Religion in post-säkularer Gesellschaft?

I - Anstöße

Andreas Mertin

Das Nachdenken über die Rolle der Religion in einer post-säkularen Gesellschaft ist mir lange Zeit als nicht besonders wichtig vorgekommen. Denn die These von einer Wiederkehr der Religion[1] war mir noch aus Studienzeiten heraus vertraut, lange bevor durch den 11. September 2001 Religion zum medial-öffentlichen Diskursthema wurde. Esoterik und New-Age hießen die Schlagworte damals – auch wenn sich kaum noch jemand daran erinnern mag.[2]

Die neue Rede von der Religion in der post-säkularen Gesellschaft erschien mir daher zunächst als eine Formel, mit der Philosophen, die bis dato ohne eine tragende Rolle von Religion ausgekommen waren, nun vorsichtig der Tatsache Tribut zollten, dass Religion weiterhin bedeutsam bleibt – und zwar sowohl in kritischer wie in positiver Weise.[3] Aber auch diese Philosophen hatten sich ja lange vorher schon auf das Gespräch mit der Religion eingelassen, wenngleich sie damals die Funktion der Religion vor allem in der individuellen Tröstung erblickt hatten.[4]

Erstmals herausfordernd wurde es für mich, als ich auf das Ansinnen stieß, die Rede von der positiven Wertung der gesellschaftlichen Rolle von Religion in der post-säkularen Gesellschaft solle auch für mein Spezialgebiet des Verhältnisses von Kunst und Religion Geltung haben; sprich, die über Jahrhunderte erfolgte Differenzierung der Kunst von der Religion sei diskursgeschichtlich überholt, man habe sie abgehakt. Die These lautete, dass heute, in einer post-säkularen Gesellschaft, auch in der Kunst die Religion wieder thematisch werden könne und müsse.[5] Seitdem frage ich mich, was denn mit dem Erkenntnisgewinn ist, den wir dieser Differenzierungsdebatte verdanken. Was ist mit den zahlreichen gesellschaftlichen Fortschritten, die die Autonomiewerdung von Kunst und Religion mit sich brachten?

Der Soziologe Pitrim A. Sorokin hat in einer Studie die Kunstwerke des christlichen Westens nach ihren Inhalten ausgewertet.[6] Das Ergebnis nennt Julius Morel „eines der packendsten Beispiele für die Wachablösung des Sakralen für das Profane“.[7] Und wenn man auf die folgende Tabelle schaut, die die Ergebnisse zusammenfasst, kann man nur sagen, er hat Recht:

Es ist kein Zufall, dass die explizit religiösen Themen in der Kunst seit dem 13. und 14. Jahrhundert immer mehr abnahmen und die säkularen Themen zunahmen, lange bevor Reformation und Aufklärung ihren Beitrag dazu leisteten. Der Bruch in der engeren Beziehung von Kunst und Religion lässt sich etwa auf das Jahr 1300 datieren, auf die Ausarbeitung der Maße des Menschlichen in der Kunst durch Giotto (auch wenn das noch in der Darstellung des Religiösen erfolgte).[8] Zur Zeit der Reformation war dieser Prozess schon fortgeschritten und die Aufklärung zog eigentlich nur noch Bilanz.

Christliche Kulturtheologen transformierten daher die religiöse Fragestellung vom ikonographischen Ausdruck der Heilsgeschichte zum Ausdruck religiöser Befindlichkeit, so dass selbst die Landschaftsmalerei oder die abstrakte Kunst zum Ausdruck des Religiösen werden konnte.[9] Insgesamt lag in diesem Prozess der beiderseitigen Autonomiewerdung aber kein „Verlust der Mitte“ wie Hans Sedlmayr meinte, sondern ein Gewinn an Ausdrucksformen.

