Paradigmen theologischen Denkens


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Paradigmen theologischen Denkens

Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben. Teil III

Stefan Schütze

5. Anhang: Ein abschließender kritischer Blick auf die sog. „Radikale Theologie“ Don Cupitts aus „anatheistischer“ Perspektive

Lektürebasis:

Trevor Greenfield, An Introduction to Radical Theology: The Death and Rebirth of God, Winchester 2006

Don Cupitt, Nach Gott. Die Zukunft der Religionen, München 2004

Don Cupitt, Radical Theology. Selected essays, Santa Rosa 2006

Abschließend zu diesem dritten Teil meiner „Paradigmen theologischen Denkens“ will ich noch eine kritische Verhältnisbestimmung zwischen der „anatheistischen“ Denkbewegung, wie ich sie hier dargestellt und bei verschiedenen weiteren theologischen Gegenwartsentwürfen festgemacht habe, und der Bewegung der sog. „Radikalen Theologie“ („radical theology“) um den aus England stammenden anglikanischen Priester und Theologen Don Cupitt und seine an einem „non-realistischen“ Gotteskonzept orientierten „Sea of Faith“ – Bewegung versuchen – als „Anhang“, weil ich meine, dass hier dem bisherigen Gedankengang nichts mehr wesentlich Neues hinzugefügt wird, aber dennoch ein Vergleich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider religiöser Denkbewegungen einige entscheidende (eben nicht einfach antidualistisch-monistische, sondern vielmehr komplextheologische und darum aus meiner Sicht weiterführende) Momente der „anatheistischen“ Glaubensbewegung noch deutlicher herausarbeiten kann.

Cupitt fasst seinen theologischen Ansatz selbst so zusammen: „We know only a human world. We have no direct access to anything absolute, objective, and outside language. We are only human. In the end, therefore, critical theology must reach the Sea-of-Faith position that all religion, including our own, is human historical creation, like art. As such it can and should be renewed and practised, but it cannot expect to be able to sail on unchanged. The churches were mistaken in supposing that they could safely tame critical thinking, and keep it in the house of God without any real damage.“[1]

Kritisches religiöses Denken führt dagegen, so Cupitt, tatsächlich in seiner Konsequenz zu einem Abschied von der Annahme eines real existierenden Gottes oder Göttlichen, und damit zu einer „non-realistischen“ Rekonzeption des Gottesgedankens. Was ein solcher Non-Realismus in der Gottesfrage bedeutet, fasst Greenfield in seiner Wiedergabe von Cupitts Gedanken so zusammen: „Non-realism proclaims the simple idea that an objective God does not exist, that he is made in the image of humanity, and not the other way round. However, it does not abandon the notion of deity altogether, but, rather holds to the idea that the word can be re-interpreted in such a way that it becomes possible to confess belief in God without believing in God’s existence. In much the same way, for example, that it is possible to confess belief in love without the corresponding requirement to assume that love exists objectively and independently somewhere in or out of the universe.“[2]

Auch eine non-realistische Interpretation des Gottesgedankens kann deshalb Theo-Logie, Gottesrede bleiben, weil die Gottesrede symbolisch religiöse Tiefendimensionen des Menschseins erschließen kann, die auch nach dem Abschied von einem realistischen Gottesglauben für die menschliche Lebenskonstruktion wichtig bleiben: „Gott“ lebt nach dem „Tode“ des realen Göttlichen dennoch weiter als non-reales höchstes menschliches Symbol unserer wichtigsten Werte und als poetischer Ausdruck unserer Lebensbejahung trotz seiner letzten metaphysischen Ungeborgenheit.

Cupitt selbst formuliert sein bleibendes religiöses Anliegen so: „The radical theologian … has passed through a moment of violent discontinuity“, aber hat dabei seinen Glauben nicht einfach aufgegeben, sondern „has struggled to remake or rediscover faith on the far side of the loss of faith.“ Er hat sich von der traditionellen Form christlichen Glaubens verabschiedet, aber bleibt doch ein Christ[3]. „Why? – because, paradoxically, the very considerations that caused the loss of faith then go on to recreate faith in a new and more powerful form.“[4] Der Mensch bleibt, auch nach seinem Abschied von Gott, „unheilbar religiös“, wobei Cupitt wie Schleiermacher diese apriorische religiöse Grundausrichtung des Menschen v.a. im Bereich eines menschlichen Grundgefühls gegenüber dem Universum festmacht: „So for me religion is cosmic feeling, seeking a satisfactory vocabulary in which it can express itself and come to a satisfactory understanding of and valuation of our human condition.“[5]

