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Magazin für Theologie und Ästhetik


Vom Kulturverlust der Kirchen

Überlegungen zum Kulturpapier der EKD

Andreas Mertin

Das wäre eine schlottrige Auffassung, nach der die Kunst ein
Fakultativum für solche wäre, denen es zufällig Spaß macht.
Karl Barth(1)
Teil I: Der Kulturverlust der Kirchen

Bei der Entgegennahme des Preises der Stiftung "Bibel und Kultur" 1990 hat der Preisträger, der bildende Künstler und Priester Herbert Falken, darüber geklagt, daß er unter "der Kulturfremde, in der kirchliche Kreise leben", leide. Die Künstler seien "Opfer eines historisch gewachsenen Mißtrauens, ja einer gegenseitigen Feindschaft zwischen Kunst und Kirche, die unüberwindlich erscheint".(2) Auch der Ausstellungsmacher Wieland Schmied geht im Vorwort zum Katalog der Ausstellung "GegenwartEwigkeit" zum 90. Deutschen Katholikentag in Berlin von einem grundsätzlichen Dissenz der modernen Kunst zu den ästhetischen Vorstellungen der Kirche aus. Kunst und Kirche stehen sich "wie seit Beginn der Moderne in grundsätzlicher Fremdheit und Feindschaft gegenüber - zwei Welten, die kaum noch etwas verbindet".(3)

Auf der anderen Seite begegnet in innerkirchlichen Diskussionen des öfteren das gegensätzliche Argument, gerade die Kerngemeinde zeichne sich durch kulturelle Offenheit aus, hier fänden sich jene Leute, die auch im Theater, im Konzert oder im Museum zu finden seien, von einem besonderen Konfliktverhältnis zwischen Kirche und Kultur könne daher keine Rede sein.

Hier Kulturfremdheit, dort kulturelle Offenheit? Hier ein unüberwindlicher Graben, dort Kultur und Kirche Hand in Hand? Ein zu offenbarer Widerspruch! Der Lösung des Problems kommen wir näher, wenn wir uns mit dem jeweils unterstellten Kulturbegriff auseinandersetzen. Was heißt, die Kirche sei kulturfremd, was ist gemeint, wenn davon gesprochen wird, die Kirche leide unter einem Kulturverlust? Kann denn die Kirche, die doch selber Teil der Kultur ist, der Kultur verlustig gehen? Ist die Kirche kulturell ghettoisiert?(4) Kann sie nur noch durch Anschluß an die zeitgenössische Kultur den Weg aus dem selbstgewählten Ghetto finden? Welche Folgen hätte ein Verzicht auf die kulturelle Moderne für die Kirche? Sich der Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Kirche auf dem Gebiet der bildenden Kunst zu nähern, verlangt deshalb, den Kontext zu bestimmen, innerhalb dessen vom "Kulturverlust der Kirche" gesprochen werden kann.

Was heißt "Kultur"?

Der Begriff "Kultur" trotzt jeder kurzen und allgemein akzeptierten Definition. Es wird wohl kaum möglich sein, einen Konsens über den in unserem Kontext zu verwendenden Kulturbegriff herzustellen. Zu viel fließt bereits vom Erkenntnisinteresse in die Definition des Kulturbegriffs ein. So kann so Unterschiedliches wie Philosophie und Religion, Wissenschaft und Kunst, Formen der Lebensführung und Sitten und auch der objektive Geist des Zeitalters(5), ja selbst Arbeit, Technik und Wirtschaft(6) unter Kultur gefaßt werden. Damit die Konturen deutlicher werden, will ich im Anschluß an Ausführungen des Kultursoziologen Mohammed Rassem(7) unterscheiden zwischen Kultur als Handlung [1] und Kultur als Gebilde [2]:

[1] Kultur kann zunächst als Handlung im Sinne der Bildung und Erziehung des Menschen verstanden werden, "als Veredelung oder Vervollkommnung und als Urbanität im Kontrast zu Barbarei oder Primitivität".(8) Kulturgeschichte wäre so Geschichte der Ausbildung und Pflege der wertvollen menschlichen Anlagen. In diesem Sinne heißt es bei Cicero: "Cultura ... animi philosophia est ...". Später wird dann "cultura animi" allgemein zur Bezeichnung der Geistesbildung durch Philosophie, Wissenschaft, Ethik und Kunst gebraucht. Auch bei Kant und Schiller finden wir einen Kulturbegriff, der diese als aktive Pflege versteht. Kant betrachtet als eine Pflicht die "Kultur aller Vermögen überhaupt, zur Beförderung der durch die Vernunft vorgelegten Zwecke" und Schiller sah als Ideal der Kulturentwicklung, daß der Mensch "mit der höchsten Fülle von Dasein die höchste Selbständigkeit und Freiheit" verbinde. Kultur als Handlung kann aber auch eine religiöse Konnotation haben: die Verehrung Gottes im Sinne des deutschen Lehnwortes Kult.(9) "Kultur ist Aktivität, das liegt in der Grundbedeutung der lateinischen Substantiva cultus, cultura und der Verben colere, excolere. Sie bezeichnen mehr ein Tun als einen Zustand."(10) Wollte man heute Kultur als Handlung verstehen, müßte man m.E. von Kultur als einer Form der Vermittlung menschlicher Errungenschaften sprechen.

[2] Kultur kann auch als Gebilde verstanden werden, als Summe und Ergebnis kultivierender Handlungen Kultur ist dann etwas, über das verfügt werden kann. Kultur wird durch Nachahmung erlernt und durch Sprache getragen, bewahrt und überliefert. Diese Bedeutung setzt sich im 19. Jahrhundert zunehmend durch und bestimmt den heutigen Wortgebrauch. Die Auffassung von der Kultur als Gebilde ermöglicht es, verschiedene Kulturen zu unterscheiden, voneinander abzugrenzen oder miteinander zu vergleichen. Wir sprechen z.B. von einer Eßkultur (und differenzieren dabei noch einmal nach französischen, deutschen oder chinesischen und diese wiederum nach verschiedenen regionalen Eßkulturen), wir reden von der Kultur einzelner Nationen oder Volksgruppen, wir qualifizieren etwas als Ausdruck primitiver oder abendländischer Kultur. Diese Diversifizierung der kulturellen Gebilde kann immer weiter gehen, so daß weitere Subsysteme gebildet werden. In der Regel erscheint auch die Religion in der Reihe dieser Kulturgebilde(11) (wobei noch nach konfessionellen Kulturen unterschieden werden kann).(12) Kultur im Sinne des Gebildes ist also ein überindividuelles System, aber in sich differenziert. Kultur erweist sich im Gebrauch von Verfahrensweisen, die innerhalb der einzelnen kulturellen Bereiche ausgebildet wurden, z.B. in der Fähigkeit zu Geschmacksurteilen. Aber nicht jeder hat den gleichen Zugang zur Kultur, der Umgang mit ihr ist an die soziokulturellen Voraussetzungen des einzelnen und seiner Klasse gebunden.(13) Kultur ist deshalb ein hervorragendes Instrument "Distinktionen" vorzunehmen, d.h. sich von anderen abzugrenzen. Entsprechend den unterschiedlichen, voneinander abgrenzbaren Kulturen existieren auch verschiedene Sprachen der Kulturen. Die Mehrsprachigkeit der Kulturen läßt nach Gemeinsamkeiten und Differenzen einzelner Diskurse fragen. Fraglich ist z.B., wie sich religiöser und ästhetischer Diskurs historisch und aktuell zueinander verhalten, ob und wo sie sich begegnen, bzw. ob und wie eine gemeinsame Sprache wiederhergestellt werden soll und kann.

Was kann dann Kulturverlust heißen?