„Die gesellschaftliche Entwicklung aus dem Mittelalter heraus erzeugt eine, vorher so nie gekannte, Subjektivierung und Individualisierung. Das ‘Ich’ der Psalmen, das so individuelle Züge zu tragen scheint, ist nicht identisch mit dem ‘Ich’ der Neuzeit. Mit Odysseus erreicht die Subjektwerdung ihren frühen mythischen, mit Luther ihren ersten religiösen und mit Descartes ihren ersten philosophischen Ausdruck. Der neuzeitliche Mensch erlebt die gestaltete Welt nur noch bedingt als Vorgabe. Grundsätzlich ist es seine Aufgabe, Welt aus dem einzig sicheren Weltgrund, dem Subjektsein, zu konstruieren. Das Individuum erkennt sich selbst als kritische Instanz gegenüber allen gesellschaftlichen Objektivierungen. Unter diesen Bedingungen kann überhaupt erst so etwas wie Individualität und Privatreligion entstehen.“[10]

Es ist vermutlich nicht nur Zufall, dass der protestantische Theologe Peter Steinacker die Leistung der Bildenden Kunst in diesem Prozess gar nicht anführt. Die Bildende Kunst gehört nicht in den unmittelbaren Fokus protestantischer Argumentation. Dennoch lässt sich im Blick auf das evangelische Verhältnis zur Bildenden Kunst[11] zeigen, dass der Protestantismus durchaus sensibel auf die Transformationsprozesse in der Kunst reagierte und diese begleitete und auch förderte.[12] Man muss nicht so weit gehen wie der Kunsthistoriker Werner Hofmann, der angesichts der Reformation von der „Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion“[13] gesprochen hat, aber von einer Parallelität der Prozesse lässt sich mit guten Gründen reden:

„Das protestantische Krisenbewußtsein reagierte dabei stets [...] auch auf synchrone Differenzierungen zwischen dem Bereich direkt religiöser Lebensgestaltung und solchen Lebensbereichen, die allmählich und schließlich primär von anderen Faktoren geprägt wurden. Es reagierte, anders gesagt, auf Säkularisierung. Doch bedeutete Säkularisierung in keinem Fall die einfache Verabschiedung oder Verdrängung von Religion, sondern vielmehr die Emanzipation bestimmter Lebensbereiche [...] aus der direkten Kontrolle der Institutionen von Religion [...]
      Es handelt sich also um gesellschaftliche Differenzierungs- und Segmentierungsvorgänge. Im Blick auf die Religion selbst läßt sich aber klar feststellen, daß sie keineswegs zur Verarmung und Verkümmerung religiöser Praxis führten, im Gegenteil. Der Ausgliederung von nicht mehr direkt religiösen Lebensbereichen entsprach regelmäßig die innere Intensivierung von Religion, ihre Spiritualisierung, wenn man so will, oder genauer gesagt: ihre Individualisierung.“[14]

Walter Sparn macht uns so darauf aufmerksam, dass es sich kulturgeschichtlich nicht um eine Verlustgeschichte handelt, sondern eher um eine Art beiderseitigem Profilierungsgewinn, bei der sowohl die Religion gesteigert wird wie die Kunst von ihr fremden Aufgaben entlastet wird. Das kann man als bleibende Errungenschaft der Moderne bezeichnen.

Selbstverständlich gehört zu diesem Prozess aber auch, dass die autonom gewordenen Diskurse nun ihrerseits wieder auf Elemente des jeweils anderen Diskurses zugreifen konnten: für die Kunst bildete die Welt der Religionen ein mögliches außerästhetisches Substrat, mit dem man in künstlerischer bzw. ästhetischer Perspektive arbeiten konnte und ja auch intensiv gearbeitet hat.[15] Und für die Religion bzw. Kulturtheologie bildeten die Werke der Bildenden Kunst außerreligiöse Objekte, mit denen man dennoch religiöse Erfahrungen machen konnte.[16]

Was kann in dieser Situation der ausdifferenzierten Moderne die Rede von der Religion in einer post-säkularen Gesellschaft an neuen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Gewinnen bringen? Es kann ja keinesfalls um die Rückkehr in vor-autonome Zeiten gehen. Vielmehr sollen offenkundig Fehler der Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts korrigiert werden – etwa eine unangemessene Tabuisierung künstlerischer Bearbeitungen von Religion. So richtig begründet sehe ich das aber nicht, denn während dieser gesamten Zeit war es möglich, sich mit Religion in künstlerischer Perspektive auseinanderzusetzen.[17] Nur Künstler, die regelmäßig oder nahezu ausschließlich für die Kirche arbeiteten, galten im Betriebssystem Kunst als suspekt. Worum geht es aber dann? Die Versuche, die Kunst via Deutung wieder in den Kontext von Religion einzuholen, wurden – zu Recht – belächelt, wie man an folgendem Zitat aus dem Jahr 1990 von Peter Funken im Kunstforum International erkennen kann:

