Paradigmen theologischen Denkens


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Paradigmen theologischen Denkens

Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben. Teil III

Stefan Schütze

1. Die „anatheistische“ religiöse Denkbewegung nach Richard Kearney

Lektürebasis:

Richard Kearney, Anatheism: Returning to God after God. New York 2010

Das, was ich in meinen „Paradigmen“-Artikeln meine „Suche nach einem für mich heute sag- und tragfähigen Glauben“ genannt habe, bezeichnet Richard Kearney in seinem Buch: „Anatheism. Returning to God after God“ als die „anatheistische“ religiöse Denkbewegung, die nach den unvermeidlichen „notwendigen Abschieden“ von alten, supranaturalistischen und ontotheologischen Gottesvorstellungen im Sinne von Ricoeurs „zweiter Naivität“ eine neue Redeweise von „Gott“ bzw „dem Göttlichen“ sucht, die die Funktion und Kraft zur Lebensorientiertung der alten, nach dem „Tod des moralischen Gottes“ (Nietzsche) und dem „Ende der Metaphysik“ (Heidegger) so nicht mehr möglichen supranaturalistischen Gottesrede bewahrt, aber im Rahmen eines modernen bzw. postmodernen Verständnisses von Welt und Geschichte (nach McFague „not the only one or the permanent one, but the best we have at the present time[1]) refiguriert und umfassend transformiert.

Die Darstellung und Reflexion dieses neueren programmatischen Entwurfes im Blick auf die transformative religiöse Denkbewegung, um die es mir insgesamt in meinen drei „Paradigmen“-Artikeln geht, soll als „Grundausrichtung“ für das Folgende diesen dritten Teil meiner „Paradigmen theologischen Denkens“ einleiten, bevor ich einzelne weitere aus meiner Sicht für eine heute „trag- und tragfähige“ Reformulierung des Gottesgedankens weiterführende Grundlagenwerke vorstelle und auswerte, die alle für mich als weitere tastende Denkversuche und „proposals to be tested“[2] diese „anatheistische“ Grundausrichtung mit weiteren konkreten möglichen Inhalten ausfüllen.

Richard Kearney stellt in „Anatheism“[3] die Frage, wer oder was nach dem Abschied von einem supranaturalistischen, metaphysischen Gott den dadurch leeren Platz im Leben und Glauben der Menschen ausfüllen kann. Denn das „Ende der Metaphysik“ ist nicht das Ende der Religion oder der Gottesfrage. Sei es Martin Heideggers „letzter Gott“, Emmanuel Levinas’s „God of Infinity“ oder Jacques Derrida’s „tout autre“, „Gott“ kehrt auch ins postmoderne Denken wieder und wieder zurück, als die Erfahrung von „Alterität“ und „des Fremden“, als die Oberfläche des Lebendigen immer wieder in seine Tiefe transzendierendes „surplus of meaning“ (Ricoeur), als die unauslotbare Dimension eines ungesagten und unsagbaren Geheimnisses an der Grenze der Sprache und der von ihr erschlossenen Welt.

Kearney geht es darum, einen „dritten Weg“ zu beschreiben jeneits des dogmatischen Theismus, genauso wie jenseits eines doktrinären Atheismus, einen Weg, den er „Anatheismus“ – die Rückkehr zum Göttlichen nach Gott – nennt. „Anatheism is a freedom of belief that precedes the choice between theism and atheism as much as it follows in its wake. The choice of faith is never taken once for all. It needs to be repeated again and again - every time we speak in the name of God or ask God why he has abandoned us."[4]

Kearney deutet die religiöse Situation der Gegenwart als das Leben in einem „Zwischenraum“ – dem Raum zwischen dem „Tod des Gottes der Metaphysik“ und der Wiederkehr des Gefühls für das Heilige und eine letzte Tiefe der Wirklichkeit. Nach Auschwitz und Hiroshima, und den Verbrechen, die Menschen bis heute immer wieder „im Namen Gottes“ verüben, sind der traditionelle Theismus und seine Versuche der „Rechtfertigung“ eines guten und allmächtigen Gottes angesichts der Leiden in der Welt für viele Menschen nicht nur geschichtlich diskreditiert, sondern auch ethisch nicht mehr vertretbar geworden. Am Beispiel von Hannah Arendt, Walter Benjamin, Emmanuel Levinas, Jacques Derrida, Dietrich Bonhoeffer und Paul Ricoeur zeichnet Kearney diese unumkehrbare Abkehr vom theistischen Gottesglauben nach.

Unsere Gegenwart sieht Kearney geprägt von dem Paradox einer „Rückkehr der Religion“ in der jüngeren abendländischen Philosophie auf der einen Seite, und von der agressiven Religionkritik des sogenannten „Neuen Atheismus“ auf der anderen. Kearney erkennt die Berechtigung großer Teile der neuen Religionskritik an: „Here it is important to take seriously the recent campaign against religion by liberal critics like Hitchens, Dawkins, and Dennett. Much of their indignation is aimed at the deleterious delusions of theism, and these have been many. The litanies of deception and domination carried out in the cause of religion are legion. And I agree with Dawkins that the idea of God as a superterrestial ‘superintendent’ of the universe, who controls and determines our actions, needs summary debunking. It is essential to say ‘no’ to these aberrations of religion. But it is not enough."[5]