Kultur kann als ein "Schatzhaus konkreter Dinge, aber auch des Wissens und der Wahrzeichen" bezeichnet werden.(14) Der in diesem Schatzhaus gesammelte Kulturbesitz kann gemehrt, aber auch gemindert werden. Teile des Kulturbesitzes können ausgelagert, kulturelle Dinge können zerstört werden, Wissen kann verrotten. Das kann als Kulturverlust bezeichnet werden. Aber nicht jeder meint das gleiche, wenn er von Kulturverlust redet, über Kulturverlust läßt sich in unterschiedlichen Perspektiven sprechen: so kann Kulturverlust bedeuten, daß [1] eine bewußte Abwendung von einem Teilbereich der Kultur bzw. von einer anderen Kultur vorgenommen wird oder daß [2] ein Prozeß der Differenzierung eines übergreifenden Diskurses zu Einzeldiskursen stattfindet oder daß [3] ein genuin zusammengehöriges kulturelles Ganzes auseinanderbricht und beide Teile darüber ihre Identität verlieren und schließlich [4], daß sich innerhalb ihres ifferenzierungsprozesses zwei Kulturen so entfremden, daß ein gemeinsames Gespräch unmöglich zu werden droht. Jede dieser Bestimmungen von "Kulturverlust" beinhaltet zugleich Konsequenzen für den künftigen Umgang mit der Kultur.

[1] "Kulturverlust" als bewußte Distanz zur Kultur bzw. als gewollte Abgrenzung von einem Teilbereich der Kultur finden wir als ein kontinuierliches Element der jüdisch-christlichen Religion. Vom alttestamentlichen Bilderverbot als pointierter Absage an die religiöse Kultur der Nachbarvölker,(15) über die frühe Kirche mit ihrem Verzicht auf die Übernahme heidnischer Bilderfreundlichkeit, über den byzantinischen Bilderstreit mit seiner klaren Trennung von säkularer und religiöser Bilderkultur,(16) über die mehr oder weniger häretischen Bewegungen und Figuren des Mittelalters, Waldenser, Hussiten, Savonarola, die zugleich auch einer bestimmten Form der religiösen oder säkularen Kultur eine Absage erteilten, über die bekannten bilderskeptischen Fraktionen der Reformation mit ihrer ikonoklastischen Wirkungsgeschichte z.B. in England und den Niederlanden, bis hin zur Dialektischen Theologie im 20. Jahrhundert läßt sich eine Linie der theologisch begründeten Kulturskepsis ziehen. Diese Tradition sieht im bewußten Verzicht auf eine religiös legitimierte Kultur die konkrete Realisationsform der jüdisch-christlichen Religion. Diese bleibt auch künftig ein kritisches Gegenüber zur menschlichen Kultur: der Glaube führt jede Kultur in ihre Krisis.

[2] "Kulturverlust" kann nun aber auch beschrieben werden als historischer Prozeß der Loslösung der Künste von der sie dominierenden Religion. Ein so bestimmter "Kulturverlust" beschreibt die Entwicklung der Differenzierung der abendländischen Gesellschaft, die den Kern der Herausbildung der "Moderne" bildet. Um 1500 gerät der alles umfassende Anspruch des Christentums in die Krise, das Projekt der Etablierung der religiösen Rationalität in allen Lebensbereichen scheitert,(17) die Einzeldiskurse werden freigesetzt, auf sich selbst verwiesen und entwickeln sich. Dieser Prozeß ist unmerklich, seine Anfänge lassen sich nicht mit Jahreszahlen belegen. So kann auf dem Gebiet der bildenden Kunst nicht erst die Reformation - wie Werner Hofmann dies mit der Hamburger Ausstellung "Luther und die Folgen für die Kunst" vorgeschlagen hat(18) - für das Entstehen autonomer Kunststrukturen verantwortlich gemacht werden. Schon immer gehörte zum Erscheinungsbild kirchenkritischer Bewegungen die Unterscheidung von religiöser und nichtreligiöser Kunst, z.T. verbunden mit einer großzügigen Förderung säkularer Kunst. Auch in den Libri Carolini Karls des Großen wird allein die Qualität als Kriterium zur Beurteilung von Kunstwerken genannt, eine spezifisch religiöse Funktion komme ihnen nicht zu, ihre Aufgabe sei vielmehr die Ausschmückung der Kirchen und die Darstellung der Geschichte. Spürbar ist diese Unterscheidung auch in der Malerei der italienischen Renaissance. Zwischen 1420 und 1539 steigert sich der Anteil weltlicher Themen von 5% auf 22%. Mit Beginn der Neuzeit intensiviert sich der Prozeß der Differenzierung. Richtig folgenreich für die Kunst wurde es aber erst mit der Reformation.(19) Die bildende ist von allen Künsten das Stiefkind der Reformation. Quasi ein ganzer Berufsstand verlor durch sie seine Grundlage. Nach 1525 setzt in Deutschland der Niedergang der Kunstproduktion ein. Es wird fast ein Jahrhundert dauern bis sich die Zunft der Künstler von diesem Schlag erholt hat.(20) Nun dominieren weltliche Themen die Kunst und die private Nachfrage beflügelt die Kunstproduktion ebenso, wie es die religiös motivierte Nachfrage nach 1300 getan hatte.


