Paradigmen theologischen Denkens

Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben

Stefan Schütze

4. Weiterführung: Die Aufgabe heutiger theologischer „Rekonstruktion“ nach Gordon D. Kaufman

Lektürebasis:

Wenn Cantwell-Smiths These richtig ist ist, dass der Transzendenzbezug des Menschen zwar zur „conditio humana“ gehört, dass aber alle unsere Konzeptualisierungen einer solchen Transzendenzerfahrung kontingente, geschichtliche, sowie zeit- und perspektivgebundene menschliche Formulierungen sind, dann hat das erhebliche Konsequenzen für Methode und Selbstverständnis der Theologie und aller religiösen Welterklärung.

Diese Konsequenzen hat in besonderer Stringenz der amerikanische Theologe Gordon D. Kaufman systematisch formuliert, zuerst in seinem „Essay in Theological Method“ (1975, 3rd edition 1995), dann weiter geführt in seinem „The Theological Imagination: Constructing the Concept of God (1985) und schließlich zusammenfassend im ersten Teil seines „In Face of Mystery: A Constructive Theology“ (1993).

Nach Kaufmans Verständnis muss die Aufgabe theologischer Arbeit heute nicht mehr in erster Linie hermeneutisch, als die interpretierende Vergegenwärtigung einer „autoritative tradition“ und ihres Niederschlags in einer „Heiligen Schrift“ beschrieben werden, sondern konstruktiv als mit einer „critical analysis of those texts“ verbundenes „fresh creative thinking“.[1] Die „sacred texts“ der Religionen, auch die christliche Bibel, werden hier also nicht mehr verstanden als dem menschlichen Denken vorgegebene Wahrheitsquellen mit Bezug auf eine übergeschichtliche göttliche „Offenbarung“, sondern selbst als durch und durch geschichtliche Dokumente menschlicher religiöser Erfahrung und Weltorientierung.

Im Abschnitt „The Development of My Theological Thinking: Two Themes“ in „In the beginning … creativity“ (2004) fasst Kaufman seinen Ansatz selbst so zusammen: „Theology is here acknowledeged as through-and-through human work, a constructive activity of the imagination“[2]. Das heißt: „all speaking and thinking of God, even of the most simple and unsophisticated sort – our prayers to God, our worship of God, our reflection on God – presupposes constructive imaginative activity and would be impossible without it.“[3] Theologie als wissenschaftliche Reflexion solcher „human religious constructions“ hat dann die Aufgabe, Kriterien zu entwickeln, „norms for judging the effectiveness and validity with which this imaginative work has been carried out in the past“, und für die angemessene Wahrnehmung der Aufgabe „to carry through this constructive work today“.[4]

Nun hat sich aber bei der Durchführung unserer religiösen „Konstruktion“ die Sicht auf Welt und Menschen seit der Zeit der Bibel und der anderen „heiligen Schriften“ der großen Religionen grundlegend verändert. Die klassischen christlichen theologischen Konstruktionen arbeiten unter der Voraussetzung eines eher statischen, „zweistöckigen“ Weltbilds von Natur und Übernatur. Dabei ist ihr Gottesbild durchweg anthropomorph und ihr Weltbild durchweg anthropozentrisch. Dieses Welt- und Gottesbild ist aber für heutiges Denken nicht mehr plausibel. Es hat durch die Aufklärung sowie die moderne Wissenschaft und Religionskritik gewissermaßen eine „Dekonstruktion“ (mein Begriff, nicht der von Kaufman) erfahren. In unserer modernen Kosmologie ist die Erde nicht mehr der Mittelpunkt des Universums, und der Mensch erst eine sehr späte Erscheinung am Rande der jahrmilliardenalten kosmischen Geschichte. Seine „Erschaffung“ verstehen wir heute im Rahmen der Evolutionstheorie, die ihn zutiefst in die natürliche Ordnung aller Dinge einbindet und zum kleinen Teil einer viel umfassenderen kosmischen Wirklichkeit macht. Deshalb greifen auch ansonsten wegweisende klassische theologische Rekonstruktionsversuche, wie das Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns, zu kurz, weil sie das dualistische Gegenüber von Gott und Welt immer noch aufrecht erhalten, wodurch sie in ihrer „existentialistischen Interpretation“ der alten religiösen Konstruktionen immer noch antrophozentrisch bleiben, und die moderne Kosmologie ausblenden.

Gefragt ist heute darum eine noch sehr viel umfassendere theologische „reconstruction“, die von Gott im Rahmen der gesamten kosmischen Geschichte seit dem Urknall spricht, und die alten anthropomorphen, anthropozentrischen und dualistischen Konzepte auf dieser Basis konsequent kosmologisch, geschichtlich und „holistisch“, d.h. ohne Rest eines supranaturalistischen „Überbaus“ reinterpretiert. Kaufman schreibt dazu: „theologians should attempt to construct conceptions of God, humanity, and the world appropriate for the orientation of contemporary human life. In and through such theological construction – carried out with whatever moves of imaginative construction we can bring to the task, and with as much methodological self-consciousness as e can muster – it is hoped that the most serious problems confronting us humans today can be identified, and that we may gain some insight into appropriate ways to adress them.“[5]

Dabei geht es Kaufman gerade nicht um einen die Tiefe der Welt in reduktionistische Oberflächlichkeit auflösenden Rationalismus ohne Gespür für das Heilige und Wunderbare, das menschliches Vermögen Übersteigende und Mystische. Vielmehr geht es ihm um die Dimension des Geheimnisses in und hinter aller Erfahrung, um die Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens und das Staunen über „Gott“ als dem „Geheimnis der Welt“[6]: „As I have been suggesting throughout, theological work must be carried out with full awareness that ultimately human life is ensconed in mystery, and this must properly qualify and relativize all our theological claims.“[7]

Insofern zielt auch für ihn, wie für Cantwell-Smith, die Formulierung („construction“) theologischer und religiöser Konzepte (in der Terminologie von Cantwell-Smith „believes“) letztlich auf „Glauben“ – denn gerade an der Grenze aller menschlichen Sprech- und Konstruktionsversuche kann uns das Wunder berühren, „that ‚grace’ may break through the mystery that establishes and sustains us, creating in us the new modality of existence which we call faith“.[8] – das Wunder des Glaubens, das uns in unserer Welt nicht nur mit „wonder and awe and bafflement“, sondern mit „trust and confidence as well“ leben lässt – eben „in Face of Mystery“, das all unser Denken und Begreifen unendlich übersteigt.[9]



[1]   Kaufman, Mystery, 18

[2]   Kaufman, Creativity, 120

[3]   Kaufman, Creativity, 121

[4]   Kaufman, Creativity, 121

[5]   Kaufman, Mystery, 31

[6]   vgl. den entsprechenden Buchtitel von E. Jüngel „Gott als Geheimnis der Welt“ (Tübingen 7/2001); ich greife hier seine Metapher, nicht ihre weitere Ausführung durch ihn auf.

[7]   Kaufman, Mystey, 31

[8]   Kaufman, Mystery, 57

[9]   Kaufman, Mystery, 59

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/65/sts1e.htm
© Stefan Schütze, 2010