Differenz - Dissidenz |
Die Ruine als DifferenzOder: Ein Sonnenplatz für künstlich unterhaltene SchädenAndreas Mertin Die Igreja do Convento de Sao Domingos in Lissabon soll einmal zu den prächtigsten Gotteshäusern der Stadt gehört haben. Das berühmte Erdbeben von 1755, das die gesamte europäische Philosophie und Theologie erschütterte, zerstörte auch dieses Kloster. Nach dem Wiederaufbau wurde die Igreja do Convento de Sao Domingos 1959 durch einen Brand noch einmal nahezu vollständig zerstört. Nun wird sie seitdem kunstvoll in ihrem ruinösen Charakter erhalten. Das Ergebnis ist eine beeindruckende Kirche voll individueller Frömmigkeit im Kontrast zur äußeren Vergänglichkeit. 1755 Ein Erdbeben und seine FolgenWenn man heute durch Lissabon wandert, stößt man allenthalben auf die Erinnerung an das Erdbeben von 1755, es ist sozusagen eine mythische Größe, so wie es das ja auch für den Rest Europas war, der sich freilich damals nur ein imaginäres Bild vom Geschehen machen konnte. Vor Ort steht einem dagegen etwa die Igreja do Convento do Carmo immer vor Augen. Die Kirche wurde nach dem Erdbeben nur teilweise rekonstruiert, ansonsten aber als Ruine belassen und ihre weiße Säulenreste überragen ganz Lissabon. Heute dient sie als Museum und ist zugleich pittoresker Blickfang von der Aussichtsplattform des Elevador de Santa Justa. Zugleich bleibt sie eine permanente Erinnerung an die seinerzeitige Naturkatastrophe. Die Katastrophe
Die ReaktionenNun kann man auf Katastrophen ganz unterschiedlich reagieren. Protestantische Prediger sollen süffisant darauf verwiesen haben, dass die einzige evangelische Kirche Lissabons vom Beben verschont blieb, während katholische Geistliche gerade im Eingehen auf den Protestantismus die katastrophenverursachende Sünde sahen. Voltaire schildert in „Kandid oder die beste der Welten“ im sechsten Kapitel eine weitere Variante:
Tatsächlich sieht man auf den zeitgenössischen Bildern vor allem eines: Galgen, an denen die ertappten Plünderer hängen. Auf dem obigen Bild etwa ist ein Gutteil der Stadt merkwürdigerweise noch intakt, während fleißig Menschen an den Galgen gebracht werden. Für die Intellektuellen Europas (und solche, die es werden sollten) war der Eindruck dagegen ungeheuerlich. Goethe, der zu diesem Zeitpunkt erst sechs Jahre alt war, schildert seinen andauernden Eindruck rückblickend so:
Fritz Mauthner schreibt im Artikel „Optimismus [Pessimismus]“ seines zuerst 1910 erschienen Wörterbuchs der Philosophie zu den philosophischen Reaktionen auf das Erdbeben:
Es ist übrigens interessant, wie eifrig einige Lexika des 19. Jahrhunderts hervorheben, dass die Stadt nach dem Erdbeben an einigen Stellen viel schöner wieder aufgebaut worden sei. Das Damen-Conversations-Lexikon von 1843 schreibt etwa:
Noch zynischer ist das Brockhaus-Conversations-Lexikon von 1809, welches es schafft, 54 Jahre nach dem Ereignis nicht nur lobend auf die anschließende Verschönerung der Stadt hinzuweisen, sondern zugleich auch dem Religionskritiker Voltaire eins auszuwischen:
Hier spürt man unmittelbar die bürgerliche Reaktion auf die philosophische Infragestellung der vertrauten Welt-Ordnung. Ein merkwürdiges Erdbeben war es, das nur mehrere Tausend (und eben nicht 90.000 und damit ein Drittel) der Bewohner Lissabons tötete. Und Voltaire beschreibt nicht die damit einsetzende Desillusionierung einer gütigen Heilsgeschichte, sondern lästert die providentia dei. So kann man es natürlich auch sehen. Und schon ist die offenkundige Differenz von Naturgeschichte und religiöser Weltordnung eingeebnet. Sinn der Vorhersehung war es, Lissabon weit schöner wieder aufbauen zu lassen. Und nur herumschleichende stolze(!) Bettler suchen in der Stadt ein Sonnenplätzchen für die Auslegung ihrer künstlich unterhaltenen Schäden und Geschwüre (sic!). Intermezzo: Theologie der RuineKommen wir zur Gegenwart und ihren Sonnenplätzchen für „künstlich unterhaltene Schäden“. Im Heft 37 des Magazins für Theologie und Ästhetik habe ich unter dem Titel „Denkmal. Ein Beitrag zu einer ruinösen Diskussion“ zur wieder anstehenden Theologie der Ruine geschrieben: „Vielleicht ist genau dies der Beitrag der Kirchen zur kulturellen Situation der Gegenwart, dass sie Orte der Vergänglichkeit im Getriebe … der Städte etablieren könnten. Wenn Kirchen Zeichen in der Stadt sind, wenn sie aber mehr sein wollen, als bloß ostentative Symbole des kulturellen Selbstbehauptungswillens der Christenheit, dann müssen sie vielleicht zu Ruinen werden. Ruinen sind bedeutungsvolle Zeichen des ganz Anderen in der Stadt - sie sind zudem Verweigerung einer städtebaulichen Konkurrenz, in der alles mit Ähnlichkeit geschlagen ist … Was wir wiedergewinnen müssen, ist eine Perspektive dessen, wozu die Gebäude der christlichen Kirche dienen. Populäre Verkürzungen wie die von der ‚Predigt der Steine’ oder den ‚Zeugnissen des Glaubens’ müssen hinterfragt und auf eine theologische Grundlage gestellt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch Ruinen ihre eigene Sprache und ihren eigenen Ausdruck haben. Es mag sein, dass Ruinen nur eine ultima ratio im Prozess der Entscheidungsfindung über die Zukunft eines kirchlichen Gebäudes sind, aber es ist eine diskutable.“ Seinerzeit war ich davon ausgegangen, dass die Ruinen von denen ich sprach, Ruinen im Sinne Caspar David Friedrichs sein sollten, Ruinen als offenkundig vorhandene, nicht aber gottesdienstlich genutzte Zeichen in der Stadt. Sie sollten Leerstellen sein, die an die potentielle Aufgabe von Religion in der Stadt erinnern sollten. Ich glaube immer noch, dass dies eine wichtige Funktion von leerstehenden Kirchengebäuden in den Städten sein könnte. Inzwischen glaube ich aber, dass noch mehr möglich ist: Gemeindeleben in den Ruinen der Kirche, die sich bewusst mit dem Fragmentarischen, dem Ruinösen, dem Beschädigten auseinandersetzt und es lebt. Was ein Charakteristikum einer solchen Form wäre, wäre der Verzicht auf die prunkvolle oder auch bauästhetische Ostentation, auf den Versuch, die Menschen durch Größe und Glanz zu beeindrucken. Wir retten die Kirchen nicht, indem wir sie kunstvoll restaurieren, sondern indem wir ihr aktuelles Gewordensein als Zeichen der Zeit annehmen. So stünde die Geschichte des Glaubenslebens im Vordergrund. Ich meine nicht, dass man nun künstlich Ruinen bauen sollte, sondern vielmehr, dass man dort, wo das Fragmentarische des vorhandenen Baus offensichtlich ist, auch offensiv damit leben und arbeiten sollte. Also Absage an den sich ausbreitenden Historismus, der nur noch mit Rekonstruktionen oder gar Pseudo-Rekonstruktionen arbeitet, Absage an einen Denkmalschutz, der in der Historisierung unserer Lebenswelten das Gegenwärtige erdrückt. Ich habe