Paradigmen theologischen Denkens II


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Paradigmen theologischen Denkens - Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben

Teil IV: Weitere Verhältnisbestimmungen und Grenzziehungen

Stefan Schütze

4. Komplextheologisches Denken und die „postmodernen“ theologischen Phänomenologien des Exzesses

Lektürebasis:

Gschwandtner, Christina M.: Postmodern Apologetics? Arguments for God in Contemporary Philosophy, New York 2013

Mit den spezifisch „postmodernen“ Beiträgen zu einem „für mich heute sag- und tragfähigen“ religiösen Denken „nach dem Ende der Metaphysik“ von Mark Taylor, John Caputo und Richard Kearney, sowie ihrer implizit oder explizit leitenden Bezugnahme auf die dekonstruktive Philosophie von Jacques Derrida habe ich mich zuerst im zweiten bzw. dritten Teil meiner „Paradigmen theologischen Denkens“[1] ausführlicher beschäftigt. An diese Beschäftigung knüpft die folgende Verhältnisbestimmung zu den Gedanken des Buches „Postmodern Apologetics“ von Christina M. Gschwandtner an, die nicht nur Caputo und Kearney, sondern auch eine Reihe anderer „postmoderner“ religiöser Denker (nicht aber Mark Taylor!) im Rahmen dessen behandelt, was sie eine postmoderne Apologetik des Gottesglaubens im Rahmen einer phänomenologischen Betrachtung religiöser Erfahrung nennt.

Christina M. Gschwandtner stellt die Frage, ob und in welcher Weise es sich beim sog. „religious turn“ innerhalb der jüngeren „kontinentalen“, phänomenologischen und hermeneutischen Philosophie um eine „postmodern apologetics“, d.h. um den Versuch einer neuen Plausibilisierung und eines Ausweises der intrinsischen Rationalität von Religion und Gottesglauben handelt. Anders als die stark religionskritisch geprägte analytische Philosophie der Mitte des 20. Jh., die im Anschluss an Feuerbach, Nietzsche, Marx und Freud von einem eher pathologischen und regressiven Verständnis menschlicher Religion ausging, deren baldiges Ende sie vorhersagen zu können meinte, hat die „phänomenologische“ bzw. „hermeneutische Wende“ in der Philosophie gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu einer sehr viel offeneren und positiveren Bewertung der Religion geführt. Dabei haben diese „hermeneutischen“ und „phänomenologischen“ Denker, allen voran Paul Ricoeur, aber die kritischen Einsichten einer sog. „Hermeneutik des Verdachts“ nicht verworfen, sondern als ein Moment ihrer neuen affirmativeren Hermeneutik bewahrt und integriert.

Als noch nicht explizit religiös affirmativ, aber für eine positive Neubestimmung der Religion in vieler Hinsicht wegweisend und vorbereitend stellt Gschwandner zunächst die Phänomenologien einer „ontologischen Differenz“ von Martin Heidegger, einer „ethischen Alterität“ von Emmanuel Levinas und einer „Religion Without Religion“ von Jacques Derrida dar. Wirkliche Vertreter einer affirmativen religiösen Hermeneutik sind dann für sie v.a. die maßgebenden französischen Phänomenologen am Ende des 20. Jahrhunderts, Paul Ricoeur, Jean-Luc Marion, Michel Henry, Jean-Louis Chrétiens, Jean Yves Lacoste, und Emmanuel Falque. Schließlich beschreibt Gschwandner die neuesten nordamerikanischen „appropriations“ dieser religiös affirmativen Einsichten durch Michael Westphal, John Caputo und Richard Kearney, bevor sie in einer „Conclusion“ eine eigene zusammenfassende Bewertung und Ertragssicherung versucht.

In ihrer „Conclusion“ fasst Gschwandtner den Ertrag ihrer Untersuchung folgendermaßen zusammen: „What stands out in almost all of these projects … is their emphasis on excess and hyperbole. The one thing almost all of these ways of speaking about the divine and religious experience have in common is that such experience is always depicted in superlative terms. … Religious experience is tantamount to excessive and exceptional experience. … Whether religion is affirmed or rejected, it is consistently associated with the excessive, extreme and hyperbolic.“[2]

Diese Exzessivität religiöser Erfahrung zeigt sich bei Levinas in der radikalen Alterität des Anderen, „to whom we are completely responsible in utter passivity“; dabei ist „der Andere“ für ihn immer „the human other“, und das Göttliche erscheint allenfalls indirekt als eben die Dimension des Anderen im Anderen, als Horizont, der menschliche Alterität begründet und offenhält. Bei Derrida zeigt sich der Exzess in seiner Rede von den „unmöglichen Ereignissen“ von Geschenk, Gastfreundschaft, Gerechtigkeit und Vergebung, die darin für ihn „nicht dekonstruierbar“ sind, dass sie zwar nicht wie bei Marion „excessivly ‚full‘“, aber „excessively empty“ sind, und so jede mögliche Repräsentation negieren.[3]

