dann noch einmal von dem der sporadischen Gäste (Gottesdienstbesucher; Touristen; Männer; Jüngere) signifikant differenzieren lassen. Jede dieser in sich noch weiter zu differenzierenden Nutzergruppen dürfte auch je spezifische religiöses Raumgefühle und –vorstellungen entwickeln.

Die Bedeutung der Gefühle der jeweiligen Nutzer lässt nach dem Zusammenhang und der Differenz von allgemeiner und privater Raumgestaltung fragen. Vielleicht sollte man wirklich darüber nachdenken, ob Kirchen nicht eine genuine und legitime Verbindung auch zur Wohnstube haben (sollten). Bedenkenswerte Überlegungen zum Verhältnis von Kirchenbau und Wohnstube hat schon vor vielen Jahren Rainer Volp vorgelegt. Ihm ging es darum,

  1. Kirche ebenso als Chance individueller Ausdifferenzierung wie als kulturelle Integrationsfigur in der Dialektik von Intimität und Öffentlichkeitscharakter zu begreifen;
  2. Kirchenbau sowohl im Horizont des intimen Wohnhauses wie dem des öffentlichen Forums wahrzunehmen, damit Erfahrungen an der Grenze individueller Kontemplation und kollektiver Kommunikation transformiert werden können;
  3. Kirchenbau zu begreifen als Arbeit an Zeichen, die zum Ziel haben, die Kunst, Gott zu feiern, zu entwickeln.[5]

Dass die Gemeinde im religiösen Raum muss wohnen können, bilde – so Volp - einen noch zu geringen Aspekt in der Reflexion des Kirchenbaus. Wenn es stimmt, dass „die im Begriff des Sakralraums verborgene Frage nach der Besonderheit des spezifisch christlichen Gottesdienstraumes immer in der Rückfrage mündet, welche Wirkung die Lektüre der Räume und dessen, was darin geschieht, auf den Besucher hat“ [6], dann wäre es interessant, der Frage von subjektiver Raumlektüre und Kirchen(um)bau genauer nachzugehen.

Allerdings ist der Verweis auf den Wohnraum etwas zu verführerisch. Denn einerseits wünscht sich angesichts der notwendigen Alterität religiöser Erfahrung ja wohl niermand, dass die Besucher religiöser Räume begeistert ausrufen: Das ist ja wie zuhause![7] Und andererseits ist mit dem Hinweis auf die potentielle Wohnlichkeit des Kirchenraums ja zunächst einmal so gut wie nichts gewonnen. Schon ein Blick in diverse Möbelkataloge macht einsichtig, wie divergent auch die Geschmäcker der Menschen im Blick auf ihren eigenen Wohnraum sind. Vom Gelsenkirchener Barock[8] über die Ikea-Wohnung mit postmodernen Accessoires bis zum cool-leeren weißen Design finden wir alles wieder, was wir dann auch auch in diversen Kirchenbauten finden könnten. Aber ich glaube nicht, dass man die Anhänger des Gelsenkirchener Barock vom avancierten weißen Leer-Raum oder der Raumausstattung im mediteranen Stil überzeugen kann. Sobald man sich auf die Wohnraum-Metapher einlässt, wäre man daher sofort gezwungen, das Kirchenschiff in verschiedene Wohnbereiche aufzuteilen oder je nach religiösem Wohngeschmack verschiedene Kirchen einrichten. Und dann müsste man bei jeder Kirche bekannt geben, für welche Zielgruppe die jeweilige Kirche=Wohnung eingerichtet ist.

Und natürlich müsste man fragen, ob der jeweilige Wohngeschmack, das jeweilige zum Tragen kommende Raumgefühl auch konfliktfrei mit dem Christentum zu verbinden ist. Vor 30 Jahren hat Walter Hollenweger auf dem Kirchbautag in Kassel ausgeführt: "Es gibt beobachtbare Tatsachen, die uns zeigen, dass eine Kirche ohne Mythos, ein Glaube ohne Mythos von der Mehrheit der Christen (inklusive der Pfarrer), ganz zu schweigen von den Nichtchristen, nicht verstanden werden kann. Das ist deshalb so, weil Kommunikation von Informationen ohne Mythenrahmen sich in allen Bereichen menschlichen Wissens als undurchführbar erwiesen hat."[9] Hollenweger hatte das seinerzeit so präzisiert: "Nicht jeder Mythos eignet sich als Darstellungsmedium des Evangeliums. Die Kriterien zur Unterscheidung des Mythos im allgemeinen und des 'wahren Mythos' werden aus dem Umgang der biblischen Schriftsteller mit dem ihnen vorliegenden Mythenmaterial erhoben." [10] D.h. der Mythenrahmen muss nicht christlich, mit anderen Worten der Raummythos muss nicht notwendig evangelisch sein, aber der Umgang mit dem Raummythos muss evangelisch sein, d.h. er muss im laufenden Vollzug der Interpretation sich als genuin protestantisch erweisen. Hollenweger ist im Blick auf die westlichen Kirchen nun außerordentlich skeptisch, was das ihnen vorliegende Mythenmaterial betrifft und sieht sie auf die biblischen Texte zurückverwiesen.