Auch eine solche „non-realistische“ Theologie „tackles“ die großen Grundfragen des Lebens, „how we are to describe and to come to terms with the basic metaphysical limits of our life“, mit dem menschlichen „one-way movement through time towards death, our constant vulnerability to chance and to our biological limitations, and our finite, imperfect knowledge and powers“. Religion hilft Menschen einen Weg zu finden „of saying Yes to life in the face of“ allem, was menschliches Leben fundamental begrenzt und bedroht.[6] Menschen brauchen eine spirituelle Daseinsvergewisserung, auch wenn sie heute wissen, dass diese nicht auf eine außer- bzw. übermenschliche Quelle zurückgeführt werden kann: „It is we human beings who together over the centuries have developed … the various ‚houses‘ of meaning and value within which peoples live. Religion is obviously a part of this process and indeed central to it. Like art, religion has mysterious depths even though, also like art, it’s just man-made. We are visionary animals, artists and mythmakers, who can live only in and through imaginary worlds. … It was we who built them to live in: now we must rebuild them.“[7]

Im Einzelnen enthält die „non-realistische“ bzw. „radikale“ Theologie Don Cupitts u.a. folgende weitere Beiträge für eine postmodern plausible „non-realistische“ Rekonstruktion einer religiösen Weltsicht:

„Radikale Theologie“ teilt mit der gesamten „Post-Moderne“ die non-fundationalistische Einsicht, dass „Wahrheit“, sei sie wissenschaftlicher oder religiöser Natur, nicht mehr in einer „timeless metaphysical world“ begründet werden kann, sondern als Teil eines „ungrounded, historically changing flux of human communication and practice“ betrachtet werden muss: „There are no objective Truths or unchanging Meanings. Everything is human, relative, dialectical and a matter of interpretation.“[8] Darum führt der Ansatz „Radikaler Theologie“ auch zu einem konsequent „symbolist and regulative view of religious truth“[9], bei dem auch religiöse „Wahrheit“ nichts Fixes und Statisches ist, sondern vielmehr wie das Evangelium und das Leben selbst eine Kraft, die sich immer wieder selbst erneuert und erneuert werden muss: „(T)he very nature of religious truth is that it must be continually rediscovered and reminted.“[10]

Die revisionistische Grundausrichtung Radikaler Theologie ist dabei in der Geschichte menschlicher Religiosität nichts Neues, sondern die verschiedenen religiösen Traditionen der Menschheit waren schon immer von einem revisionistischen Grundimpuls ihres Anfangs, und auch später von „many tensions, conflicts and differences“ bestimmt, deren Wahrnehmung aber historisch dann meist unterdrückt wurde. „Against this backdrop one can now see that in a sense there has always been radical theology. The creative individuals who initiated and who later enriched the traditions must themselves have been radicals, who critizised and departed from whatever tradition they received. And the newly-developing tradition itself always contains conflicts and tensions, which have a way of prompting later generations of radicals to point out (for example) the gap between the creativity of the Founders of Tradition and the sterility of Tradition that appeals to them.“[11]

Eine ständige Bereitschaft zum Wagnis eines freien, erneuerbaren Denkens gehört tatsächlich auch schon grundlegend zum neutestamentlichen Verständnis des Evangeliums, wie es Paulus entwickelt: „It was evidently very important to him that Christians should be satisfied with nothing less than the full maturity and freedom of the gospel, and should not allow siren voices to lure them back into immature and authoritarian styles of religion.“[12] Ein solcher freier und ungesicherter Glaube rief aber historisch immer auch den Widerstand konservativerer religiöser Kreise hervor. „The reason is that people find it hard to accept that Christianity lives by continual death and rebirth. They keep falling back upon a pre-Christian conception of faith as concerned with what is fixed, authoritative and unchanging. They need at least an illusion of immutability. So there is a constant popular pressure for immobilism and unthinking dogmatism.“[13] Aber ein religiöses Denken, das bei einem einmal erreichten, früheren Kenntnisstand stehen bleibt, verliert mit der Zeit seine Kraft und „threatens to become quite meaningless“. Anstatt dass es die Integrität des Glaubens tatsächlich bewahrt, „(its) language deteriorates into a series of empty passwords.“[14] Nur ein radikal kritisches, bewegliches religiöses Denken konnte und kann die Kraft eines lebendigen Glaubens bewahren. Gerade, weil seine Konzepte „fluid“ sind „and insubstantial by traditional dogmatic standards“, kann es den Glauben durch die Zeiten tragen und ihm auch unter den „sceptical presumption(s)“ der Postmoderne „a new and odd kind of strength“ geben.[15]