Anatheism ist für ihn darum kein „Zurück“ hinter die berechtigte alte und neue Religionskritik, sondern eine Suche nach einer neuen Rede vom „Heiligen“ jenseits der Aporien des bisherigen Theismus und Atheismus: „This book is not interested in the scientific hypothesis of God’s existence. Following in the wake of my earlier book, The God Who May Be, it does not aim to prove the metaphysical status of a supernatural Being residing in some celestial heaven and superintending the world. Anatheism goes beyond such metaphysical (or pseudoscientific) claims and focuses instead on the meaning of the sacred - after one has abandoned illusions of the Alpha God - for one’s ethical and poetical existence. The wager on the stranger - as infinite Other incarnate in finite others - is a wager based not on a logic of calculation or probability (Pascal) but on a phenomenological testimony of goodness."[6]

Die „anatheistische“ Option, wie Kearney sie versteht, ist dabei keine „neue Erfindung“ der Postmoderne, sondern eine Glaubensbewegung, die sich immer schon in der Bibel und der jüdisch-christlichen Tradition findet, besonders in der Nähe ihrer mystisch-apophatischen Traditionen: „My wager throughout this volume is that it is only if one concedes that one knows virtually nothing about God that one can begin to recover the presence of holiness in the flesh of ordinary existence. Such holiness, I will suggest, was already there — only we didn’t see, touch, or hear it. This is what Jacob discovered after he wrestled with the stranger through the night, realizing at dawn that he had seen the face of God. It is what the disciples of Jesus discovered after they had walked with the stranger down the road to Emmaus before recognizing, retrospectively, after the breaking of bread, that this wanderer was their risen rabbounai. And it is a lesson recorded by many great mystics who traversed the ‘dark night of the soul’ before discovering, like Teresa of Avila, that divinity dwells in the ‘pots and pans.’"[7]

Negative Theologie ist ein wichtiges kritisches Moment der „anatheistischen“ Bewegung, weil sie einer idolatrischen Verkehrung des Gottesglaubens und einer illusionären Metaphysik wehrt. Aber die Negation anatheistischer Theologie ist nicht die dogmatische Negation des Atheismus, sondern die methodische Negation eines kenotischen Gottesverständnisses, dessen Ziel ein vertiefter, kritisch rekontruierter Gottesglaube ist: „Ana-theos. The return to God after the disappearance of God. A new and surprising divinity that comes all the way back, in an instant, to where we were without knowing it. Eternity in the epiphany of each moment. Repeating, recalling, returning, again and again.“[8]

Diese anatheistische Glaubensbewegung ist tief verwurzelt im Judentum und Christentum, aber eine „interconfessional hospitality“ wird sie auch in anderen religiösen Traditionen suchen und finden, nicht in einer essentialistischen Vereinheitlichung der sehr unterschiedlichen religiösen Suchwege der Menschheit, sondern durch „respecting the otherness of each other as much as acknowledging something common to all“. Gleichzeitig wird sie auch die Einsichten der Religionskritik früher und heute positiv integrieren. „That is why every religion needs to carry on a radical autocritique of its own violent tendencies if it is to rescue what in genuinely tolerant and emancipatory at its core.“[9]

Entscheidend für die anatheistische Glaubensbewegung ist also die „recognition of alterity“, die „experience of the stranger“, die im „opening to what is not ourselves“[10] ein „surplus of meaning“ (Ricoeur) entdeckt, „that exeeds all our different believes. A surplus that is Other than every other. More strange than even stranger.“[11] In dieser für die heilvolle Transformation des menschlichen Lebens konstitutiven Dimension der Alterität liegt nach Kearney auch der tiefste Grund, warum die anatheistische Bewegung nicht nur eine humanistische, sondern eine explizit religiöse Bewegung ist:

Die religiöse Wahrnehmung von „something ‚more’ in the stranger than the human is a way of acknowledging a dimension of transcendence in the other that – in part, at least – exceeds the finite presence of the person before me.“ Der Blick auf „das Andere“ im Anderen lädt uns ein „to have more hope, charity – and wonder – than we might have if we did not respond to something higher and deeper in the other person than what meets the eye. Something that summons us to greater heights and depths than are available at a purely humanist or natural level“.[12]

Anmerkungen

[1] McFague, Cosmology and Christianity, 26; vgl. auch Geerings Einordnung der heutigen wissenschaftlichen Weltinterpretation in das Ganze des Prozesses menschlicher Wirklichkeitsorientierung: „The history of our family, of our nation or of humankind itself, on which we draw for the understanding of our place in the universe, is still a story, a human and fallible construction; it is never final and is always open to review. Each generation has to write history afresh for itself. We are always having to revise the way we tell the story by which we live.“ (Tomorrow’s God, 33f.)

[2] Hefner, Human Project, 91

[3] Für die Darstellung von Kearneys „Anatheim“ stütze ich mich hier teilweise auf die im Internet veröffentlichte Besprechung von William Converse vom 9. Januar 2011 (http://info.cep.anglican.ca/2011/01/anatheism-return-to-god-after.html, Stand: Oktober 2011)

[4] Anatheism, 16

[5] Anatheism, 167

[6] Anatheism, 183

[7] Anatheism, 5

[8] Anatheism, 5

[9] Anatheism, 175

[10] Anatheism, 175

[11] Anatheism, 178f.

[12] Anatheism, 182; in diesem Sinne ist, wie Lloyd Geering es im Anschluss an Sallie McFague formuliert hat, „all reality“ auch in nach-theistischer Perspektive „nothing less than ‚the Body of God‘“, weil „Gott“ - als Symbol verstanden, das unsere Aufmerksamkeit auf die Dinge richtet „that we supremely value“ und „which make human existence meaningful and worthwile“ – in fundamentaler Weise unsere gesamte menschlich konstruierte Wirklichkeit bestimmt, so dass „there is no thing and no place in which we do not encounter this God“. (Geering, Tomorrow_s God, 194)

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/76/sts6b.htm
© Stefan Schütze, 2012