Der Anteil religiöser Themen in der Kunst im Verlauf der Jahrhunderte
nach A. Sorokin: The Western Religion and Morality today; 
in: J. Matthes (Hrsg.): Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie, 
Bd. II Köln und Opladen 1966, S. 9-49.

Aber erst im 18. Jahrhundert war "der Punkt erreicht, wo die säkulare Kultur ihrer Verselbständigung inne wurde, um sich nun ganz aus eigener Autorität und mit umfassenden Anspruch zu entfalten ... Damit gewannen die Prozesse, die schon in Gang gekommen waren, Kraft und Beschleunigung, weil sie zum bewußten Ziel erhoben wurden ... Von dem Punkt ab, wo diese Vorgänge sich durchgesetzt haben, da können die Menschen sich den geschaffenen Tatsachen nicht entziehen: sie leben nun in einer Gesellschaft mit verselbständigter Kultur und kultureller Vergesellschaftung der Prozeß trägt sich selber weiter."(21) Selbst die Versuche der Frühromantik, Kunst und Religion wieder zusammenzubringen tragen letztlich weiter zur Differenzierung bei. Einmal, weil sie den Stellenwert der Religion zugunsten der Kunst zu verschieben trachteten und so den Protest des institutionalisierten Christentums provozierten, zum anderen, da das Projekt der religiösen Anreicherung der Kunst innerhalb der Künste selbst auf entschiedenen Protest stieß. Kunstreligion auf Kosten der christlichen Religion und religiöse Kunst auf Kosten der säkularen Kultur erweisen sich angesichts der fortgeschrittenen Differenzierung als nicht tragfähig. Am Ende steht die vollständige und unwiderrufliche Trennung von Religion und Kunst. Der Künstler und Theologe Thomas Lehnerer bemerkt zur Notwendigkeit der Abgrenzung der Kunst von der Religion: "Um als autonomer Bereich zu bestehen, muß sie sich, d.i. ihr Selbst finden. Die Geschichte der modernen Kunst ist die Geschichte dieser Selbstfindung. Das Selbst von Kunst konturiert sich aber nur durch Reibung an allem Anderen, an allen Nicht-Kunst-Bereichen ... Dort wo Kunst ihren Selbstbezug ausformuliert, wo sie ihre Autonomie zur Geltung bringt und dadurch als Totalität sich ausweitet, wo sie m.a.W. ihrem Begriff radikal folgt, ist sie bestimmte Negation von Religion".(22) Unter diesen Gesichtspunkten "bleiben alle religiös-theologischen Bemühungen, Kunst zu verstehen, limitiert."(23) Daher besteht die Perspektive der Begegnung von Kunst und Kirche in der Anerkenntnis dieser Differenz. Geführt werden müßte "ein Diskurs zwischen Kunst und Theologie, in dem beide Seiten ihre Position stark machen und in dem deshalb wirklich etwas auf dem Spiel steht. Es sollte ein Gespräch sein, bei dem die Einigung nicht bereits im vorhinein programmiert ist, ja vielleicht sogar nicht einmal angestrebt werden muß..., ja (das Gespräch) eigentlich keine Übereinstimmung zum Ziel haben (kann)."(24) Einsichtig werden muß, daß die religiöse Interpretation den ästhetischen Charakter der Kunstwerke, ihr Kunsthaftes verfehlt.