Die radikale religiöse Bewegung ist dabei heute eine universale religiöse Bewegung, die ihre Identität nicht mehr in den Grenzen einer einzelnen religiösen Tradition findet: Radikale Theologie lebt aus einem „consuming fire“, das alle bisherigen Grenzen religiöser Orientierung erfasst und „that the thinker cannot quench. Religious thought is the dance of Siva: it is both creation and destruction. And it is what we all have to attempt: radical theology has suddenly become ecumenical.“[16] Für die bisherigen getrennten historischen religiösen Identitäten bedeutet das, dass sie in einer unumkehrbaren Auflösung begriffen sind. „As their embodiment in a distinct community of shared belief becomes ever less clear-cut, they are becoming assimilated. They are turning into relatively enduring and identifiable strands within an historically evolving global cultural tradition.“ Die meisten Menschen sind heute „not confined, and do not wish to be confined, to a cultural or religious sub-world or ghetto. Judaism and Christianity, like Platonism and Buddhism, are becoming strands of everyone’s thinking.“[17] Vertretern der etablierten Religionsgemeinschaften fällt dieser Abschied von den bisherigen getrennten religiösen Identitäten immer noch schwer. „At our interfaith conversations we try to reassure ourselves that we really are still different from each other and still posess our own distinct ‚identities‘.“ Aber ist es wirklich so schlimm, dass der „process of world-cultural assimilation“ unsere bisherigen Unterschiede mehr und mehr verschwinden lässt? Hat nicht gerade das Christentum schon von seinem Ursprung her „itself anticipated the globalization – the reversal of Babel – that we now see“? Insofern, so Cupitt, kann „Radikale Theologie“ die gegenwärtige Globalisierung des Humanen einschließlich der „Universal Declaration of Human Rights“ als pfingstliches Geschehen deuten, und wird sie darum nicht als Bedrohung fürchten, sondern im Gegenteil als „fulfillment of ancient hopes“ willkommen heißen.[18]

Radikale Theologie nimmt dabei die Impulse des früheren westlichen theologischen Liberalismus auf, universalisiert und radikalisiert diesen aber: „Old-style liberal religion was reluctant to let go completely. It clung to at least semi-realism about God, the objective world and moral value.“ Dagegen versteht Cupitt „Radikale Theologie“ als „ecstatic liberalism“, der sagt: „Nothing is sacrosanct, everything is revisable.“ Weil jede religiöse Orientierung vollständig menschlich konstruiert ist, und keinerlei außermenschliche Fundationen hat, muss Glaube heute jede Form dogmatischer und metaphysischer Sicherung aufgeben und „truly beliefless“ sein. „The peculiar sort of poise, strength and sanity that religion can give is only to be had if the full price is paid: one must embrace the Void“.[19]