Die religiöse Sprache von Jean-Luc Marion „is especially characterized by excess. His entire project is about affirming absolute givenness and making it phenomenologically viable.“ Diese Exzessivität kennzeichnet für ihn die Offenbarung radikaler Transzendenz, die sich uns besonders in „the saturated phenomenon“ imponiert, „that is so excessive that it overwhelms all our faculties, renders us utterly unable to grasp it, blinds and bedazzles us.“[4] Auch wenn die Sprache von Chrétien und Falque „more tempered“ bleibt „than Marion‘s“, sind auch ihre Analysen von „art and beauty“ fokussiert auf „the breaking-points and paradoxes in these experiences“, orientiert an „limit-experiences“ und „in some way excessive“. Das gilt auch für Lacoste, für den „(r)eligious or liturgical experience … is defined by liminality, by radical abnegation and kenosis“.[5]

Für Ricoeur ist „religious language … characterized by a logic of superabundance that undoes the logic of equivalence charateristic of everyday experience. Biblical ‚poetry‘ is excessive, calls us beyond ourselves, undoes our common perceptions of reality, and challenges our coherent sense of self, unsettling and displacing us.“[6] Die Sprache von Michel Henry ist vielleicht „the most excessive“ aller hier behandelter Philosophen. „Although his excess is wholly immanent and he refuses any notions of transcendence, his language about Christianity is almost entirely in absolute terms.“[7]

Für Merold Westphal ist es der Charakter religiöser Erfahrung, dass sie „defies the elf-indulgence of contemporary culture. Religious experiences decenter us and challenge us to move beyond ourselves toward the holy other“, das für ihn Gott ist. Die Sprache John Caputos „exalt(s) in superlatives“. Die „passion for God“ ist für ihn die „passion for the impossible“, das sich in den unmöglichen Ereignissen „of the gift, hospitality, forgiveness, love, or God“ verbirgt. Auch wenn er die Sprache einer „starken Transzendenz“ bei Marion oder Henry ablehnt, und „for Marion the excess is filled“, während er „for Caputo“ wie für Derrida „is empty“, ist für Caputo doch auch die Sprache der „schwachen Transzendenz“ einer „theology of the event“ „fueled to the most excessive extremes“, gerade weil sie aus der „insecurity“ der „unknowability“ des Gegenstands ihrer Sehnsucht lebt: sie ist die Sprache einer „‘hope without hope, against hope, hoping like mad“.[8]

Im Gegensatz zu diesen Entwürfen ist der Kearneys „much more tempered and, indeed, his project is precisely to formulate a spirituality of the ordinary and everyday.“ Kearney ist oft sehr kritisch gegen die grenzenlose Exzessivität der anderen Entwürfe und „argues for a more mediating position“.[9] Dennoch interpretiert auch Kearney Religion immer weder „by a focus on limit-experiences or extreme encounters“, d.h. durch einen Fokus auf „‘experiences of extremities which bring us to the edge“. Religion transzendiert die Gegenwart auf die eschatologische Zukunft eines Gottes „who may be“, und entwickelt darin eine unsere normalen Alltagserfahrungen zugleich aufnehmende und an ihre Grenze führende „Poetik des Möglichen“.[10]

Indem sie Gott und Exzess, religiöse Erfahrungen und Grenzerfahrungen in unterschiedlicher Weise jeweils eng zusammenbinden, stehen diese zeitgenössichen phänomenologischen (und teilweise hermeneutischen) Denker für einen „postmodern shift“, der sich von der modernen Gleichsetzung von Gott und Rationalität, so Gschwandtner, deutlich abhebt. Damit betreten sie auch religiöses Neuland. „While the claim that God is infinite or excessive, beyond anything we can control or even comprehend, is certainly not new“, wie ein Blick auf die apophatischen Traditionen der Weltreligionen zeigt, „this consistent association of excessive experience with religious experience, and the quasi-equation of religion with poetry and other artistic expression … does present a shift in thought.“ Antike und Mittelalter waren, so Gschwandtner, auch in ihren apophatischen Momenten zutiefst „critical of passion“, die eher mit Dämonen als mit Gott in Verbindung gebracht wurde.[11] Die Moderne betonte „God’s rational character“, der ihn einer vernünftigen Interpretation zugänglich machte, und stellte den Gedanken an Gottes Unbegreiflichkeit dahinter zurück.