„Demzufolge sind die ‚Zeichen‘, die ein Kunstwerk aufweisen muß, ... folgendermaßen zu charakterisieren: Das Werk muß am besten die Form des Kreuzes oder der Stele besitzen oder im Titel darauf anspielen; möglichst mit Goldfarbe bemalt sein, um ein Erhabenes und lichte Transparenz zu benennen, viele dunkle und schwarze Farben besitzen, um symbolisch Schmerz, Leid und Trauer zu bezeichnen; auf Sackleinen gemalt oder mit ‚armen Materialien‘ hergestellt sein oder in Farbe und Form stilisiert und abstrahiert sein, damit es zur Meditation anregt. Wenn mehrere dieser Kriterien erfüllt sind, bestehen relativ gute Aussichten, ein Künstler des Transzendenten zu werden.“[18]

Das hat sich seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts geändert. Nicht dass Religion im klassischen Sinne der religiösen Ikonographie wieder signifikant häufiger in der Bildenden Kunst vorkäme, vielmehr ist das Vorkommen religiöser Stoffe an sich unproblematischer geworden – sieht man einmal von eher dogmatisch rezipierten Dingen wie öffentlichen Kruzifixen oder ironischen Infragestellungen derartiger Symbole ab. Auffällig ist aber auch, dass seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts die Forderung, Religion müsse in der Kunst der Gegenwart verstärkt rezipiert werden, gehäuft auftritt. Verbunden ist dies allerdings häufig mit der Forderung nach einer Re-Sakralisierung der Kunst:

„Es dürfte kaum möglich sein, für eine Kunst, die sich erklärtermaßen von Schöpfer und Schöpfungsordnung emanzipiert und sich zwecks Darstellung der künstlerischen Individualität einem von Inhalten entleerten Formalismus verschrieben und dazu noch auf Schönheit verzichtet hat, einen Platz in der Kirche zu finden ... Nur eine auf die klassischen Positionen des abendländisch-christlichen Denkens zurückgreifende Neubesinnung vermag eine Neugeburt der Künste ebenso wie eine Neubelebung des Kultes im Raum der Kirche einzuleiten.“[19]

Freilich entspricht dem kaum irgendeine Form innovativer zeitgenössischer Kunst, sondern in aller Regel nur eine Hinwendung zu alten Formen. Was aber könnte ein nicht reaktionärer, vernünftiger Sinn der Rede von der Religion in der post-säkularen Gesellschaft sein?

Der Einsatz: Glauben und Wissen

In eine breitere öffentliche Debatte eingebracht wurde das Thema „Religion in der post-säkularen Gesellschaft“ von Jürgen Habermas durch seine Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche im Oktober 2001. Die Rede steht deutlich erkennbar unter dem Eindruck des religiös begründeten terroristischen Geschehens vom 11. September in New York und sucht nun unter Einbezug der aktuellen Ereignisse das Thema „Glauben und Wissen“ neu zu bewerten. Es komme darauf an, sich darüber klar zu werden, „was Säkularisierung in unseren postsäkularen Gesellschaften bedeutet“ und welche Folgen sie hat. Grundtenor von Jürgen Habermas ist – für viele vielleicht überraschend – die  Überzeugung:

"Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren." [20]

Darum kreisen seine Überlegungen. Es scheint aber auch für Habermas gar nicht so leicht zu sein, zu beschreiben, was in diesem Übergang eigentlich verloren geht. Grundsätzlich beschreibt Habermas zunächst zwei kritische „Lesarten“ bzw. Bestimmungen von Säkularisierung in der Moderne. Die eine (profane) sieht eine Substitution religiöser „Denkweisen und Lebensformen“ durch vernünftigere Äquivalente, die andere (kirchliche) sieht eine illegitime Enteignung religiösen Gedankenguts.