Für eine postmoderne Weltsicht nach dem „Tode Gottes“ ist dabei die Abkehr von einem traditionellen Gottes-, Welt- und Religionsverständnis unumkehrbar. „Wir können Gott nicht retten, weil Gott schon seit langem tot ist. … Es gibt keine einzige große Wahrheit mehr, und wird so etwas auch nie wieder geben“[20] Trotz dem „Tode Gottes“ immer noch von Gott zu reden, und die Welt von einem „Gottesstandpunkt“ aus zu betrachten, ist jetzt eine vollständig in die subjektive Beliebigkeit des Menschen gestellte Möglichkeit, „für die man sich dann entscheiden kann, wenn es einem danach ist oder es einem danach verlangt“.[21] Der Mensch kann auch nach dem Tode Gottes in eine Kirche gehen, zu Gott beten, ihn sogar lieben[22], so, wie er auch auf einen Friedhof geht, um den Verstorbenen, denen er doch nicht mehr begegnen kann, weiter einen zentralen Platz in seinem Leben einzuräumen.[23] Die drei Dimensionen religiöser Lebensorientierung, die Cupitt bei einer solchen „nekrophilen“ Gottesliebe als „erhaltenswert“ bewahren und so „vielleicht retten“[24] will, nennt er konkret „Das Auge Gottes“ (eine religiöse „Praxis, sich und die eigene Welt wie durch die Augen Gottes zu betrachten – das heißt vom allgemeinen und idealen Standpunkt aus“[25]), „Die glückselige Leere“ (eine Praxis „von Meditation und kontemplativem Gebet“, die, wie besonders im Buddhismus betont wird, das Ziel hat, uns in einen Zustand zu versetzen, „in dem alle Vorstellungen, Unterschiede und Formen verschwunden sind und auch das Subjekt in Glückseligkeit entleert wird“[26]) und „Solares Leben“ („Wir sollten uns verströmen, wie es die Sonne tut, und uns vollständig mit dem strömenden steten Wandel alles Daseins identifizieren.“[27]). Diese drei Elemente, so Cupitt, „schließen insgesamt das ein, was an den alten Religionen am erhaltenswertesten ist, und bieten vielleicht einen Neubeginn für die Religion der Zukunft“[28], auch wenn die „alte Religion“ für immer und unwiederbringlich mit Gott gestorben ist. Man kann sie auch zusammenfassend als ein Leben in „ekstatischer Immanenz“[29] bezeichnen.

Im Ergebnis führt „Radikale Theologie“ damit tatsächlich zu einem „Ende der Religion“, wie sie unter autoritären und supranaturalistischen Vorzeichen bisher praktiziert wurde. Auch hierin verleugnet sie aber nicht ihre Wurzeln, sondern entspricht vielmehr dem biblischen Anfangsimpuls selbst: „In the Bible religion is not an end in itself. Religion is only a disciplinary institution which operates in the historical period, between the expulsion of humankind from Eden and the arrival of the New Jerusalem. Religion is a Law, a system of rituals and constraints which is authoritative during the period of waiting for our final redemption. Now, by proclaiming the arrival of the Kingdom of God , Jesus was in effect promising the end of religion. When he arrives, the old absolutes of religion suddenly become merely relative and transient. The liberation of human beings that he promises will be a liberation not just from sin but also from the religious institutions that were set up to limit the effects of sin.“ Die biblische Religion Jesu führt darum in ihrer Konsequenz in eine religionslose, auch das religiöse Grundsymbol „Gott“ konsequent am Menschen orientierende und radikal entmythologisierende Zeit. Religion wird verwandelt in einem Prozess, in dem sie sich schließlich selbst transzendiert „into the pure humanism of the New Convenant“: „Radikale Theologie“ löst die alte theistische Religion auf in eine neue humanistische. Wir werden in Wahrheit zu Menschen, die auch ihre religiösen Ressourcen nutzen „to keep on reimagining ourselves, our values and our world“ in Richtung auf ein volleres, freieres Menschsein.[30]

Wie ist nun das Verhältnis dieser „non-realistischen“ und „radikalen“ Religiosität der „sea-of-faith“-Bewegung um Don Cupitt mit dem in Beziehung setzen, was ich zuvor in Anlehnung an Richard Kearney als „anatheistischen“ theologischen Denkansatz skizziert habe, der meiner Suchbewegung nach einem „für mich heute sag- und tragfähigen Glauben“ entspricht?

Eine „anatheistische“ religiöse Denkbewegung, wie ich sie verstehe, teilt mit der Bewegung einer „radical theology“ viele Grundentscheidungen: Gemeinsam ist ihnen die Absage an jede Form von theologischem Fundationalismus, Supranaturalismus, Partikularismus und Absolutismus, die konstruktiv-kritische Weiterführung eines „liberalen“ theologischen Denkansatzes, anknüpfend an die epochalen theologischen Denkimpulse v.a. Schleiermachers, das Eintreten für eine globale Entschränkung religiöser Orientierungen, und die Ausrichtung an einem „funktionalen“, an ihrer Bedeutung für Lebensdeutung und Lebensvertiefung orientierten Verständnis von Religion als „through-and-through human … constructive activity of the imagination“[31].