[3] Der eben beschriebene Differenzierungsprozeß stellt sich deshalb in einer veränderten Perspektive als echter Verlust dar, da ein zusammengehöriges kulturelles Ganzes auseinanderbricht und die Einzelteile darüber ihre Identität verlieren. So scheint retrospektiv für viele der historische Vorgang der Loslösung der bildenden Kunst von der Kirche zu verlaufen. In der Regel wird diese Entwicklung auf den Calvinismus zurückgeführt.(25) Tragend für diese Konzeption ist die Betonung eines homogenen Zusammenhangs von Kunst und Religion seit der ästhetischen Wende des Christentums im 4. Jahrhundert bis zum Beginn der Neuzeit. In Anbetracht der Vielfalt der Formen, der künstlerischen Errungenschaften, die die Allianz von Kunst und Religion hervorgebracht habe, sei es legitim, von einer "grundsätzlichen Zugehörigkeit von Kunst und Religion" zu sprechen, ja, Moral, Glaube und Kunst als anthropologisch verbunden anzusehen. In dieser Perspektive eines über tausend Jahre gelungenen Miteinanders muß es als dramatisches Ereignis gelten, wenn innerhalb von nur wenigen Jahren das scheinbar "genuin Zusammengehörige" auseinanderbricht. Die Spaltung von Kunst und Religion ist demnach kein Teil der objektiven Entwicklung der Gesellschaft, sondern ein katastrophaler "Substanzverlust des Glaubens", eine "Auflösung und Vernichtung" der christlichen Botschaft, die zur "Dauerkrise des Christentums" führe. Von dieser Entwicklung sei sowohl die Nachgeschichte der Kunst wie des Christentums berührt: Ästhetisierung, Formalisierung und Unverbindlichkeit der Kunst, Rationalisierung, Entsakralisierung und Bürokratisierung der Kirche seien die Folgen. Künftig bedürfe es einer "schöpferischen Wende im Zusammenhang von christlicher Botschaft und Verkündigungsgestaltung, von Kirche, Theologie und Kunst",(26) es gelte, die "Rückkehr der Bilder in die Kirche" zu ermöglichen, damit die Bilder, neben Musik und Wort, wieder zur dritten Säule der Verkündigung werden.(27)

[4] "Kulturverlust" kann schließlich eine negative Folge der Differenzierung meinen, nämlich, daß sich wesentliche Teile des institutionalisierten Christentums nicht mehr mit der gegenwärtigen, emanzipierten, autonomen Kultur beschäftigen, da sie den Kontakt zu ihr verloren haben. Innerhalb Deutschlands haben die Kirchen in diesem Jahrhundert nicht nur keinen Beziehung zur aktuellen Kunst ausgebildet, sie sind ihr darüber hinaus von Anfang an mit äußerstem Mißtrauen begegnet. Es bedarf noch historischer Aufarbeitung, wie entfremdet sich das Verhältnis von kultureller Moderne und Kirche zu Beginn dieses Jahrhunderts wirklich darstellt. Was haben die Kirchen denn von den Künstlern wahrgenommen, was von Marcel Duchamp, von Max Ernst, von George Grosz, von Kurt Schwitters? Statt dessen haben Theologen und Kirchenvertreter immer wieder Wiederbelebungsversuche am Leichnam "christliche Kunst" vorgenommen oder mit mehr oder weniger subtilen Mitteln die Kunst auf den rechten Weg religiöser Gebrauchskunst zurückzudrängen gesucht. Sei es, daß aus der Vielzahl der Werke der säkularen Kultur nur jene herausgegriffen wurden, die sich zur traditionellen religiösen Symbolik in Bezug setzen ließen, sei es, das die restlichen Werke harsch als menschenfeindlich, intellektualistisch, inhaltslos oder zynisch-destruktiv denunziert wurden. Aktuell herrscht bei beiden Kirchen auf dem Gebiet der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kultur weitgehend tabula rasa. Die wenigen kirchlich organisierten und bezahlten Ausstellungen, der traditionelle Aschermittwoch für Künstler, die eine oder andere gelungene Kirchenausstattung sind nur Ausnahmen von der tristen Regel, die die Kirchen nicht vom Verdacht des elementaren Kulturverlustes entlasten können. Die kulturelle Selbst-Ghettoisierung der Kirchen durch die Nicht-Wahrnehmung dessen, was z.B. in der Gegenwartskunst geschieht, ist tiefgreifend und folgenreich. Hier hat die Kritik am religiösen Subjekt einzusetzen, sei es an der Kirche, an Theologen und Theologien oder sei es an Gemeinden und Gläubigen. Es geht um den Verlust der Einbildungskraft in der Kirche.