„Beide Lesarten machen denselben Fehler. Sie betrachten die Säkularisierung als eine Art Nullsummenspiel zwischen den kapitalistisch entfesselten Produktivkräften von Wissenschaft und Technik auf der einen, den haltenden Mächten von Religion und Kirche auf der anderen Seite. Einer kann nur auf Kosten des anderen gewinnen, und zwar nach liberalen Spielregeln, welche die Antriebskräfte der Moderne begünstigen. [21]

Blickt man auf die aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen rund um das Thema Religion, kann nicht bestritten werden, dass weiterhin die Mehrzahl aller Debattenbeiträge nach diesen beiden Mustern figuriert sind. Entweder wird davon ausgegangen, „noch“ gebe es zwar Religion, aber in gewisser Hinsicht illegitim, denn auf Dauer werde sich das Säkulare durchsetzen, weshalb es gelte, diesen Prozess zu forcieren. Oder es werden lautstark die Verluste beklagt, die der Prozess der Säkularisierung mit sich bringe, weil er die Religion immer mehr illegitim verdränge oder gar zur Verweltlichung der Kirche führe, weil diese sich der Säkularisierung anpasse. Habermas fährt fort:

"Dieses Bild passt nicht zu einer postsäkularen Gesellschaft, die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt. Ausgeblendet wird die zivilisierende Rolle eines demokratisch aufgeklärten Commonsense, der sich im kulturkämpferischen Stimmengewirr gleichsam als dritte Partei zwischen Wissenschaft und Religion einen eigenen Weg bahnt.“[22]

Zunächst einmal würde ich an dieser Stelle gerne noch einmal die Rede von der „sich fortwährend säkularisierenden“ Gesellschaft etwas problematisieren. Tatsächlich ist die Zahl der Kirchenmitglieder in der Bundesrepublik Deutschland nach 1990 um 10 Millionen zurückgegangen: waren 1990 noch 57.694.000 Menschen und damit 72,34% der Bevölkerung  in einer der beiden großen Kirchen, so sind es 2011 nur noch 48.092.000 und damit 58,8%. Das klingt viel, denn es ist ein Rückgang von 17%.

Vergleicht man diese Werte aber zum Beispiel mit dem Rückgang der Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), der 1990 etwa 11 Millionen Mitglieder hatte und 2011 nur noch 6,15 Millionen, dann sieht das schon anders aus, denn der DGB verliert 44% seiner Mitglieder. Man könnte also genauso plausibel von einer Institutionenkrise sprechen. Ähnliches gilt übrigens auch für die Parteienlandschaft, die SPD verliert zwischen 1990 und 2010 46% der Mitglieder, die CDU 36%, die FDP 59%, die CSU 17% und nur die Grünen nehmen um 28% zu.[23] Setzt man also wie auf der nebenstehenden Grafik, die Werte der benannten Institutionen für das Jahr 1990 auf 100 und vergleicht sie mit den Werten von 2010, dann kann man sagen, dass alle mitgliederabhängigen Institutionen in diesen 20 Jahren schwer gebeutelt wurden, aber die Kirchen sind noch am glimpflichsten dabei weggekommen.[24] Insgesamt spricht deshalb viel für eine grundsätzliche Veränderung in unserer Gesellschaft im Blick auf etablierte Institutionen.

***

Aber zurück zu den Ausführungen von Jürgen Habermas. Der dritte Weg jenseits der Opposition von Glauben und Wissen ist für ihn der demokratisch aufgeklärte Commonsense. Aufgeklärt werden muss er zunächst und vor allem durch die Wissenschaften. Darüber hinaus gibt es aber einen „Rahmen unseres Alltagswissens“ und dieser Rahmen sollte nach Habermas eben gerade nicht in eine bloße Form wissenschaftlichen Beschreibens überführt werden. Es gibt Fragen, so macht Habermas am Beispiel der Bioethik deutlich, die eben nicht durch Beschreibung, sondern nur durch Beurteilung beantwortet werden können.