nichts gegen den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche, aber sie ist nicht adäquater Ausdruck der ästhetischen Gestalt des Protestantismus oder auch der Christenheit in der Gegenwart. Die Igreja do Convento de Sao DomingosIch komme auf die eingangs erwähnte Igreja do Convento de Sao Domingos zurück, die ich für ein interessantes Beispiel dafür halte, was mir unter einer ‚ostentativ’ an der Form der Ruine orientierten und dennoch religiös aktiv genutzten Kirche vorschwebt. Die Igreja do Convento de Sao Domingos ist erkennbar eine Kirche für den Alltagsgebrauch, sie wird von den Lissabonnern während des Einkaufs besucht und von alten Frauen zum täglichen Gebet. Sie haben sich an den Wänden ihre Bezugsheiligen ausgesucht, die sie besuchen und vor ihnen beten. Es entwickelt sich so kein stimmiges religiöses Programm, sondern eher eine fast akzidentielle persönliche und subjektive Frömmigkeit innerhalb eines Rahmens, der Auskunft gibt von der ursprünglichen, nun aber nicht mehr gegebenen Einheit des Ganzen. Es ist eine Kirche für den Gläubigen, keine Repräsentanz einer Religion. Fast ist man geneigt, an die frühchristliche Situation der Katakomben zu denken. Zur GeschichteAuf der Webseite der Dominikaner erfährt man zur Vorgeschichte, dass das Kloster bzw. die Kirche bis zum Erdbeben von 1755 eine der größten und schönsten in Lissabon war, sie war darin vermutlich zugleich ein Spiegel der Stadt. Ihre Lage war anscheinend etwas anders als heute, nämlich direkt am Rossio-Platz. Anfang des 16. Jahrhunderts spielt das Dominikanerkloster eine mehr als unselige Rolle bei den Juden- bzw. Neuchristenpogromen in Lissabon, insoweit zwei der Dominikanermönche zur Ermordung der Neuchristen anstachelten und wahrscheinlich sogar ein Kreuz so manipulierten, dass es als göttliches Zeichen zum Pogrom gewertet wurde. Vielleicht gingen von hier sogar wenig später die Autodafes am Rossio-Platz aus, die 1540 einsetzten, nachdem 1536 die Inquisition in Portugal eingeführt worden war. Am 1. November 1755 dürfte die Kirche gut besucht gewesen sein. Da die Katastrophe an Allerheiligen stattfand und zudem nach den ersten Beben viele in die Kirchen flüchteten, wurden infolge des Zusammenbruch des Kirchendaches besonders viele Menschen in der Kirche Opfer des Bebens. Die Bibliothek des benachbarten Klosters brannte vollständig aus. Nach 1755 wurde die Kirche neu gebaut und reich durch mit Blattgold verzierten Holzarbeiten ausgestattet. 1959 wurde sie dann erneut durch einen verheerenden Brand zerstört. Dessen Folgen sind immer noch wahrnehmbar. GegenwartDie heutige Kirche liegt zwar unmittelbar im Zentrum Lissabons in der Nähe des zentralen Rossioplatzes, aber keineswegs innerhalb der üblichen Touristenströme. Auch in den Reiseführern wird sie eher seltener erwähnt. Vergangener Glanz macht sich eben nicht so gut wie der schöne Schein, der in die Gegenwart ragt. So schreibt der Baedecker etwas verwundert zur Kirche:
Morbid scheint mir dabei das unpassende Wort für die atmosphärische Beschreibung der Kirche zu sein, selbst die mit morbid verbundene Konnotation „morsch“ führt noch in die Irre. Die Verwendung des Wortes gibt meines Erachtens eher Auskunft über die generelle Erwartungshaltung des Baedecker angesichts von Kirchenräumen, gegenüber der jede Abweichung geradezu als Verfall gedeutet wird. Tatsächlich ist in dieser Kirche eher eine intensive Lebendigkeit wahrzunehmen und zwar in Gestalt einer vitalen Volksfrömmigkeit, die nur scheinbar im Kontrast zur Fragmentarität des Raumes steht. Sie zeigt uns, dass der Glaube sich seine eigenen Räume sucht und nicht zwingend den vertrauten Inszenierungsmustern von Kirche folgt. Lissabon selbst mag durch eine bestimmte Morbidität ausgezeichnet sein, diese Kirche ist es nicht. Auch wenn es auf den Bildern zum Teil verkitscht aussieht, so ist es das vor Ort nicht, weil die Seitenaltäre in Relation zum Gesamtraum eher beiläufig wirken. Es handelt sich eher um punktuelle Verdichtungen im Raum, der selbst von der Brüchigkeit des Ganzen Auskunft gibt. Der frühere Radio-Bremen-Redakteur und zeitweilige Bordseelsorger auf der "MS Delphin Voyager" Ezzelino von Wedel schreibt in seinem Reise-Blog des Norddeutschen Rundfunks Anfang Mai 2008 über seine Besuch in Lissabon:
Ich hatte ohne Kenntnis der Beschreibung von Wedels vor Ort einen nahezu analogen Eindruck. Beim Betreten der Kirche ist man erst einmal verwirrt vor allem, wenn man nicht weiß, was einen erwartet. Dann ist man aber eigentümlich angezogen von diesem Raum, es entsteht ein Raumgefühl, das zwischen dem gesamten Raumeindruck der vom Ruinösen bestimmt wird - und den einzelnen Anbetungsstätten oszilliert. Eine Faszination, die sich gerade nicht bloß singulär aus der Konstruktion des Raumes, sondern aus dem Zusammenspiel von subjektiver Raumnutzung und der scheinbaren Brüchigkeit der Raumkonstruktion ergibt. Ästhetisch erinnert das Ganze vielleicht am Ehesten an Olaf Metzels Kunstwerk in der Taufkapelle der St. Erpho-Kirche in Münster im Rahmen des Skulptur. Projekte 1987: "Er bearbeitete die Wände der Kapelle mit Werkzeugen auf eine Weise, dass das rote Ziegelmauerwerk freigelegt wurde. Die als Wunden in der Wand erscheinenden Zeichen kontrastierten in ihrer Kargheit wohltuend mit dem Mobiliar der Kirche." Was bei Metzel künstlerische Intervention war, ist in der Igreja do Convento de Sao Domingos das Ergebnis zeitgeschichtlicher Ereignisse, aber natürlich auch bewusste Entscheidung der Gemeinde vor Ort, die nicht die ästhetisch ausgezeichnete Rekonstruktion wollte, sondern sich dem Gewordenen aussetzt. Und das Verblüffende (oder vielleicht auch gar nicht so Verblüffende) ist, dass es auf die Resonanz der Gläubigen stößt, dass also etwas in dieser Atmosphäre das religiöse Gefühl anspricht. RezeptionsästhetikDie Mehrzahl der theologischen Raumtheorien, die auf die konkrete Rezeption einer Kirche verweisen, macht dies, um zu zeigen, dass sich vor Ort die Theorie der Theologen nicht mit der Praxis der Laien in Übereinstimmung bringen lässt. Man zeigt dann gerne, dass die neutestamentliche Theologie zwar keine heiligen Orte kenne, die Menschen aber Sehnsucht nach diesen Orten zeigen würden. Das ist sicher ab und an wahr. Kontrovers ist, welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind. Was aber wäre, wenn die konkrete Rezeption diesen Verweis unterläuft, wenn die Menschen weniger und nicht mehr „offizielle“ Inszenierung wollen? Im Wiener Stephansdom, darauf hatte ich an anderer Stelle verwiesen, hält sich die Volksfrömmigkeit auch nicht an die offizielle Inszenierung, sondern schafft sich ihre eigenen Andachtsräume im Eingangsbereich der Kirche. Eine Art Abstimmung mit den Füßen. Das