Kritisch abgrenzen würde ich aber eine „anatheistische“ religiöse Suchbewegung, wie ich sie hier zu entwickeln versucht habe, von einem vielleicht doch allzu glatten „Non-Realismus“, der manchmal wiederum mit fast „absoluter“ Sicherheit sagen zu können scheint, dass der menschlichen Konstruktion des Gottessymbols keinerlei „reale“ Dimension der von ihm damit gedeuteten Wirklichkeit entspricht. Über den Bereich möglicher Erfahrungen hinaus können wir nach Kant vielmehr keine gesicherten Wissensaussagen machen, weder positive („realistische“) noch negative („non-realistische“).

Wenn, wie Catherine Keller es formuliert hat, im Sinne dieser Grundeinsicht die Eigenart theologischen Denkens gerade darin besteht, dass wir uns „at home in uncertainty“ machen müssen[32], dann folgt daraus, wie Trevor Greenfield schreibt, eine Infragestellung aller, auch der „non-realistischen“ religiösen Gewissheiten: „‘I do not know‘ is an answer that is rarely satisfying, particularly so in the endeavor to find answers to questions of a religious or theological nature. By contrast ‚God is dead‘ offers a finality that seems to allow us the opportunity to put an entire mode of thinking and being behind us and move forward to create new ideas and expressions. Whether such intellectual confidence is truly justified, or by focusing on one reality we have simply lost sight of another, is a debate we must also encounter.“[33]

Dem Non-Realismus der „radikalen Theologie“ Cupitts ist darin zuzustimmen, dass die Annahme eines einfach „gegebenen“ realen Referenten für das Gottessymbol im Sinne der Vorstellung einer welttranszendenten göttlichen Person, Wesenheit oder göttlichen Seinsmacht im Rahmen einer heute wissenschaftlich plausiblen und persönlich „trag- und sagfähigen“ religiösen Weltsicht nicht mehr möglich ist.

Aber es ist m.E. doch wiederum eine tendenziell falsche Verabsolutierung dieser Einsicht, aus ihr einfach zu schließen, dass die menschliche Konstruktion eines Gottessymboles auf überhaupt keinerlei „realen“ Referenten in der Wirklichkeit selbst zielen könnte. Mit Gordon Kaufman verbindet eine „anatheistische“ religiöse Denkbewegung, wie ich sie verstehe, vielmehr non-realistische („apophatische“) Momente mit kritisch-realistischen („kataphatischen“)[34]. Insofern geht sie über einen bloßen religiösen Humanismus, wie ihn Cupitt entwirft, hinaus, indem sie mit Kearney von einer in der Wirklichkeit tatsächlich gegebenen Dimension von Alterität, einem darin begründeten „Surplus of Meaning“[35] ausgeht, also einer ontisch weder einfach positiven noch negativen, sondern geheimnisvollen Tiefenstruktur, eines abgründigen Grundes der Wirklichkeit selbst (vgl. die entsprechenden Ausführungen auch bei Taylor[36], Kaufman[37] und Keller[38]), die die vordergründige Alternative von „non-realistischer“ und „realistischer“ Wirklichkeitsdeutung transzendiert.

Auch die „radikale Theologie“ Cupitts läuft hier m.E. genauso wie der „religiöse Naturalismus“ Gefahr, einer dualistischen einfach antithetisch eine monistische Vereinfachung des Weltbildes entgegenzustellen, statt ein wirklich komplexes Schema religiöser Weltorientierung zu ermöglichen. Sicher ist das Konzept „Gott“ eine imaginäre Konstruktion menschlicher Weltorientierung, die das Ziel hat, Sinn und Wert für das menschliche Leben zu begründen. Aber diese menschliche Konstruktion von Sinn und Wert muss deshalb nicht einfach ohne jede Basis in der Wirklichkeit selbst sein, die den Menschen mit seinem Bedürfnis nach Sinn und Wert ja erst hervorgebracht hat.

