VorwortAm Ende dieses Jahrhunderts und Jahrtausends vertreten manche Beobachter die Auffassung, das Christentum sei dabei, seine kulturprägende Kraft einzubüßen. Religionskritische Argumente haben im Osten Deutschlands durch die marxistisch-leninistische Propaganda weite Verbreitung gefunden. Die Pointe ist jedes Mal: Religion ist kulturell schädlich. Auch in der westdeutschen Öffentlichkeit sind solche Gedanken durchaus geläufig, auch wenn sie weniger aggressiv vertreten werden. Die Kirche gilt den Kritikern weniger als kulturell schädlich als vielmehr als kulturell irrelevant. Wir nehmen solche Einschätzungen ernst, aber wir widersprechen ihnen. Die Kirchen behalten eine wichtige kulturelle Rolle; im kulturellen Wandel wachsen ihnen auch neue Aufgaben zu. Es kommt darauf an, daß sie sich nicht in die Nische verkriechen, sondern in Auseinandersetzung mit der Kultur der jeweiligen Gegenwart eine spezifische kulturelle Gestalt annehmen. Sie haben zugleich die Entwicklung der Kultur kritisch zu begleiten und wie in den vergangenen 2000 Jahren christlicher Geschichte kulturprägend zu wirken. Die damit gestellten Fragen und Antworten bedürfen innerhalb der Kirche, aber vor allem auch zwischen Kirche und Öffentlichkeit, Kirche und Kultur stärkerer Beachtung. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) beginnen deshalb hiermit einen Konsultationsprozeß über das Verhältnis von Protestantismus und Kultur. Dabei bestimmt uns die Überzeugung, daß die Kultur auf die prägenden und kritischen Kräfte des christlichen Glaubens bleibend angewiesen ist und daß der christliche Glaube seinerseits nur im lebendigen Austausch mit der gegenwärtigen Kultur verständlich und zugänglich wird. Methodisches Vorbild für das Vorhaben ist der Konsultationsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage, den evangelische und katholische Kirche zwischen 1994 und 1997 in höchst erfolgreicher Weise durchgeführt haben. Der Text ist von einer durch den Rat der EKD und das Präsidium der VEF berufenen Arbeitsgruppe vorbereitet worden. Ihr gehörten unter dem Vorsitz von Bischof Dr. Wolfgang Huber (Berlin) folgende Personen an: Vizepräsident Dr. Hermann Barth (Hannover), Der Rat der EKD wie das Präsidium der VEF haben Anregungen zur Überarbeitung gegeben und der Veröffentlichung als Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß zugestimmt. Der Text ist als ein Impulspapier konzipiert, das Anstöße für eine Diskussion geben will, aber auch selbst der Diskussion bedarf. Ausgehend von der Inkulturation des christlichen Glaubens als menschlicher Entsprechung zum göttlichen Inkarnationsgeschehen wird das Verhältnis von Protestantismus und Kultur in exemplarischen Begegnungsfeldern (z.B. Alltagskultur, Bildung, Medien, Kunst, Erinnerungskultur) entfaltet. Die Diskussionsgrundlage sollte relativ kurz sein. Aus diesem Grunde sind auch nicht alle Themenbereiche im Verhältnis von Protestantismus und Kultur angesprochen. Manche Unvollständigkeit und Einseitigkeit ist bewußt in Kauf genommen worden. Aber gerade so eignet sich der Text für eine vertiefte und weiterführende Diskussion, zumal das Impulspapier das für den Abschluß des Konsultationsprozesses vorgesehene gemeinsame Wort nicht vorwegnehmen will. Thematisch sind Impulspapier und Konsultationsprozeß eine Weiterführung von Überlegungen, die in der Erklärung des Rates der EKD von 1997 "Christentum und politische Kultur. Über das Verhältnis des demokratischen