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Magazin für Theologie und Ästhetik


Vom Kulturverlust der Kirchen

Überlegungen zum Kulturpapier der Evangelische Kirche in Deutschland

Andreas Mertin

Teil 3: Schlußfolgerungen

"Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) beginnen deshalb hiermit einen Konsultationsprozeß über das Verhältnis von Protestantismus und Kultur. Dabei bestimmt uns die Überzeugung, daß die Kultur auf die prägenden und kritischen Kräfte des christlichen Glaubens bleibend angewiesen ist und daß der christliche Glaube seinerseits nur im lebendigen Austausch mit der gegenwärtigen Kultur verständlich und zugänglich wird." Das Allererste, was man allerdings von der Evangelische Kirche in Deutschland erwartet hätte, wäre ein Eingeständnis ihrer Schuld gewesen. Schuld in Bezug auf die Entfremdung von der Kultur der Gegenwart, Schuld in Bezug auf die mangelnde Vermittlung von Kultur in die Gemeinden, Schuld in Bezug auf die anästhetische Selbstgenügsamkeit, in der sich die evangelische Kirche seit Jahrzehnten bewegt. Es reicht nicht einige Kulturveranstaltungen aufzulisten, um die kulturelle Gegenwartsrelevanz der Evangelischen Kirche apologetisch zu belegen. Nur radikale und konsequente Selbsterkenntnis im Blick auf die defizitäre kulturelle Lage des Protestantismus ist ein Ausgangspunkt für die Verbesserung der Misere. Der Hochmut, mit dem das Kulturpapier der Evangelische Kirche in Deutschland von der ersten Zeile an artikuliert, daß die Kultur auf die prägenden und kritischen Kräfte des christlichen Glaubens bleibend angewiesen ist, ist angesichts des realen Kulturverlustes der Kirchen unerträglich. Wo nimmt die Kirche das Recht her, prägend Einfluß nehmen zu wollen, wenn sie in bestimmten Bereichen der Kultur geradezu ein kultureller Analphabet ist. Hier ist wirklich Demut angesagt. Die Kirche hat es seit 150 Jahren verpaßt, die Entwicklung der kulturellen Moderne in irgendeiner Form angemessen zur eigenen Gestaltwerdung in Beziehung zu setzen. Und wohlgemerkt geht es nicht um kulturelle Anpassung! Es geht um Wahrnehmung, ja eigentlich nur um ganz simples Zur-Kenntnis-Nehmen.

Sollen Gemeinden gleichnisfähig zum Himmelreich sein, dann sind sie es auf dem Gebiet der Begegnung mit den ureigenen Feldern des Menschlichen, der Kultur, eben nicht. Wenn es ein göttliches Gebot zur ästhetischen Gestaltung gäbe, dann hätte die Kirche auf weite Strecken gegenüber diesem Gebot versagt. Die Kultur ist, so hat es Matthias Zeindler in seiner Studie über "Gott und das Schöne" formuliert, "die menschliche Entsprechung zu Gottes Versöhnungshandeln. Das bedeutet nicht nur, dass auch die Kirche Kultur ist, es bedeutet weiter, dass die Kirche inmitten der Welt exemplarische Kultur darstellt."(1) Exemplarisch, sofern man darunter vorbildhaft versteht, ist die Kultur der Kirche sicher nicht. Exemplarisch ist sie schon eher darin, dass sie die reale Kultur und die sich in ihr vollziehenden Entwicklungen ignoriert oder sich als deren Lehrmeister aufspielt. Statt dessen sollte sie lieber eingedenk sein, "dass das Wirken des Geistes sich auch extra muros ecclesiae vollzieht und dass sie deshalb auch in der sie umgebenden Kultur mit einem solchen zu rechnen hat. Hier eröffnet sich der Gemeinde ein wichtiges Feld der Wahrnehmung und der Benennung, gehört es doch zur Aufgabe der Kirche, nicht nur dem Handeln Gottes in der Welt tätig zu entsprechen, sondern dieses zuerst einmal in und ausserhalb der Kirche wahrzunehmen und als solches kenntlich und öffentlich zu machen."(2)

Formulierungen wie die Kirchen hätten "wie in den vergangenen 2000 Jahren christlicher Geschichte kulturprägend zu wirken" haben daher in einem Impulspapier der Evangelische Kirche in Deutschland nichts zu suchen. Angesichts einer fragwürdigen Zusammenstellung wie "christliche Geschichte" wäre zunächst einmal anzuerkennen, dass es "im Grunde nur Christus selbst gebührt, etwas als 'christlich' zu erkennen" und man sich deshalb "größte Askese im Umgang mit diesem Eigenschaftswort" auferlegen sollte.(3)