Mir scheint aber, dass wir aktuell in Raumfragen durchaus genügend Material für einen Mythenrahmen vorliegen haben, dass wir z.B. auf das Mythenmaterial des Katholizismus (heilig, sakral, Geheimnis), aber auch des Bürgertums (Ruhe, Abgrenzung, Meditation, Alltagsdifferenz) zurückgreifen können, um in der Auseinandersetzung mit diesen mythischen Raumdeutungen einen eigenen evangelischen Ansatz zu entwickeln. Überkommene Mythen lassen sich nicht reaktivieren, aber durch Interpretation ins Bewusstsein heben. Man kann einen Tempel in Delphi oder Athen noch so lange in seiner mythologischen Bedeutung erläutern, kein Mensch mit Vernunft und Bildung wird mehr seine Knie vor Zeus oder Athene beugen. Gleiches gilt heute für die Elemente christlicher Kunstgeschichte, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinem berühmten Text zur Ästhetik geschrieben hat: "Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen: es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr".[11] Schon Hegel sah das "Mysteriöse", das "geheimnisvolle Ahnen" und die "Sehnsucht" als überkommene Formen des Religionsausdrucks an, welche allenfalls noch einen Mythenrahmen abgeben können. Das wäre eine Herausforderung für die evangelische Theologie. Denn schließlich besteht ein viel größeres Problem darin, dass die Mehrzahl heutiger Kirchenräume sich religiöser Gestaltung und religiöser Wahrnehmung dadurch entzieht, dass sie gemütlich, behaglich, heimelig zugrunde gerichtet wurden.[12] Der Künstler Georg Baselitz hat das so beschrieben: "Grauselig, zu erleben, was da an hässlicher Gemeinheit, Unbildung, Kunstgewerbe, Missverstand und Kompromissen auf einen zukommt."[13]

Religiöse Atmosphäre – das ist meine subjektive Überzeugung - ist in der Regel eine Frage von ästhetischer Reduktion, der Besinnung auf das Elementare. Die normalen Kirchenräume sind aber einem an-ästhetischen Überschuss zum Opfer gefallen, der sich zwar aus dem Herzen und dem gut Gemeinten speist, im Ergebnis aber religiösen Kitsch und Sozialromantik artikuliert. Gerade hier steht die Praktische Theologie vor einer Bewährungsprobe. Sie muss in der Interpretation der dem Kirchenbau entgegengebrachten Gefühle und Vorstellungen, in der Kritik der nicht dem evangelischen Glaubens angemessenen Raumformen und nicht zuletzt in der Deutung der vorhandenen Raumformen eine evangelische Perspektive eröffnen.

Anmerkungen
  1. http://www.stephansdom.at/data/derdom/details/herz_jesu_altar.php
  2. http://oesterreich.orf.at/wien/stories/43391/
  3. http://wien.orf.at/stories/44092/?page=2
  4. John Fiske, Lesarten des Populären, Wien 2003 (erstmalig 1989 erschienen).
  5. Vgl. Rainer Volp, Geistliche Gemeinschaft oder soziale Anlaufstellen? Die Kirchen und ihre Gemeinden; in: Kirche im Mittelpunkt, Kongressbericht der Fachtagung 1991 in Schwäbisch-Gmünd, S. 72-83.
  6. So Volp, ebenda, S. 79.
  7. Die Tatsache, dass ein Gutteil der deutschen Urlauber es sich bei Auslandsaufenthalten jeweils „typisch deutsch“ einrichten, wie sich unschwer in zahlreichen Touristenhochburgen beobachten lässt, spricht allerdings gegen meine Vermutung. Vielleicht wünscht sich ja eiun guter Teil der Bevölkerung eine alteritätsfreie Lebensumwelt.
  8. http://de.wikipedia.org/wiki/Gelsenkirchener_Barock
  9. Vgl. Walter J. Hollenweger: "Schöpferische Liturgie"; in: R. Bürgel (Hg.), Umgang mit Raum. Dokumentation über den 16. Ev. Kirchbautag Kassel 1976. Gütersloh 1977, S. 89-98.
  10. Ebd.
  11. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. 2 Bände. Berlin 4/1985. Band 1, S. 110
  12. Vgl. dazu Dietrich Neuhaus, Der Theologe als Dandy. Zur Ästhetik des Protestantismus, Magazin für Theologie und Ästhetik, Ausgabe 1, 1998, https://www.theomag.de/01/dn1.htm
  13. Georg Baselitz: "Alles Falsche auf einem Bild macht es richtig". Kunstforum 136, 1997, S. 254-281, hier S. 260.
© Andreas Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 42/2006
https://www.theomag.de/42/am191.htm