Rechtsstaates zum Christentum" entfaltet worden sind: Welche Bedeutung hat das Christentum im nächsten Jahrhundert für Kultur und Gesellschaft? Sind die Prägekräfte des Christentums, wie manche meinen, ein "Auslaufmodell", oder gewinnen sie nicht vielmehr angesichts der bedrängenden Frage danach, was die Gesellschaft zusammenhält, erneut Relevanz? In diesem Sinn ist das Vorhaben eine Antwort auf aktuelle Herausforderungen in unserer Gesellschaft an der Schwelle zum neuen Jahrhundert. Der Konsultationsprozeß hat ein doppeltes Ziel. Zum einen soll am Ende des auf zwei Jahre angelegten Vorhabens ein gemeinsames Wort des Rates der EKD und des Präsidiums der VEF stehen. Zum anderen ist das Gespräch, also der Weg, auch selbst das Ziel. Der Konsultationsprozeß soll neben kontroversen Debatten auch Begegnungen in der je eigenen "Sprache" der jeweiligen kulturellen Felder umfassen. Konsultation meint im Sinne der positiven Erfahrungen mit dem Konsultationsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage: miteinander über die angesprochenen Fragen beraten, kompetenten Rat einholen, die Sicht der anderen Seite wahrnehmen, um am Schluß auf der Grundlage der Gespräche, Begegnungen, Hinweise und Vorschläge Position beziehen zu können. Dementsprechend richtet sich die Einladung zur Teilnahme an diesem Konsultationsprozeß einerseits an die Kirchen selbst: an die Gemeinden, die kirchlichen Verbände, Einrichtungen, Werke, die Akademien und Erwachsenenbildungseinrichtungen, insgesamt an alle Christen, die ihre Stimme einbringen wollen, vor allem an solche, die an der einen oder anderen Stelle am kulturellen Leben beteiligt sind. Der Konsultationsprozeß soll aber andererseits kein innerkirchlicher Dialog bleiben. So richtet sich die Einladung zur Teilnahme in gleicher Weise an Vertreter aus den verschiedenen kulturellen Bereichen jenseits der kirchlichen Grenzen. Wir bitten Sie, Ihre Anregungen und Beiträge zum Konsultationsprozeß entweder an das Kirchenamt der EKD, Referat 216 oder an die Geschäftsstelle der VEF zu schicken. Die eingehenden Beiträge und Wortmeldungen aus den verschiedenen Bereichen sollen sorgfältig zur Kenntnis genommen, dokumentiert, zusammengeführt und ausgewertet werden. Dabei kann sicherlich nicht alles seinen Niederschlag in dem angestrebten abschließenden Wort finden. Es ist unter dem Vorsitz von Bischof Dr. Wolfgang Huber ein Arbeitsausschuß gebildet worden, der den Konsultationsprozeß koordiniert und begleitet. Hierzu zählt, Impulse, Anleitungen und Arbeitshilfen für Aktivitäten und Initiativen im Rahmen des Konsultationsprozesses zu geben sowie zentrale Veranstaltungen und Tagungen zu organisieren. Ferner haben die beteiligten Kirchen die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FESt), gebeten, als zentrale Arbeits- und Kommunikationsstelle zur Verfügung zu stehen. Hier werden alle einschlägigen Materialien und Informationen gesammelt und auf Anforderung zur Verfügung gestellt; am Ende des Konsultationsprozesses sollen hier auch die Beratungsergebnisse zusammengeführt werden. Wir bitten die Leserinnen und Leser dieses Impulspapiers, sich selbst zu beteiligen und andere für die Mitwirkung zu gewinnen. Lassen Sie uns gemeinsam nachdenken, was wir zusammen und jeder und jede einzelne in seinem bzw. ihrem Bereich dazu beitragen können. Dazu möge uns Gott, der die Zeit in seinen Händen hält, Gnade und Weisheit schenken. Hannover / Frankfurt (Main), im Februar 1999
|
||||