Beispiel der Igreja do Convento de Sao Domingos ist aber noch viel weiter gehender: Hier zeigt sich der Trend zur individuellen Frömmigkeit jenseits aller offiziellen Inszenierung. Nicht des heiligen Ortes bedürfen die Menschen, sondern eines religiösen Raumes. Sie brauchen (immer) weniger offiziellen Kult und mehr individuelle Bezugspunkte. Natürlich war das mit den Heiligen als Ansprechpartnern im Kult immer schon angelegt. In der Igreja do Convento de Sao Domingos aber setzt sich die religiöse Individualisierung gegenüber dem ursprünglichen Rahmen durch. Dass die Menschen eher in die ruinierte Igreja do Convento de Sao Domingos gehen als in die oben abgebildete prunkvoll vergoldete Jesuitenkirche Igreja de São Roque (die bei unserem Besuch nahezu leer war) kann ich natürlich nicht beweisen. Der sich wiederholt findende Hinweis auf die Beliebtheit der Igreja do Convento de Sao Domingos stützt aber die These. Wie lesen die Nutzer ihre Kirche? Die Zahl der Bettler vor der Igreja do Convento de Sao Domingos spricht dafür, dass diese davon ausgehen, dass ihr Anliegen hier auch Gehör findet. Vor anderen Kirchen gab es auch Bettler, aber das waren eher die institutionalisierten Bettler, die man vor jeder Kirche findet. Vor der Igreja do Convento de Sao Domingos aber ging es um Obdachlose und andere Notleidende. In der Kirche selbst waren nach meinem Eindruck wenig Touristen, aber zahlreiche Lissabonner, allem Anschein nach eher einfache Angestellte und Hauspersonal und natürlich viele ältere Frauen. Sie verteilten sich im Raum im Bezug auf die jeweiligen Heiligen an den Wänden (von Seitenaltären zu sprechen wäre etwas zu übertrieben.) Auch an den Stellen in der Kirche, an denen die Bauschäden offensichtlich waren, befanden sich nicht weniger Menschen. Es gab keine Hektik in der Kirche, sondern es war eher ruhig und meditativ eine dichte Atmosphäre. Ich vermute, die Besucher empfinden diese Kirche als Kirche für sie und nicht als Repräsentanz der Kirche als Institution. Zugleich zeigt diese Kirche eine ganz neue Art der Erfahrungsgebundenheit, indem sie ihre Verletzungen nicht mehr verbirgt, sondern offen legt (man könnte an Johannes 20, 25 denken). Um auch das noch einmal abzugrenzen und klarzustellen: Diese Kirche war nicht schmuddelig oder verkommen, so wie etwa unzählige Kirche in Deutschland, die ihren Gemeinden gleichgültig geworden sind und nun im tristen Alltag mit nicht genutzten Stühlen, Brot-für-die-Welt-Plakaten, Hungertüchern, Veranstaltungsankündigungen und Staubsaugern vollgemüllt werden. Diese Kirche war im Gebrauch. Und zu den rahmenden Bedingungen ihres Gebrauchs gehörte offenkundig ihre Fragmentarität. Epilog: Theologie der Ruine IIDas Erdbeben …Das Erdbeben von Lissabon 1755 war vielleicht eine der zentralen Differenzerfahrungen in Europa. Seinerzeit ging mehr in Schutt und Asche als nur eine Stadt, es war in gewisser Hinsicht die Erschütterung der optimistischen Weltsicht. Aber auch das ist bereits ein ästhetisch inspiriertes und inszeniertes Bild der Geschehnisse wie Gerhard Lauer hervorgehoben hat:
Für Lauber ist Lissabon bereits ein modernes Medienereignis: „Von dieser Katastrophe gibt es fast nur Deutungen, kaum Augenzeugenberichte, die nicht schon von den philosophischen und theologischen Diskursen überschrieben wären.“ Das heißt, mit dem Erdbeben von Lissabon wurde die Erosion des theologisch vermittelten optimistischen Weltbildes nur offenkundig, und die aufklärerischen Philosophen nutzten das Ereignis als medial gut zu vermittelndes Argument. „Das Erdbeben von Lissabon“ wurde zur rhetorischen Figur. Überdies konnten die Aktionen des Marquês de Pombal, der Lissabon wiederaufbaute und sich an den Ideen der Aufklärung orientierte, zu Recht eben auch so gelesen werden, dass es besser war, sich auf die menschliche Vorsorge zu verlassen als auf die providentia dei entsprechend hatte ja auch Kant argumentiert. … ohne KonsequenzenAber auch danach wurden weiter triumphalistische Kirchen gebaut, Kirchen deren symbolischer Gehalt die Einheit, die Stimmigkeit und das hierarchische Priester-Laienverhältnis ist, mit anderen Worten, Kirchen die durch ihre Pracht die Menschen ebenso beeindrucken wie blenden sollten. Aber diese Kirchen können, dass ist meine Vermutung, auf Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre ästhetische Gestalt sich einer völlig anderen Theologie verdankt, als sie im 20. und 21. Jahrhundert noch vertreten werden könnte. Implizit kommt es so zu einem Form-Inhalt-Konflikt, der zur Historisierung der theologischen und religiösen Überlieferung beiträgt. Gerade indem der Kirchenbau an der formalen Konstruktion der Perfektion, der Ostentation und der Einheit festhält, gerät er in Widerspruch zur zeitgenössischen Botschaft. Kirchenbau im 19., 20. und 21. Jahrhundert gerät so zu einer Beschwörung einer Situation, die gesellschaftlich wie theologiegeschichtlich nicht mehr gegeben ist. So wie heute Paul Gerhardt oder Johann Sebastian Bach vergöttert werden, so wird einem auch eine bauliche Gestalt angedient, die der Verklärung und nicht der Einsicht dient, wofür nicht zuletzt die neu erstandene Dresdner Frauenkirche als Beispiel dienen kann. Soll so die formale Gestalt der evangelischen Theologie des 21. Jahrhunderts aussehen? Oder ist dies nur eine verklärte Rückprojektion, welche „Schönheit und Gestalt“ die evangelische Kirche einmal hatte? Abschließende Thesen: Fragmentarische Theologie in fragmentarischen KirchenMeine erste These ist, dass die Igreja do Convento de Sao Domingos in Lissabon bereits eine Ruine war, lange bevor sie 1959 zum zweiten Mal zur Ruine wurde. Meine zweite These lautet, dass die Attraktivität der Kirche nach 1959 daher rührt, dass nun die Form mit dem Inhalt übereinstimmt. Seit 1755 und spätestens seit Auschwitz können Theologie und Verkündigung nur noch fragmentarisch, nur noch gebrochen, nur noch mit einem Riss, nur noch auf der Grenze gedacht werden.
Was Henning Luther 1985 unter dem Titel „Identität und Fragment“ schrieb, hat nie in die raumtheologischen Reflexionen der protestantischen Theologie, geschweige denn in die des zeitgenössischen Kirchenbaus Eingang gefunden. Zu Unrecht. Gegenüber aller Glätte und Perfektion, die zeitgenössische Kirchengestaltung auszeichnet, ist das Fragmentarische und Ruinöse von einer überraschenden Lebendigkeit. Es geht nicht um das historistische Produzieren von Ruinen, sondern um das Belassen und Werden von Ruinen. Die bewusste Ruine ist zugleich Differenz-Bewusstmachung in einer Welt, die immer noch so tut, als lebten wir in der besten aller Welten. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/56/am261.htm
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