Pacman-Christentum

Blinky, Pinky, Inky und Clyde twittern die Bibel

Andreas Mertin

Es gibt zwei unterschiedliche Formen des Umgangs mit neuen Technologien: die progressive im Sinne der Erschließung neuer Möglichkeiten und neuer Frei(heits)räume und die reaktionäre im Sinne der Stabilisierung vorhandener Machtstrukturen. In aller Regel sind beide Formen unterschiedlich dominant miteinander verbunden. Man kann neue Technologien zur Erweiterung der Grenzen des Bestehenden nutzen (und stabilisiert es damit natürlich auch) oder man kann es zur Formierung des Bestehenden verwenden (und bildet so Reibungsflächen mit den die Grenzen überschreitenden Potentialen der neuen Technik).

Diese Dialektik kann man sehr gut am Umgang mit dem Internetdienst Twitter beobachten: er kann ebenso gut Überlebensmittel wie Verdummungsinstrument sein. Und wir sind im Augenblick Zeugen, wie sich beides vollzieht. Im Iran zeigt sich, wie im Moment der äußersten Bedrängnis eine junge, mit der neuen Technik aufgewachsene Generation diese nutzt, um ihren Ruf nach Freiheit, ihren Anspruch auf ihre legitimen demokratischen Rechte weltweit zu kommunizieren. (Weiteres dazu in diesem Heft in meinem Beitrag „they are screaming like a banshee … Stichworte zur Revolution 2.0“)

Auf der anderen Seite sehen wir zeitgleich, wie die Evangelische Kirche in Deutschland dasselbe technische Medium zur Verdummung und zur Formierung des Bestehenden einsetzt. Auf dem Evangelischen Kirchentag in Bremen konnte man auf der Medienmeile eine aufgeregte Schar junger Leute beobachten, die – verfolgt von einem eigenen Kamerateam – Zettel an die Vorbeieilenden verteilten und dabei insbesondere Jugendliche ansprachen. Sie kamen von einem Stand, der einen Internetauftritt ankündigte, mit dem die Evangelische Kirche in Deutschland ab Herbst 2009 weltweit erläutert, was evangelisch ist: www.evangelisch.de. Die Truppe war, um ihre Botschaft unter das Volk zu bringen, mit extrem viel Promo-Material ausgestattet. In Bremen ging es nun darum, – ganz im Sinne dessen, was Evangelisch heute bedeutet? – einen Weltrekord zu Stande zu bringen. Und das hieß: innerhalb einer gesetzten Frist die gesamte Bibel zu twittern. Was heißt twittern? Die populärkulturelle Wikipedia erklärt es so:

„Angemeldete Benutzer können eigene Textnachrichten mit maximal 140 Zeichen eingeben und anderen Benutzern senden. Der Herausgeber der Nachricht steht auf der Webseite des Dienstes mit einer Abbildung als alleiniger Autor über seinem Inhalt. Die Beiträge sind häufig in der Ich-Perspektive geschrieben. Das Mikro-Blog bildet ein für Autor und Leser einfach zu handhabendes Echtzeit-Medium zur Darstellung von Aspekten des eigenen Lebens und von Meinungen zu spezifischen Themen. Kommentare oder Diskussionen der Leser zu einem Beitrag sind möglich. Damit kann das Medium sowohl dem Austausch von Informationen, Gedanken und Erfahrungen als auch der Kommunikation dienen. Die Tätigkeit des Schreibens auf Twitter wird umgangssprachlich als „twittern“ bezeichnet.“ (Wikipedia, Art. Twitter)

Wenn man das mit dem in Beziehung setzt, was der Einsatz des Protestantischen in der Welt ist (sola scriptura -  sola fide - sola gratia - solus Christus), dann wird einem sofort fraglich, was denn der Sinn der Bibeltwitterei sein könnte. Ich greife noch einmal auf die populärkulturelle Wikipedia zurück:

Luther versuchte durch das „sola scriptura“ einen verlässlichen, unveränderlichen Maßstab in der theologischen Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Kirche zu finden, da sich menschliche Urteile im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder als irrend herausgestellt hätten. So sei es im Spätmittelalter durch die Verwendung des vierfachen Schriftsinns zu einer enormen Vielfalt von Auslegungen der Schrift gekommen. Somit wurden auch Bräuche und Lehren begründet, die sich völlig vom biblischen Zeugnis entfernt hätten ... Diesem Zustand wollte Luther entgegenwirken. (Wikipedia, Art. Sola scriptura)