Der Commonsense ist eine „gegenüber den Wissenschaften ... eigensinnige Perspektivenstruktur“, aber er befindet sich auch jenseits der Religion. Er bewegt sich quasi zwischen den Aufklärungen der Wissenschaft und den Traditionsbeständen hin und her. Und er hat Ansprüche an das Auftreten der Religionen bzw. von Menschen mit religiösen Überzeugungen:

„Der Religion gegenüber beharrt der demokratisch aufgeklärte Commonsense auf Gründen, die nicht nur für Angehöriger einer Glaubensgemeinschaft akzeptabel sind ... [Die Gläubigen] sind es, die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden.“[25]

Man muss darüber nachdenken, wie plausibel diese Ansprüche sind. Auf der einen Seite leuchten sie unmittelbar ein, denn wie soll ein Nicht-Gläubiger sich auf religiöse Argumente einlassen können, wenn diese ihm nicht in seine Sprache und Vorstellungswelt übersetzt werden. Auf der anderen Seite haben wir gerade am Beispiel der Diskussion zur Beschneidung gesehen, wie schwer es ist, elementar religiöse und damit eben zum Teil auch nicht-rationale Tatbestände in Argumente zu überführen, die auch nicht-religiöse Menschen akzeptieren. Und warum sollten religiöse Menschen nicht das Recht haben, dass andere die Spezifizität ihres Glaubens einfach akzeptieren?[26] Dennoch ist der Anspruch der säkularen Gesellschaft, religiöse Einstellungen vernünftig nachvollziehbar erläutert zu bekommen, verständlich. Man kann gerade am Beispiel des religiösen Gefühls und der Blasphemie-Debatte im historischen Querschnitt gut zeigen, wie willkürlich oftmals das Argument „Verletzung religiöser Gefühle“ gewesen ist. Wenn die bloße Kritik eines religiösen Würdenträgers bereits als blasphemische Verletzung religiöser Gefühle gilt, dann ist einem nicht-religiösen Menschen schwer einsichtig zu machen, warum er sich darauf einlassen sollte. Daher hat die Forderung nach vernünftiger Explikation tatsächlich befriedenden Charakter für eine Gesellschaft.

Habermas meint nun, der Staat bzw. die Gesellschaft könne aus den je geltend gemachten religiösen Einwänden und Argumenten etwas lernen bzw. sie sollten zumindest prüfen, ob sie etwas daraus gewinnen können. Dazu rekurriert er auf Adornos Satz: „Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern“[27], auch wenn er skeptischer im Blick auf das vollständige Gelingen dieses Verwandlung ist. Trotzdem hält er fest:

 „Die postsäkulare Gesellschaft setzt die Arbeit, die die Religion am Mythos vollbracht hat, an der Religion selbst fort. Nun freilich nicht mehr in der hybriden Absicht einer feindlichen Übernahme, sondern aus dem Interesse, im eigenen Haus der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken.“ [28]

Das beschreibt sicher zutreffend die Intention einer sich als post-säkular interpretierenden Gesellschaft, nun doch Gespräche mit der Religion zu führen. Aber es verbleibt dabei doch ein gewisses Gefühl des Unbehagens.

Denn stellen sich sofort zwei Fragen: Was hat die Religion selbst davon? Und welche Folgen hat dieser Prozess der Anverwandlung belangvoller Positionen in die Säkularität für die Religion? Muss sie nicht sehen, dass sie bei dieser Form des Dialoges à la longue zugrunde geht, weil das, was übrigbleibt, ihr irrationaler und damit gesellschaftlich nicht vermittelbarer Kern ist? Letztlich verbleibt die Argumentation Habermas ja im Rahmen eines funktionalen Religionsbegriff, trifft also das Selbstverständnis einer sich offenbarungstheologisch begreifenden Kirche kaum. Man kann im Moment an den naturrechtlichen Argumentationen der katholischen Kirche gut beobachten, wie sehr sich hier die Argumente verfehlen. Und man konnte an der Beschneidungs-Debatte sehen, wie wenig diese Gesellschaft bereit ist, den irreduziblen irrationalen Kern von Religion zu respektieren. Hier zeigt dich also für die Zukunft eher ein starkes Bedrohungspotential für die Religion.