„The contemporary discourse is definitly not ‚religion within the limits of reason alone‘, nor is God equated with morality or absolute self-conscious spirit, as in Kant and Hegel respectively. Rather the contemporary proposals seem to equate the divine with excessive experience.“ Das tun sie nicht alle in der gleichen Weise, sondern direkter oder indirekter, mit „stärkerer“ oder „schwächerer“ positiver Bestimmtheit. Aber sie stimmen, so Gschwandtner, doch darin überein, dass sie religiöse Erfahrung phänomenologisch „in terms of hyperbole and excess“ zur Sprache bringen, und „radical excess“ als „originating in some fashion in or at least … closely associated with the divine“ interpretieren, und darin auch eine religiöse „defense of passion at the very limit of human experience“ versuchen.[12]

Was ist aus Sicht der Denkrichtung meiner „Paradigmen theologischen Denkens“ von Gschwandners abschließender Betonung zu halten, dass die von ihr beschriebenen Phänomenologien des religiösen Exzesses nur noch wenig mit Kants Theorie der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zu tun hätten? Sie entspricht sicher einer geläufigen und dominanten postmodernen Attitüde, die Kants Rede von der „reinen Vernunftreligion“ mit der Forderung nach einer reinen Verstandesreligion verwechselt. (Die Vernunft ist bei Kant selbst keineswegs auf den Verstand reduziert, sondern umfasst im weiteren Sinne vielmehr die Gesamtheit der menschlichen Orientierungsvollzüge, also die beiden „Erkenntnisstämme“ „Sinnlichkeit“ bzw. „Einbildungskraft“ und „Verstand“, die zwischen „Verstand“ und „Vernunft“ im engeren Sinne angesiedelte „Urteilskraft“, zu der nach Kant neben den kognitiven auch die emotionalen, ästhetischen und teleologischen Urteilskapazitäten gehören, und die „Vernunft“ im engeren Sinne mit ihren das unerkennbar bleibende, aber notwendig zu denkende Ganze repräsentierenden transzendentalen, heuristischen „Vernunftideen“, ohne deren Voraussetzung uns überhaupt keine rational erkennbare Welt gegeben wäre.)

Auch der gängige Vorwurf, Kant reduziere „God“ bzw. „religion“ auf „morality“, wird in dieser simplen Formulierung m.E. der tatsächlichen Komplexität von Kants Denken nicht gerecht. Wie Stephen R. Palmquist es formuliert, reduziert Kants „overarching Copernican Perspective“[13] die Religion keineswegs „to nothing but morality“, sondern besteht im Gegenteil darauf, dass unsere Moralität „must be raised to the level of religion in order to become a feasible human endeavor at all.“[14] Mir scheint in dieser Perspektive auch der Bezug einer „postmodernen“, an der „Grenze“ und dem „Unrepräsentierbaren“ orientierten Phänomenologie der religiösen Erfahrung tatsächlich sehr viel näher an Kant zu sein, als es der modernitätskritische Gestus mancher „postmoderner“ Philosophen oft wahrhaben will, insbesondere wenn man sie auf die „Ästhetik des Erhabenen“ in Kants „Kritik der Urteilskraft“ bezieht. Nicht von ungefähr übt gerade die Ästhetik des Erhabenen eine starke Faszination auf viele Vertreter der Postmoderne aus, von Jean-François Lyotard über Mark C. Taylor bis zu Richard Kearney.

Das Erhabene übersteigt nach Kant das Schöne, indem es durch seine schiere Größe und Gewalt die Kapazitäten unserer ästhetischen Einbildungskraft und Urteilsfähigkeit sprengt. Während das Urteil des Schönen auf unser „Wohlgefallen“ zielt, bewirkt das Urteil des Erhabenen ein ehrfürchtiges Staunen oder einen numinosen Schrecken in uns. „That we call (some) objects ‚sublime‘ is due to their size and force, and to the fact, that they appear ‚to be contrapurposive for our power of judgment, unsuitable to our faculity of presentation, and as it were doing violence to our imagination‘ (KdU 253). We have problems apprehending and comprehending such objects in our intuition and we feel ‚pushed almost to the point of the inadequacy of our faculity of imagination‘(KdU 253), which ‚demonstrates its limits and inadequacy‘ (KdU 257).“[15] In der Erfahrung des Erhabenen wird unsere Urteilskraft in ihre Grenzen verwiesen; zugleich aber wird sie in die Lage versetzt, ihre eigene Naturtranszendenz zu erkennen.