Apologetisch haben die Autoren dem Text eine Erklärung vorausgestellt, die vorab seine Unvollkommenheit und Anmaßung als Chance zum Dialog umdefinieren soll: "Der Text ist als ein Impulspapier konzipiert, das Anstöße für eine Diskussion geben will, aber auch selbst der Diskussion bedarf ... Manche Unvollständigkeit und Einseitigkeit ist bewußt in Kauf genommen worden. Aber gerade so eignet sich der Text für eine vertiefte und weiterführende Diskussion, zumal das Impulspapier das für den Abschluß des Konsultationsprozesses vorgesehene gemeinsame Wort nicht vorwegnehmen will." Aber so wie in der vorliegenden Form geht es natürlich nicht. Wenn das Gesprächsangebot schon mit der Abqualifizierung Andersdenkender im Raum der Kirche beginnt, wird für das allgemeine Gespräch über Kultur nicht viel zu erwarten sein.

Dabei hilft es überhaupt nichts, wenn Berühmtheiten im Auftrag evangelischer Veranstalter eifrig bestätigen, dass der Protestantismus in den letzten 500 Jahren kulturell relevant war und auch im 3. Jahrtausend noch kulturell relevant sein wird. Wie armselig wäre das. Protestantismus darf sich nicht auf seiner Geschichte als Bildungsreligion ausruhen, er muß schonungslos auch die Schattenseiten dieser Bildungsreligion aufdecken: dass es nämlich nicht gelungen ist, die Begegnung mit der Kultur breitenwirksam in der Evangelischen Kirche zum selbstverständlichen Bestandteil protestantischer Existenz zu machen. Zum protestantischen Stil gehört die Kunst der Wahrnehmung nur noch bedingt. Dafür ist das Impulspapier ein mehr als deutlicher Beleg.

Und deshalb gilt es im Blick auf das zu erstellende Wort - wenn es denn sein muß und nicht selbst schon als Defizitanzeige zu werten ist - nicht nur ein paar Aufsätze und Bücher zu lesen und abzuschreiben, sondern wirklich Aufklärung zu leisten. Warum initiiert die Evangelische Kirche in Deutschland also nicht einmal ein empirisches Projekt, in dem sowohl nach der Haltung zur Kirche wie nach der Haltung zu den kulturellen Einzeldiskursen gefragt und damit zugleich aufgehellt wird, ob es einen Zusammenhang zwischen bestimmten religiösen Haltungen in der Kirche und der (In-) Toleranz gegenüber den autonomen Bereichen der Kultur (Literatur, Bildende Kunst, Musik) gibt.(4) Das wäre wirklich erhellend, denn dann würde klar, wieviel Vermittlungsarbeit die Kirche auf dem kulturellen Sektor noch zu leisten hätte.

Statt dessen dürfte sich das Verfahren weitgehend in Selbstbestätigungen erschöpfen, auch wenn die Autoren beteuern: "So richtet sich die Einladung zur Teilnahme in gleicher Weise an Vertreter aus den verschiedenen kulturellen Bereichen jenseits der kirchlichen Grenzen." Ob das wirklich möglich ist, nachdem man bereits fast alle außerhalb der engen kirchlichen Grenzen vorfindlichen Positionen als "absurd" oder "verfehlt" verworfen hat, darf bezweifelt werden. Da hilft es auch nicht, zu erläutern was eigentlich Konsultation meint: "miteinander über die angesprochenen Fragen beraten, kompetenten Rat einholen, die Sicht der anderen Seite wahrnehmen, um am Schluß auf der Grundlage der Gespräche, Begegnungen, Hinweise und Vorschläge Position beziehen zu können." Denn was dabei "Position beziehen" meint, dürfte ansatzweise bereits mit dem Impulspapier deutlich geworden sein.

Nur eine Neuformulierung des Kulturpapiers, die berücksichtigt, was sich in den einzelnen Diskursen - jenseits dessen, was kulturell interessierte Theologen darüber bekunden - wirklich ereignet, kann sinnvoll sein. Sie wird sich entfalten müssen als protestantische Selbstkritik, als schuldhaftes Nicht-wahrgenommen-haben und Nicht-wahrnehmen-wollen dessen, was man als kulturelle Geistesgegenwart bezeichnen könnte.