In diesem Sinne fasst auch Greenberg seine kritische Darstellung der „Radikalen Theologie“ zusammen, indem er fragt: „Is God actually an imaginative and poetic construction rather than a philosophical one? Even, we might dare to ask, does the poetic imagination participate in or point towards a reality that lies beyond itself“, so dass „the human imagination might intuitively participate in a perceived reality rather than create one“?[39] und folgert daraus für die Bewertung des beschriebenen Spektrums „non-realistischen“ theologischen Denkens: „The destruction of Realism and the death of the real God, the opressive totality that destroys rather than enhances lives, is non-realism’s most recognisable and valuable contribution to theology. The result, understandably, has been a focus on this world and a rejection of the supernatural dimension of human experience. But if humankind is as much the creator of language as it is its product then we must also be open to primary experience that lies beyond both our social construction and our linguistic modelling but which may be apprehended by our intuitive or poetic response to the world.“ So ist nach Greenberg an die „Radikale Theologie“ im Sinne ihrer eigenen denkerischen Grundlagen die kritische Rückfrage zu stellen: „(D)oes human imagination project or reflect“ eine „encompassing reality“, in der menschliches Bewusstsein und die empirische Welt vielleicht doch nicht in einem unvermittelten Gegensatz, sondern, wie Peter Berger es formuliert hat, in einer „fundamental affinity“ zueinander stehen?[40]

Wenn es, wie es Cupitt letztendlich in seiner Interpretation des „Todes Gottes“ vertritt, am Ende tatsächlich nichts mehr gibt, was „uns unbedingt angeht“ (Tillich), was uns darum im Letzten „gültig“ und „heilig“ ist, weil es auch unsere subjektiven Wahlmöglichkeiten in die Tiefe der Wirklichkeit selbst hinein transzendiert - in einen „groundlesss ground“ (Taylor), der zwar nie wieder wie in der „alten“ religiösen Metaphysik vor dem „Tode Gottes“ fundationalistisch „gesichert“ werden kann, der aber dennoch „extra nos“ das „Woher“ unseres existentiellen Grundgefühls einer „schlechthinnigen Abhängigkeit“ (Schleiermacher) repräsentiert, eine „Letzte Wirklichkeit“ (Theißen), die uns in aller Gebrochenheit und Ungesichertheit unseres Daseins dennoch tröstet und trägt – dann droht, meine ich, der „Rest“ unserer immer noch fortgesetzten religiösen Lebenspraxis am Ende doch sehr unverbindlich (Keller: „dissolut“ statt „resolut“), beliebig austauschbar, dadurch fast banal und in der Tendenz oberflächlich zu werden, und es gelingt Cupitt, meine ich, letztlich nicht, überzeugend darzulegen, warum wir auch nach dem „Tode Gottes“ immer noch wieder und wieder zu „Gott“ zurückkehren sollten im Sinne dessen, was Kearney „(t)he return to God after the disappearance of God“ genannt hat, „(a) new and surprising divinity that comes all the way back … in the epiphany of each moment. Repeating, recalling, returning, again and again.“[41]

Vielleicht „antwortet“ die religiöse Gotteskonstruktion ja im Sinne einer solchen „anatheistischen“ Wirklichkeitsdeutung tatsächlich auf eine menschliche „Erfahrung“ einer Tiefendimension von Wirklichkeit – eine „Erfahrung“, die aber eher ein intuitives „Ahnen“ und „Tasten“[42] als eine empirisch verifizierbare oder falsifizierbare Wirklichkeitserfassung ist, eine tiefergehende „kosmotheandrische“ Wirklichkeitsintuition (Panikkar), ein kreatürliches Grundgefühl „der schlechthinnigen Abhängigkeit“ bzw. ein im Menschsein selbst verankerter „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ (Schleiermacher), der in fundamentalen menschlichen „Resonanzerfahrungen“ und „Absurditätserfahrungen“ (Theißen) begründet ist, und darum weder einfach „realistisch“ noch einfach „non-realistisch“ ist, sondern in komplexer Weise eine sich jeder empirischen Fixierung zwar immer entziehende, aber dennoch „wirkliche“ Verwurzelung im „way things really are“ (Hefner) hat.