Entsprechend schreibt Richard Kearney in seiner Analye des Erhabenen bei Kant: „Kant identifies the depth of the sublime … in terms of our resistance to something dreadful. It is, he says, our response to terror, that is in fact sublime rather than terror itself. … In other words, it is because our mind discovers unsuspected depths within itself in the face of some immesurable menace outside of us that we feel ‚sublime‘.“[16] Das „Erhabene“ zeigt sich also in der Fähigkeit des Menschen „to somehow transcend the immediate danger – at least in our minds. What we call sublime, therefore, is precisely that which ‚raises imagination to a presentation of those cases in which the mind can make itself sensible to the appropriate sublimity of the sphere of its own being, even above nature‘.“[17] Mark Patrick Hederman fasst in einer Besprechung von Richard Kearneys Buch „Strangers, Gods and Monsters“ Kearneys Deutung des „Kantian sublime“ so zusammen: „The event of alterity awakens the subliminal capacity in us, the otherwise dormant sensitivity to what is beyond us.“[18]

Für Mark C. Taylor schließlich eröffnet Kants Behandlung des „Erhabenen“ einen Weg über die ontotheologische „economy of representation“ der traditionellen Metaphysik hinaus. „The sublime erupts at the limits of human consciousness. Indeed, the sublime might be understood as the experience of limit as such.“[19] Das „Erhabene“ erschüttert die menschliche Subjektivität von innen her, bringt sie aus ihrer Ruhe und hält sie in Bewegung. „(T)he judgment of sublimity discloses differences among intuition, imagination and reason. … The site of the sublime is the site of difference – irreducible difference that can be reduced to neither identity nor unity. … In relation to the sublime, the imagination constantly alternates, oscillates, or hovers between differences it simultaneously brings together and holds apart. This ceaseless alternation keeps the imagination in motion and allows it no rest. … This is the abyss from which Kant had turned in the First Critique. The tremor … of the imagination leaves one shaking, shuttering, trembling. Far from synthesizing opposites in a comprehensive whole or absolute totality, the imagination disturbs, upsets, unsettles … . Neither exactly pleasurable nor displeasurable, the sublime is … ‚a negative pleasure‘. Rapidly alternating between opposites it cannot unite, the imagination creates a sense of vertigo – as if the foundation were shaking, cracking, tearing … The sublime is unpresentable und thus eludes or overflows the economy of representation. Forever unpresentable, the sublime is never present; never present, the sublime is unpresentable. If the sublime approaches, which is not to say arrives, it is at the limit, edge, margin, border of form – ‚in‘ the gaps, fissures, faults, tears of structure.“[20]

In alldem ist Kants Ästhetik des Erhabenen m.E. einer postmodernen Phänomenologie des religiösen Exzesses sehr eng verwandt. Auch für Kant ist religiöse Erfahrung Erfahrung an der Grenze, Erfahrung einer Dimension von Überschreitung und Alterität, die uns bestimmte Phänomene als „erhaben“ beurteilen lässt. Diese „liminal capacity“ menschlicher Erkenntnis ist für Kant aber nicht „außen“, in der Welt der Dinge, die den Menschen affizieren, begründet, sondern „innen“, in einem ihre biologische Natur transzendierenden Mehr in der menschlichen Subjektivität selbst, das den Menschen seine Welt immer auch religiös erfahren lässt. Als transzendentale Vernunftidee eines noumenalen Unbedingten, vor dem alles Bedingte erscheint, ist „Gott“ für Kant „kein möglicher Gegenstand der Erfahrung“. Es kann also auch keine Begründung des Gottesgedankens im Sinne der Deutung religiöser (exzessiver) Erfahrung als direkter Intuition eines Göttlichen geben.

Dennoch bestreitet Kant nicht die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit religiöser Erfahrungen überhaupt. Im Gegenteil entwickelt er in seiner „Kritik der Urteilskraft“ eine Möglichkeit zur Deutung religiöser Erfahrungen im Rahmen der Ästhetik des „Erhabenen“. So schreibt Peter Byrne: „It is possible to see (Kant’s) remarks on the sublime as leaving open the door to religious experience as a form of experiencing-as. We can experience some things as possessing the majesty and mystery we associate with divinity.“ Das „Erhabene“ ist nach Kants dritter Kritik „marked in the sense of greatness or overwhelming power“, mit dem wir bestimmte Erfahrungen der Wirklichkeit so interpretieren, dass sie „the feeling of a supersensible faculity in us“ erwecken.[21] Dieses menschliche Gefühl für das „Erhabene“ wird nach Kant durch die Wunder der Natur („der bestirnte Himmel über mir“), aber auch durch das Wunder des Ethischen („das moralische Gesetz in mir“) erweckt. „In the light of Kant’s recognition of the sublime in our experience of nature and of the demands of morality, it is not outrageous to say that there is a mystical strand in Kant‘s thought … Thus there is religious experience in Kant but it is not perception of God. The sense of the sublime is anchored in … our minds‘ reaction to those things that give rise to the sense of the supersensible.“ Die religiöse Erfahrung des Natürlichen oder Ethischen als „erhaben“ gibt bei Kant zwar „rise to a sense of God“, ist aber keine „source of information about God or evidence for his existence“.[22]