Zudem vollzieht Habermas mit seiner Argumentation für die säkulare Ingebrauchnahme der Religion eine Bewegung affirmativ, die er Anfang der 70er Jahre dem Spätkapitalismus noch kritisch vorgeworfen hatte. Damals vermutete er, dass traditionalistische Weltbilder insbesondere angesichts der Legitimations- und Motivationskrise des Spätkapitalismus eine besondere Rolle spielen. Im Rahmen dieser Krisenprozesse nutze die Industrie sozusagen die Reste der legitimatorischen Kraft vergangener und vergehender Weltbilder für die eigenen Zwecke aus, freilich „verbraucht“ sie sie dabei auch, sie frisst sie quasi auf:

„Legitimatorische Kraft behalten Traditionen offensichtlich nur, solange sie nicht aus kontinuitätssichernden und identitätsverbürgenden Deutungssystemen herausgebrochen werden.“[29]

Aber nicht nur für die Ingebrauchnahme der Tradition zur Legitimitätssicherung im Rahmen der Legitimitätskrise des Spätkapitalismus, sondern auch für die post-säkulare Gegenwart dürfte diese Diagnose zutreffend sein. Aber Habermas muss es ja nicht um die Interessen der Religion gehen, sondern nur um die gesellschaftlichen Interessen an der Religion.


Konkretionen

Nun sind es verschiedene Topoi des gesellschaftlichen Diskurses im Jahr 2012, die einem zeigen, dass man um die Neubewertung der Rolle der Religion in einer post-säkularen Gesellschaft nicht herumkommt. Freilich empfinde ich die Art und Weise, wie um diese Topoi im gesamtgesellschaftlichen Diskurs gestritten wurde, eher als extrem beunruhigend als einen Fortschritt. Es wurde ja nicht über Wertebildung, Individualisierung, Freiheit und Subjektivität gestritten, sondern um die Bewahrung oder Eliminierung religiöser Phänomene. Insofern waren das alles doch noch sehr moderne Diskussionen, die auf eine vernünftige Debatte in post-säkularen Zeiten warten. Zu diesen Topoi gehören vor allem die verstörende Beschneidungs-Debatte, die wiederholt vorgetragene Forderung nach der Verschärfung des Blasphemie-Paragraphen und schließlich der unerwartet stark wuchernde und wiederkehrende Antisemitismus unserer Gesellschaft.

Anmerkungen

[1]    Oelmüller, Willi; Baumgartner, Hans Michael (Hg.) (1984): Wiederkehr von Religion? Paderborn: F. Schöningh.

[2]    Zimmerli, Walther Ch (1984): Wie neu ist die neue Religiosität? Von Konsistenz und Widerspruch in der Suche nach Unmittelbarkeit. In: Oelmüller / Baumgartner (Hg.): Wiederkehr von Religion? Paderborn: F. Schöningh, S. 9–24.

[3]    Habermas, Jürgen; Reemtsma, Jan Philipp (2001): Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[4]    Habermas / Sölle / Bahr (1975): Legitimationsprobleme der Religion. Ein Gespräch. In: Bahr, Hans Eckehard (Hg.): Religionsgespräche. Zur gesellschaftlichen Rolle der Religion. Darmstadt etc: Luchterhand (10), S. 9–30.

[5]    Henke / Spalinger / Zürcher (Hg.) (2012): Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen. Ein kritischer Reader. Bielefeld: transcript.

[6]    Sorokin, Pitrim A. (1966): The Western Religion and Morality of Today. In: J. Matthes (Hg.): Theoretische Aspekte der Religionssoziologie 1. Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie Band 2. Köln und Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 9–49.

[7]    Vgl. Morel, J. (1975): Säkularisierung und die Zukunft der Religionen. In: Theodor Hanf (Hg.): Funk-Kolleg sozialer Wandel. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verl., S. 237-254, hier S. 241.

[8]    Sedlmayr, Hans (1991): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. 17. Aufl. Frankfurt/M, Berlin: Ullstein, S. 222: „Weil dem Menschen - durch die Vermenschlichung der zweiten göttlichen Person - eine neue Bedeutung zukommt, weil die Kunst jetzt fähig wird, nicht nur den Geist zu erheben, sondern das Auge zu „ergötzen", bildet sich ein zweiter, weltlicher Pol der Kunst: in der privaten Sphäre des Schlosses und bald des Bürgerhauses, und allererste Anfänge einer Kunst die - wie die „Romane" der Zeit - nicht mehr sakral gebunden ist, einer neuen, rein weltlichen Thematik.“

[9]    Schwebel, Horst (1968): Autonome Kunst im Raum der Kirche. Hamburg: Furche-Verl.