Und nun geht die EKD also hin und lässt die Bibel twittern. Die gesamte Bibel wird in 4000 Abschnitte unterteilt und diese sollen dann auf 140 Zeichen-Fragmente herunter gebrochen werden. Das kennen wir ja aus der Schule: Fass das mal in einem Satz zusammen. Das hat schon zu meinen Schulzeiten in den 70er-Jahren zu ironischen Kommentierungen geführt. Eine Zusammenfassung von Schillers „Der Taucher“? Gluck, gluck, weg war er. Intuitiv erfasst man, dass so der Sinn eines Textes verfehlt wird, weil er auf abstrakte Botschaften reduziert wird.

Und nun macht die EKD das Gleiche mit der Bibel. Es ist ein Skandal. Man konnte bisher die Trivialisierungen der Bibel durch Projekte wie die Volxsbibel als Randphänomene des evangelikalen Protestantismus beschreiben und auch hinnehmen. Nun aber wird die Programmatik der Volxsbibel – kleinbürgerlich und technoid angepasst – zur Programmatik der EKD. Angesprochen auf diesen Skandal antwortete einer der Programmierer: Wieso? Twittern sei doch im Augenblick der absolute Hype!

Wer sich einen Begriff von den Verstümmelungen machen will, kann das zum Beispiel hier tun. Unter der Überschrift „Bibel-Rekordversuch“ wird dort das 1682te Puzzleteil der Bibel um 90% gekürzt und auf die Erkenntnis herunter gebrochen:

Hiob klagt in heftigen Worten über sein Leid. Aber er gibt Gott nicht auf: Seine Adresse für Klage und Erwartung der Erlösung vom Leid.“

Dieses Erbrochene hat nur noch wenig mit dem zu tun, was man sich vorher als Lektüre (in einer freilich schon verderbten und christlich zugerichteten Textgestalt) zu Gemüte geführt hat:

Mein Odem ist zuwider meiner Frau, und den Söhnen meiner Mutter ekelt's vor mir. Selbst die Kinder geben nichts auf mich; stelle ich mich gegen sie, so geben sie mir böse Worte. Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel in Blei geschrieben, zu ewigem Gedächtnis in einen Fels gehauen! Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust. Wenn ihr sprecht: Wie wollen wir ihn verfolgen und eine Sache gegen ihn finden!, so fürchtet euch selbst vor dem Schwert; denn das sind Missetaten, die das Schwert straft, damit ihr wisst, dass es ein Gericht gibt.

Machen wir uns klar, worum es im biblischen Text geht. Es ist die Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen dem leidenden Hiob und seinen Freunden und zugleich die Zuspitzung des Konfliktes zwischen Hiob und Gott. Hatte Hiob Gott schon im 9. Kapitel scharf angeklagt (Die Erde ist in verbrecherische Hand gegeben), so schildert er nun im 19. Kapitel seine absolute Verlassenheit – von seinen Freunden und von Gott. Und dann folgt geradezu paradox der Satz: „Ich weiß es: Es lebt, wer mich auslöst, und erhebt sich zuletzt auf dem Staub.“

Das ist die Stelle, an der sich Ernst Bloch in seinem Buch „Atheismus im Christentum“ abarbeitet, die er mit Gerhard von Rad als Höhepunkt im Ringen Hiobs beschreibt. Schon Ernst Bloch polemisierte gegen die verdummende „kirchenchristliche Harmonisierung“, die an dieser Stelle vom Erlöser schreibt und damit die Herausforderung wegwischt. Für Bloch kann der Löser, der Bluträcher im Text nicht mit Gott identisch sein. Darüber kann und muss man diskutieren.

Die Bibeltwitterei macht aus dem Ganzen dann aber einen Sinnspruch evangelikaler Traktatliteratur. Das ist barbarisch! Wo eben noch der Sinn der ganzen Welt, das Schicksal des Einzelnen, ja die Existenz Gottes auf dem Spiel stand, da wird der Bibelvers nun zum Tranquilizer mit garantiertem Therapie-Erfolg: Hiob gibt Gott nicht auf: Seine Adresse für Klage und Erwartung der Erlösung vom Leid.