Insofern teilt Kants transzendentale Philosophie auf der einen Seite die Orientierung an einer religiösen Hermeneutik exzessiver und liminaler Phänomene, die Gschwandner in der „postmodern apologetics“ der zeitgenössischen phänomenologisch-hermeneutischen Philosophie festmacht. Auf der anderen Seite zieht sie ihnen gegenüber aber auch eine wichtige kritische Grenze ein: In den exzessiven „limit-experiences“ der mystischen Erfahrung grenzt die menschliche Intuition zwar an den letzten, unbedingten Horizont aller möglichen Erfahrung, kann diese Grenze aber nicht überschreiten.

Wie Stephen R. Palmquist betont, ist für Kant entgegen immer wieder vorgebrachten anderweitigen Behauptungen, dass Kants Philosophie „no room whatsoever for religious experience“ lasse[23], die mystische Erfahrung sogar grundlegend für seine ethische Orientierung. Schon in seinen „Träumen eines Geistersehers“ weist Kant nicht Swedenborgs Behauptungen mystischer Erfahrung an sich zurück, sondern betont lediglich, dass man aus solchen Erfahrungen kein theoretisches Wissen gewinnen kann: „Kant argues that something real and even significant may have been happening to Swedenborg, but that his attempt to draw knowledge from those experiences was illegitimate.“ Kants gesamte kritische Philosophie, so Palmquist, „leads to a existential heart that can best be called ‚Critical mysticism‘“.[24]

Dieser kritische Mystizismus in der Erfahrung des Erhabenen bei Kant begründet für ihn zwar die Möglichkeit religiöser Erfahrungen, aber keine Möglichkeit einer direkten Gotteserfahrung oder einen direkten Erfahrungszugang zum Bereich des Übersinnlichen. Solche mystischen Erfahrungen sind für Kant nicht Orte einer für ihn unmöglichen übernatürlichen „Offenbarung“, sondern in ihnen ist, wie Zilleßen es im Anschluss an Derrida formuliert, „allenfalls ein Hauch von Gott, ein flüchtig vorübergehender (Ex 33, 18-23), ein widersprüchlicher“[25], lediglich die „Spur einer Spur“, oder wie Peter Rollins es sagt: „Our religion is like the clearing in a forest after a great fire. It testifies to the happening of a great event and without the clearing we would not know of that event, but the clearing does not hold that event.“[26]

Insofern kann auch in menschlichen Grenzfahrungen und exzessiven Erlebnissen das Göttliche nach Kant nicht direkt „erscheinen“, sich nicht als solches „offenbaren“, auch nicht im Sinne eines „saturated phenomenon of pure givenness“ nach Jean-Luc Marion. Aber die „spätmodernen“ oder „postmodernen“ religiösen Denkversuche besonders von Derrida, Kearney, Heidegger, Ricoeur und Caputo (gegen dessen eigene Kant oft eher karikierende als interpretierende Attitüde), wie auch von Mark C. Taylor, der m.E. hier unbedingt zu ergänzen wäre, sind aus meiner Sicht eher Weiterführungen des Kant’schen Ansatzes denn seine Bestreitung, im Sinne dessen, was Derrida (der selbst gar nicht gern als „postmodern“ etikettiert wurde) sein Anliegen einer „neuen Aufklärung“ genannt hat[27].