"Gott ist ein Gott der Gegenwart: 'Denn siehe, ich bin da!' (Jes 52,6). Was für Gott selbstverständlich ist, ist für Menschen [und ihre Institutionen; A.M.] sehr schwer: in der Gegenwart ankommen. Gegenwart ist scheinbar etwas sehr Einfaches, weil sie jetzt gerade da ist und sich ereignet. Um aber zu verstehen, was die Menschen der Gegenwart bewegt, was der gegenwärtige Stand der Dinge und was der Lauf der Zeit ist, sind Wahrnehmungen und Erfahrungen nötig, die Gegenwart noch näher qualifizieren als nur der Zeitpunkt, der sich gerade ereignet ... Damit Religion ihren Auftrag angemessen und gegenwartsbezogen erfüllen kann, ist sie am Dialog und der Gewinnung qualifizierter Gegenwart interessiert und beteiligt. Dies ist nicht zuletzt ein Dialog mit der Gegenwartskunst."(5)

In diesem Sinne müßte das Wort der Evangelische Kirche in Deutschland zur Kultur wirklich exemplarisch sein, entfaltet werden müßten protestantische Perspektiven in der "Kunst der Wahrnehmung".

© Andreas Mertin, 1999
Anmerkungen
  1. Zeindler, Matthias: *Gott und das Schöne. Studien zur Theologie der Schönheit* (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 68) Göttingen 1993. S. 375.
  2. Ebd.
  3. "In der Regel verwenden wir dagegen das Eigenschaftswort 'christlich' für rein menschliche Belange, die dann in dem jeweils folgenden Hauptwort benannt werden. Wenn man heute an die »christliche Seefahrt« erinnert, springt die Merkwürdigkeit dieser Verbindung ins Auge. Wird hingegen von »christlicher Politik«, »christlicher Erziehung«, »christlichem Menschenbild« oder »christlicher Moral« gesprochen, ist schon nicht mehr mit dem gleichen Unbehagen zu rechnen. In das gleiche problematische Wortfeld gehören aber auch die »christlichen Werte«, die »christliche Religion« oder das »christliche Gottesbild«. Ein allgemeinverständlicher Begriff soll jeweils mit dem Adjektiv 'christlich' näher gekennzeichnet werden. Das Hauptwort zeigt das Allgemeine an, das Eigenschaftswort den bezeichneten besonderen Teil dieses Allgemeinen, eben den 'christlichen' Teil, wobei der Anschein erweckt wird, als ließe sich dies Besondere mit einem Katalog von Eigenschaften umfassen. Diese Habitualisierung des christlichen Glaubens in diesem oder jenem Charakterprofil bedeutet eine doppelte Abstraktion: einerseits die Abstraktion von dem lebendigen Gegenüber von Mensch (Gemeinde) und Christus und andererseits eine Abstraktion durch die Unterordnung des Besonderen unter die Fundamentalbestimmungen des Allgemeinen. Da es jedoch im Grunde nur Christus selbst gebührt, etwas als 'christlich' zu erkennen, sollten wir uns größte Askese im Umgang mit diesem Eigenschaftswort auferlegt sein lassen." Michael Weinrich: "Kirche in der Säkularisation"; In: *Die Kirche im Wort. Arbeitsbuch zur Ekklesiologie*. Hg. von E. Mechels und M. Weinrich. Neukirchen-Vluyn 1992, S. 222-246, hier S. 242.
  4. Ich erinnere mich noch gut an ein derartig konzipiertes Projekt aus den 80er Jahren im Rahmen meiner Tätigkeit am Marburger EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, das von den Beschlußgremien mit der Begründung abgesagt wurde, die Evangelische Kirche in Deutschland wolle keine Forschungen fördern, bei denen etwas für die Kirche Nachteiliges herauskäme. So kann man natürlich auch Wirklichkeit wahrnehmen. Wenn man erst gar nicht wissen will, ob Kunst und Religion getrennt sind, kann man ungetrübt von jeder Erkenntnis die Verbindung von Kunst und Religion einfach behaupten.
  5. Dietrich Neuhaus / Otfried Schütz, Vor dem Kunstwerk; in: Wechselspiel Kunst und Kirche, hg. von der Kirchenleitung der EKHN, Frankfurt 1996, S. 15-21, hier S. 19f.

Teil 1
Teil 2