Von den skizzierten vier unterschiedlichen Arten, von Kulturverlust zu sprechen (Kulturskepsis - Kulturdifferenzierung - Identitätsverlust - Kulturentfremdung) fällt die dritte insoweit aus dem Rahmen, als sie die Perspektiven der drei anderen bestreitet. Wer die kulturelle Einheit von Kunst und Religion als vorgegeben ansieht, muß die konkrete Kulturskepsis vom Judentum bis zur Dialektischen Theologie seinerseits mit Skepsis betrachten und als elementaren Verlust des Glaubensausdrucks beklagen. Er wird auch die Diskursdifferenzierung in der Moderne nur kritisch betrachten können und deshalb die Perspektive in der Gegenwart kaum in der Abwendung von religiöser Kunst und der Zuwendung zur säkularen Kultur sehen können. Ich persönlich kann diese Lesart von Kulturverlust nicht teilen. Sie verabsolutiert einen - sicher lange andauernden - Abschnitt der Geschichte, unterschlägt aber m.E. die durchaus respektablen und beachtenswerten gegenläufigen Tendenzen und bietet schließlich keine Möglichkeit, auf einem zufriedenstellenden ästhetisch - philosophisch - theologischem Niveau mit der Gegenwartskultur in eine Auseinandersetzung zu treten. Die anderen drei skizzierten Möglichkeiten von Kulturverlust zu reden, sind untereinander durchaus vereinbar. Selbst die kulturskeptische Position wird die Differenzierung von Religion und Kunst in der Moderne begrüßen und sie wird gegenüber der Position, die die kulturelle Entfremdung des Christentums in der Gegenwart beklagt, nur darauf beharren, daß die theologische Erkenntnis nicht in einen vorneuzeitlichen Stand zurückfällt und nun die säkulare Kultur zu einem religiösen Erkenntnismedium stilisiert.

Fortsetzung -> Teil 2:
Was folgt daraus für das Positionspapier der EKD "Gestaltung und Kritik?
 