„Exzessive Erfahrungen“, Grenzerfahrungen, und Erfahrungen des „Erhabenen“ haben auch dann eine fundamentale religiöse Bedeutung, wenn man sie mit Kearney und Kant nicht als „direkte“ Gotteserfahrungen deuten kann. Damit menschliche Gottesrede nicht illusionär bleibt, braucht sie „empirische Korrelate“, braucht sie eine phänomenale Entsprechung, auf die sie das Gottsymbol verweist. Theißen spricht hier von der „Erfahrungsbasis religiöser Vorstellungen“[28], die er in menschlichen Resonanzerfahrungen und Erfahrung bewältigter Absurdität festmacht.[29] John F. Haught spricht von bestimmten Grunddimensionen allgemeiner menschlicher Erfahrung, auf die das Wort „Gott“ verweisen können muss: „We must ask whether there is anything identifiable in the experience of all of us, and not just ‚religious’ people, to which the name ‚God’ might refer.“[30] Entsprechend sagt er: “I shall argue that the referent of this name is what all of us have already experienced to one degree or another, and that we all long to experience even more intimately at the most fundamental levels of our being.“[31] Wilhelm Gräb nennt „Gott” ein „Deutewort für Erfahrungen …, die anders nicht in einen Sinnzusammenhang integriert werden können“[32], das Symbol einer Sinnperspektive, die alle Einzelerfahrungen, die menschlichen „Sinngründe“ und „Sinnabgründe“ transzendiert, und in ein Ganzes menschlicher Daseinsvergewisserung integriert[33]. Für John Caputo geht es in der Gottesrede darum, das „Ereignis“ freizusetzen, das im „Namen“ Gottes verborgen ist, das Ereignis, das Jesus das „Kommen des Reiches Gottes“ genannt hat. Dieser „event“ im Herzen des christlichen Gottesglaubens ist für Caputo eine „Provokation“, ein „Ruf“, der uns aus der Tiefe der Wirklichkeit erreicht, ein Ruf, der uns erschüttert und unruhig macht, der uns in die Dimension seines Geheimnisses hineinzieht, obwohl wir dieses Geheimnis niemals begreifen können.[34]

Für die Bennenung solcher „empirischen Korrelate“ der Gottesrede sind auch die „Phänomenologien des religiösen Exzesses“, die Christina M. Gschwandtner im Rahmen ihrer „Postmodern Apologetics“ ausgewertet hat, m.E. wichtige und unverzichtbare Denkhilfen. Die exzessiven Erfahrungen, die Gschwandtner thematisiert, sind sicherlich in der Regel keine „gewöhnlichen“ Alltagserfahrungen, die jeder Mensch immer und in gleicher Weise macht, sondern „außergewöhnliche“ Grenzerfahrungen, die Menschen unterschiedlich stark und unterschiedlich oft gerade dort machen können, wo ihr gewöhnlicher Alltag sich unterbrochen und in Frage gestellt findet, die also in ihrer Intensität das Alltägliche gerade aufbrechen und überschreiten. Doch es gibt auch „exzessive“ oder „liminale“ Dimensionen unserer ganz gewöhnlichen Alltagserfahrung, weil auch „Alltagserfahrungen“ transparent werden können für das, was unseren Alltag transzendiert, eine gründig-abgründige und in diesem Sinne hyperbolische Qualität gewinnen können, etwa in unseren ganz „gewöhnlichen“ (und doch zugleich immer außergewöhnlichen!) Erfahrungen des Liebens- und Geliebtwerdens, des schönen Naturerlebnisses oder der sexuellen Erfüllung, die in bestimmten Zeiten und Situationen unseres Lebens auch unseren „Alltag“ sehr stark durchdringen und „erheben“ können.

Als „empirische Korrelate“ der Gottesrede sind m.E. beide Formen von menschlicher Grunderfahrung wichtig, die „gewöhnlichen“ Alltagserfahrungen von Resonanz und Lebensmut trotz alledem, „kleine“ und „stille“ Erfahrungen von Glück und Ganzsein, die man mit Sölle als als tägliche geistliche „Brot des Lebens“ in unserer ganz normalen, auch in der einfachsten Frömmigkeit[35] bezeichnen könnte, und die intensiven Grenzerfahrungen, die wir im Leben nur manchmal oder nur mit besonderer Übung häufiger machen, exzessive Erfahrungen überwältigenden Glücks, überwältigender Trauer oder „mystischer Verschmelzung“, die jener „besonderen Mystik“ zugerechnet werden können, die nach Steffensky „in dramatischer Verdichtung, sozusagen in künstlerischer Expressivität, das darstellt, was das Wesen von Frömmigkeit und Glaube ist“, und die darum anders als Sölles „demokratisierte Mystik“ „tatsächlich vielleicht … nicht der Weg von allen oder vielen ist“, in der „sich aber“ dennoch „in poetischer Dichte zeigt, was das Wesen eines Glaubens ist, der für alle gedacht ist.“[36]