[10]   Steinacker, Peter (1985): Kirche, die Institution der Befreiung. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie (NZSTh), S. 290–314, hier S. 291f.

[11]   Mertin, Andreas (2012): Eine protestantische Sicht auf die Kunst. Zehn Grund-Sätze. In: tà katoptrizómena 14 (77). unter https://www.theomag.de/77/am391.htm.

[12]   North, Michael (1992): Kunst und Kommerz im Goldenen Zeitalter. Zur Sozialgeschichte der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Köln: Böhlau.

[13]   Hofmann, Werner (1983): Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion. In: Werner Hofmann (Hg.): Luther und die Folgen für die Kunst. Hamburger Kunsthalle, 10.11.83 - 18.1. 84. München: Prestel, S. 23–71.

[14]   Sparn, Walter (1992): Protestantisches Christentum und Säkularisierung. Entwicklungen und Lernprozesse. In: Lähnemann, Johannes (Hg.): Das Wiedererwachen der Religionen als pädagogische Herausforderung. Hamburg: EB-Verl. Rissen, S. 28–37, hier S. 30.

[15]   Menke, Christoph (1988): Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main: Athenäum (Athenäums Monografien / Philosophie, 255). Vgl. auch Mertin, Andreas (1994): Die ästhetische Kritik der Ethik in Theodor W. Adornos "Minima Moralia". Marburg/Lahn.

[16]   Erne, Thomas (1998): Vom Fundament zum Ferment. Religiöse Erfahrung mit ästhetischer Erfahrung. In: Herrmann / Mertin / Valtink (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute: Fink, Wilhelm, S. 283–295.

[17]   Rombold / Schwebel (1983): Christus in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Eine Dokumentation. Freiburg/Br.: Herder. Schwebel, Horst (2002): Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts. München: Beck, C H.

[18]   Funken, Peter (1990): GegenwartEwigkeit. In: Kunstforum International (108), S. 292:

[19]   Vgl. etwa Brandmüller, Walter (2009): Kunst – Kult – Kirche. Online verfügbar unter http://www.zenit.org/article-19130?l=german, zuletzt geprüft am 10.02.2013.

[20]   Habermas, Jürgen; Reemtsma, Jan Philipp (2001): Glauben und Wissen, a.a.O., S. 24

[21]   Ebenda, S. 13

[22]   Ebenda.

[23]   http://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/schriften/Arbeitshefte/Oskar_Niedermayer_-_Parteimitglieder_in_Deutschland__Version_2011.pdf

[24]   Das gilt auch dann, wenn man andere Faktoren des kirchlichen Lebens mit berücksichtigt (Rückgang der Taufen um mehr als 40%, der Trauungen um mehr als 56%, der Gottesdienstbesucher um 54%). Wir befinden uns immer noch im gesellschaftlichen Rahmen anderer Institutionen.

[25]   Habermas, Jürgen; Reemtsma, Jan Philipp (2001): Glauben und Wissen, a.a.O., S. 21.

[26]   Charles Taylor hält dagegen, dass „dass es möglich ist, einen weltanschaulichen Diskurs innerhalb einer Gesellschaft nicht allein auf dem Boden der Rawlsschen öffentlichen Vernunft zu führen, sondern auch in den Worten und mit den Argumenten der jeweiligen Weltanschauung.“ http://www.theorieblog.de/index.php/2010/06/liberte-egalite-fraternite-charles-taylor-uber-laizismus-und-anerkennung-in-liberalen-demokratien/

[27]   Adorno, Theodor W. (1969): Vernunft und Offenbarung. In: Theodor W. Adorno: Stichworte. Kritische Modelle, 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 20.

[28]   Habermas, Jürgen; Reemtsma, Jan Philipp (2001): Glauben und Wissen, a.a.O., S. 29

[29]   Habermas, Jürgen (1973): Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 99ff.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/82/am431.htm
© Andreas Mertin, 2013