Das wird von der gleichen EKD verantwortet, die die Bibel in gerechter Sprache als nicht zuträglich für die Gemeindepraxis erklärte, die dekretierte, man dürfe ein solches Buch nicht im Gottesdienst einsetzen, denn es sei nicht von ihnen autorisiert. Und nun lassen sie die Bibel twittern und verkaufen einem das als missionarischen Erfolg. Ich halte das Ganze für paradigmatisch für die gesamte EKD in der Gegenwart. Einfache, überschaubare Botschaften statt komplexer Zusammenhänge. Reduktion auf Logos statt Explikation der Botschaft. Wo die Menschen im Iran Twitter nutzen, um ihrem Schrei weltweit Ausdruck und Gehör zu verschaffen, nutzt die EKD das gleiche Medium um die Bibel um ihre sprachliche Gestalt zu bringen und den Schlagzeilen der Bildzeitung anzupassen.


Wer nun meint, die Twitterei der Bibel sei ein einmaliger Ausrutscher, dem seien die Videoclips der EKD unter der Rubrik „e wie evangelisch“ zur grausamen Lektüre empfohlen. Dieses Verdummungsprogramm läuft unter folgendem Teaser:

Schnelle Schnitte, kurze verständliche Erklärungen, eine klare, dem Volk verständliche Sprache – und alles darf nur so lang sein, dass sich es junge und jung gebliebene Menschen auf ihren dauerhaften Begleiter – das Handy – laden können. Mit den E-wie-evangelisch-Videoclips werden Glaubensfragen kompetent aufbereitet, um den Nutzern wichtige Impulse zu geben.

Markus Mürle, der mich auf diese Machwerke aufmerksam machte, schrieb mir dazu: „Ich werde den Eindruck nicht los, dass die kirchlichen Produzenten sich hier medientechnisch einem vermeintlichen Mainstream andienen - und gleichzeitig "dem Volk" sagen wollen, wo's lang geht ("wichtige Impulse" - wofür?). Beides geht in die Hose: Ersteres kommt immer zu spät und wirkt deshalb anbiedernd. Letzteres konstruiert ein Gefälle, statt ein Gespräch zu eröffnen: Den "jung und junggebliebenen" Rezipienten wird eine sagenhafte Blödheit unterstellt; Geistliche Experten erklären dann mit vermeintlich punktgenauen Definitionen den Kosmos aus e-Perspektive. Fazit: e-wie-eng. Evangelisch wirkt, wie so oft, im besten Fall irgendwie gut gemeint - und voll daneben.“ Recht hat er.

Videoästhetisch sind die Clips so misslungen, dass es einen schaudert. Mit dem, was im Bereich der Videoclips heute produziert wird, haben sie gar nichts zu tun. Und inhaltlich sind sie von einer Komplexitätsreduktion gekennzeichnet, die die ganze Verachtung für die Menschen, an die sie gerichtet sind, offenbart: So stellen sich unsere Kirchenoberen Die Bibel für Dummies vor. Das richtet sich an dieselben Jugendlichen, die sich hochkomplexe Videos wie „What Else Is There“ von Royksopp, "Until it sleeps" von Metallica, "The hearts filthy lesson" von David Bowie, Madonnas "Like a prayer" oder "Losing my religion" von REM anschauen.

Nun aber bekommen sie eine oberkirchenrätliche Belehrung darüber, was das Abendmahl sei oder eine bischöfliche Aufklärung, was es mit der Rechtfertigung auf sich hat. Aber was man dann geboten bekommt, sind bloß Phrasen.

Lange hat man Witze über das Fernsehen gemacht. Dass es zunächst ein gebildetes Programm für Gebildete gewesen sei, dann ein Programm von Gebildeten für Dumme und nun ein Programm von Dummen für Dumme. Mit viel mehr Recht könnte man dies freilich für die Vermittlungsbemühungen der EKD in der massenmedialen Kommunikation sagen. Diese Anpassungsstrategien haben Rückwirkungen auf die Botschaft: sie wird zur Plattitüde.

Nach dem Baedeker-Christentum kommt nun also das Pacman-Christentum. Meine Vermutung lautet: Blinky, Pinky, Inky und Clyde tummeln sich gar nicht auf der Rezipientenseite, sondern sind digitale Repräsentanten der geistigen Verfassung unserer Kirche.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/60/am292.htm
© Andreas Mertin, 2009