Wobei mir wichtig wäre, mit Sölle zu betonen, dass die „Mystik“ am Herzen jeder „echten“ menschlichen Religion ihre Basis immer schon in unseren religiösen Alltagserfahrungen und nicht erst in den Erfahrungen exzessiver „Hyperbole“ hat. Religiöse Erfahrung muss als in der conditio humana selbst begründete Grunderfahrung gedeutet werden, die nicht nur besonders „religiös musikalischen“ Einzelnen, sondern prinzipiell allen Menschen möglich ist, und die neben explizit religiösen auch viele implizit religiöse Grunderfahrungen des Lebens mit einschließt. Es ist nach Fritz P. Schaller der Transzendenzhorizont des Menschlichen selbst, der die Menschen über die Vergänglichkeit und Begrenztheit ihres Lebens hinaus fragen lässt nach einer Dimension des Unvergänglichen und Unbedingten. Weil der Mensch die Kontingenz seines Lebens bewältigen und im Bedingten nach dem Unbedingten fragen muss, so Schaller, ist er religiös: „Religion, so die Grund-Hypothese, gehört zur Eigenart menschlicher Existenz, so wie Kunst, Wissenschaft oder auch Sexualität. Nicht jeder Mensch muss künstlerisch, wissenschaftlich oder auch sexuell aktiv sein. Es genügt, dass er die Fähigkeit dazu erworben hat. So verhält es sich auch mit der Religion. Nicht jeder Mensch muss religiös sensibel und aktiv sein, aber der Horizont des Unbedingten, des Unendlichen ist ein Element seiner Natur.“[37]

Die Grenzen und Übergänge zwischen „alltäglichen“ und „alltagsüberschreitenden“ Berührungen mit dem Transzendenzhorizont unseres Menschseins sind hier, meine ich, eher fließend. Denn auch die ganz „alltäglichen“ religiösen Grunderfahrungen, unser tägliches geistliches „Brot des Lebens“ nach Sölle[38], gehören insofern zu den menschlichen Grenzerfahrungen, als sie unsere Existenz als sterbliche und endliche Grenz- und Mängelwesen zur Voraussetzung haben, und darum als Akte des „Mutes zum Sein“ (Tillich) bzw. als Ausdruck von Lebensmut „trotz alledem“ gedeutet werden können, gerade angesichts der Grenzen unseres Daseins. Auch religiöse Alltagserfahrungen haben immer einen Bezugspunkt zu den „deep points of human experience, love or birth or death“, wie John Hick es formuliert hat[39], bzw. haben nach der Formulierung von Gavin Flood die Funktion, „(to) adress(es) issues of fundamental human concern about being born, living, and dying“[40].

Insofern führen auch unsere alltäglichsten religiösen Grunderfahrungen immer wieder an jene Grenze, in der wir Menschen unseren Alltag zugleich zu transzendieren beginnen, weil sie als Horizont des Unbedingten in allem Bedingten unseren „Glauben“ („faith“ nach Wilfred Cantwell-Smith) im Sinne von fundamentalen Akten der „Selbsttranszendenz“ (Hans Joas) begründen und evozieren.[41] In diesem Sinne wird ein „komplextheologisches“, „anatheistisches“ Reden vom „Göttlichen“ oder „Gott“ sicher mit Gschwandtner sagen können, dass (gewöhnliche und außergewöhnliche) liminale menschliche Grund- und Abgrundserfahrungen tatsächlich „at least … closely associated“ sind „with the divine“, und dass zu einer heute plausiblen Rekonstruktion der Gottesrede als „Rede an der Grenze“ unbedingt auch eine religiöse „defense of passion at the very limit of human experience“[42] gehört, die über die Diskreditierung und Dämonisierung aller menschlichen Leidenschaft in der christlichen Tradition zuvor deutlich hinausweist.

Anmerkungen

[1]    vgl. „‘Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ im 21. Jahrhundert“, 116-124;210-217; 223-229

[2]    Gschwandtner, Apologetics, 287f.

[3]    Gschwandtner, Apologetics, 288

[4]    Gschwandtner, Apologetics, 288

[5]    Gschwandtner, Apologetics, 289

[6]    Gschwandtner, Apologetics, 289

[7]    Gschwandtner, Apologetics, 289f.