Anmerkungen
  1. K. Barth, Ethik II, hg. von D. Braun. Gesamtausgabe, II. Akademische Werke 1928/29, Zürich 1978, S.437-444.
  2. Kirche und Kunst, 1/1990, S. 19.
  3. W. Schmied, GegenwartEwigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit, Ausstellungskatalog, Berlin 1990, S. 11-26, hier S. 13.
  4. vgl. Fr. H. Tenbruck, Bürgerliche Kultur in: Kultur und Gesellschaft. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 27, 1986, S. 277.
  5. Th. W. Adorno, Kultur und Verwaltung in: Horkheimer/Adorno, Sociologica. Reden und Vorträge, Frankfurt 1984, S. 48.
  6. H. Schwebel, Art. Kultur, TRT
  7. M. Rassem, Facetten der Kulturtheorie in: ders., Stiftung und Leistung. Essais zur Kultursoziologie, Mittenwald 1979, S. 28-33.
  8. ebenda, S. 28.
  9. vgl. Th. Hobbes, Leviathan IV, 45: "Aber die inneren Gedanken der Menschen, die äußerlich in ihren Worten und Taten zum Ausdruck kommen, sind die Zeichen unseres Ehrens und sie werden Verehrung, lateinisch cultus, genannt."
  10. M. Rassem, Das Gärtner-Gleichnis. Similitudo ab agricultura in: ders., Stiftung und Leistung, a.a.O., S. 12.
  11. Rassem verweist jedoch auf eine Anmerkung zum Konzilstext des II. Vaticanums, in der Pius XI. zitiert wird: "... daß es das Ziel der Kirche ist, zu evangelisieren, und nicht, Kultur zu treiben. Wenn sie Kultur betreibt, dann durch Evangelisation". Facetten der Kulturtheorie, a.a.O., S. 241f
  12. vgl. G. Schmidtchen, Protestanten und Katholiken. Soziologische Analyse konfessioneller Kultur, München 1973.
  13. Innerhalb der Kultur reproduzieren sich die Klassenverhältnisse einer Gesellschaft. So unterscheidet Bourdieu den "distinguierten Luxusgeschmack", die "Bildungsbeflissenheit" und den "Notwendigkeitsgeschmack"; vgl. P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 1982. Vgl. auch H.-P. Müller, Kultur, Geschmack, Distinktion. Grundzüge der Kultursoziologie Pierre Bourdieus in: Kultur und Gesellschaft, a.a.O., S. 162-190. Zur Übertragung der Bourdieuschen Studie auf deutsche Verhältnisse vgl. Blasius/Winkler, Gibt es die "feinen Unterschiede"? Eine empirische Überprüfung der Bourdieuschen Theorie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 41, 1989, S. 72-94.
  14. M. Rassem, Facetten der Kulturtheorie, a.a.O., S. 31.
  15. vgl. Chr. Dohmen, Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament. Frankfurt 2/1987.
  16. vgl. S. Settis, Ikonographie der italienischen Kunst 1100-1500: eine Linie in: Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte, Berlin 1987, Band 2, S. 15.
  17. Vgl. A. Hahn, Differenzierung, Zivilisationsprozeß, Religion. Aspekte einer Theorie der Moderne in: Kultur und Gesellschaft. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 27, 1986, S. 215-231.
  18. Vgl. W. Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst, München 1983.
  19. vgl. Chr. Göttler/P. Jezler, Das Erlöschen des Fegefeuers und der Zusammenbruch der Auftraggeberschaft für sakrale Kunst; Fr. Boespflug, Die bildenden Künste und das Dogma. Einige Affären um Bilder zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert; beide in: Dohmen/Sternberg (Hg.), ... kein Bildnis machen. Kunst und Theologie im Gespräch, Würzburg 1987, S. 119-148 und S. 149-166.
  20. Als Beispiel kann die Stadt Delft gelten: "Nach der Reformation von 1572 hatte die Lukas-Gilde der Stadt Delft weniger als 10 Maler um die Jahrhundertwende waren es 23 1650 zählte man 52." W. Kemp, Kunst wird gesammelt in: Funkkolleg Kunst, a.a.O., Bd. 1, S. 189.
  21. Fr. Tenbruck, Bürgerliche Kultur, a.a.O., S. 276, 278.
  22. Th. Lehnerer, Kunst - Selbstzweck und Totalität Kunst und Kirche 1/87, S. 39-41; ders., Leserbrief, Kunst und Kirche 3/87, S. 230.
  23. Th. Lehner, Kunst - Selbstzweck und Totalität a.a.O., S. 41.
  24. R. Hoeps, Leserbrief, Kunst und Kirche 3/87, S. 231f.
  25. W. Stark, Die kalvinistische Ethik und der Geist der Kunst in: Justin Stagl (Hg.), Aspekte der Kultursoziologie. (Festschrift M. Rassem). Berlin 1982. S. 87-96.
  26. Die zitierten Einschätzungen vom Kulturverlust der Kirche als Identitätsverlust finden sich in den beiden Aufsätzen von E. Simons, Kunst statt Religion? Zur Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Religion, Kunst und Kirche 4/88, S. 198ff.; ders., Gibt es christliche Kunst? Zur dramatischen Geschichte und Gegenwart christlicher Kunst, Das Münster 1/89, S.65ff. 2/89, S. 159f. 3/90, S. 247f. 4/89, S. 331ff. Ähnliche Argumente finden sich auch bei anderen Autoren.
  27. So der Tagungsprospekt einer Ev. Akademie "Von der Rückkehr der Bilder in die Kirche". Zur Kritik vgl. Verf., Der Triumph der Religion in den Künsten?, Kunst und Kirche 4/89, S. 243f.; ders., Schön, heilig, schrecklich? Marginalien zur Gegenwartskunst; in: Mertin/Schwebel (Hg.), Bilder und ihre Macht. Zum Verhältnis von Kunst und christlicher Religion, Stuttgart '89, S. 32ff
Andreas Mertin, 1991/99
Teil 2
Teil 3