Anmerkungen

[1] Vorwort von Don Cupitt in: Greenfield , Radical Theology, 5

[2] Greenfield, Radical Theology, 93

[3] Vgl. Cupitts „minimalistische Version christlicher Theologie“ in „Nach Gott“, 168, die aus drei Grund-Sätzen besteht: 1. „Gott“ wird neu gedeutet als non-reales „religiöses Ideal“, dem 2. „die christliche Spezifikation“ die „Liebe“ als „höchsten Wert“ zuordnet, die 3. für Christen in den Geschichten über Jesus „Menschengestalt“ angenommen hat.

[4] Cupitt, Radical Theology, 4

[5] Cupitt, Radical Theology, 7

[6] Cupitt, Radical Theology, 9

[7] Cupitt, Radical Theology, 21

[8] Cupitt, Radical Theology, 23

[9] Cupitt, Radical Theology, 50

[10] Cupitt, Radical Theology, 53

[11] Cupitt, Radical Theology, 30

[12] Cupitt, Radical Theology, 53

[13] Cupitt, Radical Theology, 54

[14] Cupitt, Radical Theology, 56

[15] Cupitt, Radical Theology, 57

[16] Cupitt, Radical Theology, 34

[17] Cupitt, Radical Theology, 42f.

[18] Cupitt, Radical Theology, 44f.

[19] Cupitt, Radical Theology, 39

[20] Cupitt, Nach Gott, 114f.

[21] Cupitt, Nach Gott, 121

[22] Cupitt schreibt pointiert: „Die Liebe zu einem Gott, der tot ist, ist eine sehr reine – und religiöse – Form von Liebe.“ (Nach Gott, 120)

[23] Cupitt führt diesen Gedanken so weiter aus: „Die Allgegenwart der Toten ist genau wie die Gottes, insofern nämlich, als wir den Gedanken an sie zwar überall hin mitnehmen, zugleich aber auch einen Ort brauchen, an dem ihre abwesende Präsenz oder ihre präsente Abwesenheit durch ein besonderes Merkmal gekennzeichnet wird. Dieses Merkmal – Grabstein, Altar oder was auch immer – bringt uns zum Sprechen und dient somit als Hebamme der Wahrheit. Nietzsche spricht … von den Kirchen als den ‚Gräbern Gottes‘, aber es kommt ihm nicht in den Sinn, dass wir eines Tages Kirchen besuchen könnten, weil es uns dort drängt, Gott zu sprechen, etwa so, wie wir Gräber aufsuchen, um mit unseren Toten zu kommunizieren, und zwar mit vergleichbarem Gewinn.“ (Nach Gott, 120)

[24] Cupitt, Nach Gott, 114

[25] Cupitt, Nach Gott, 118

[26] Cupitt, Nach Gott, 121

[27] Cupitt, Nach Gott, 124

[28] Cupitt, Nach Gott, 125

[29] Cupitt, Nach Gott, 127, 156, u.ö.

[30] Cupitt, Radical Theology, 111f.

[31] Kaufman, Creativity, 120

[32] Keller, Face of the Deep, 194

[33] Greenfield , Radical Theology, 30

[34] Vgl. Nordgren, God, 208

[35] Kearney spricht von der „recognition of alterity“ in der „experience of the stranger“, die im „opening to what is not ourselves“ ein „surplus of meaning“ entdeckt „that is Other than every other“, und sieht darin den für ihn tiefsten Grund, warum die anatheistische Bewegung eben nicht nur eine humanistische, sondern eine explizit religiöse Bewegung ist (Anatheism, 178f.)

[36] „That is to say, the subject discovers that it has emerged from a groundless ground that it never can fathom.“ ( Taylor , After God, 111)

[37] „Creativity happens: this is an absolutely amazing mystery – even though we may in certain cases, for example with the evolution of life, be able to specify some of the conditions without which it could not happen.“ (Kaufman, On thinking of God as Serendipitous Creativity, 421, zitiert nach Nordgren, God,194)

[38] “Gott” geht hervor „against the bottomless ground of creativity as its difference from itself“ (Keller, Face of the Deep, 219 )

[39] Greenfield , Radical Theology, 184

[40] Greenfield , Radical Theology, 185

[41] Anatheism, 5

[42] Vgl. Dürrs Deutung von Religion als „Zustand der Ahnung“ (Auch die Wissenschaft, 114f.)

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/76/sts6b.htm
© Stefan Schütze, 2012