[8]    Gschwandtner, Apologetics, 290

[9]    Gschwandtner, Apologetics, 291

[10]   Gschwandtner, Apologetics, 291

[11]   Gschwandtner, Apologetics, 292

[12]   Gschwandtner, Apologetics, 293

[13]   Palmquist, Public Square, 237, im Zusammenhang entwickelt Pamquist den Gedanken der „kopernikanischen Perspektivität“, die Kants gesamte kritische Philosophie bestimmt, im Rahmen dessen, was er den „‚architectonic‘ approach“ von Kants Denken nennt. Weil die Welt möglicher Erkenntnis nach Kant durch die apriorischen Strukturen von Sinnlichkeit und Verstand geformt ist, müssen auch die Grundlagen ihrer Erkenntis gemäß der systematischen Struktur der menschlichen Vernunft architektonisch und systematisch geformt sein. Weil unsere allgemeinsten Erkenntnisprinzipien apriorisch in der Vernunft vorgegeben sind, sollten Philosophen grundsätzlich versuchen „to construct their arguments in an orderly way determined by reason itself, rather than following the merely random approach of collecting information from … experience“. (Public Square, 236) Gerade die traditionelle Kantinterpretation hat die systematische Architekonik von Kants Denken „almost universally … as ludicrous“ diskreditiert (Public Square, 237); was die Interpreten nicht verstanden haben, haben sie als „‘only necessary because of the artificial requirements of Kant’s architectonic‘“ vernachlässigt. Dagegen ermöglicht, so Palmquist, das Ernstnehmen von Kants archtitektonischem Denkansatz auch die „various conundrums“ und „apparent contradictions or incoherencies“ in seinem Denken aufzulösen und uns in die Lage zu versetzen „to see concord in the otherwise apparently confusing labyrinth of Kant’s System“. (Public Square, 237) Aus dieser Einsicht in die notwendig logisch-systematische Architektonik von Kants gesamtem Denken ergibt sich, so Palmquist, „what I call the overarching ‚Copernican Perspective‘ in Kant’s System, a Perspective that informs each Critique at the deepest level.“ Die philosophische Weltperspektive, die er entwickelt, ist nach Kant keine exklusive, jede andere Perspektive ausschließende „‘final solution‘“, sondern vielmehr eine heuristisch „extraordinarily useful“ Perspektive philosophischer Weltinterpretation, der nichtphilosophische Naturwissenschaftler ihre andere, am Sammeln empirischer Daten orientierte Perspektive nach Kant notwendig entgegenstellen können, ja müssen. (Public Square, 237) Kants System schließt die Wahrheit empirisch orientierter naturwissenschaftlicher Weltinterpretation nicht aus, sondern versucht von der „Kopernikanischen Perspektive“ seiner „Transzendentalen Philosophie“ her lediglich, ihr Recht, aber auch ihre Grenzen epistemologisch zu bestimmen.

[14]   Palmquist, Public Square, 239

[15]   Wenzel, Introduction, 107

[16]   Kearney, Strangers, 129

[17]   Kearney, Strangers, 129

[18]   Hederman in Mannousakis, After God, 275

[19]   Taylor, Tears, 220

[20]   Taylor, Tears, 219-222

[21]   Byrne, Kant on God, 54

[22]   Byrne, Kant on God, 55

[23]   Palmquist, Public Square, 239

[24]   Palmquist, Public Square, 240; vgl. oben Abschnitt 2. zur Mystik bei Sölle und Kant

[25]   Zilleßen, Gegenreligion, 37

[26]   Rollins, How (not) to speak, 46

[27]   Vgl. Caputo/Scanlon, Transcendence and Beyond, 1f.

[28]   Theißen, Plädoyer, 46

[29]   vgl. meine Darstellung in „‘Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ im 21. Jahrhundert“, 15

[30]   Haught, What is God, 3

[31]   Haught, What is God, 4; vgl. meine Darstellung in „‘Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ im 21. Jahrhundert“, 90ff.

[32]   Sinnfragen, 35

[33]   vgl. meine Darstellung in „‘Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ im 21. Jahrhundert“, 298

[34]   vgl. meine Darstellung in „‘Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ im 21. Jahrhundert“, 210ff.

[35]   Sölle, Mystik und Widerstand, 12

[36]   aus dem einleitenden Gespräch zwischen Sölle und Steffensky, in: Sölle, Mystik und Widerstand, 13

[37]   Evolution des Göttlichen, 18; vgl. meine Darstellung von Schallers Gedanken im Zusammenhang in „‘Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ im 21. Jahrhundert“, 217f.

[38]   Sölle, Mystik und Widerstand, 12

[39]   S. Hick, Interpretation, 222

[40]   Flood, Religion, 4f.

[41]   s. die ins Literaturverzeichnis aufgenommenen Beiträge von Cantwell-Smith und Joas zum Begriff von „faith“ und „Selbsttranszendenz“; vgl. dazu auch meine entsprechenden Ausführungen in „‘Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ im 21. Jahrhundert“, 14-18

[42]   Gschwandtner, Apologetics, 293

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/84/sts08.htm
© Stefan Schütze, 2013