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Magazin für Theologie und Ästhetik


"Lola rennt"

oder: Drei vergebliche Versuche über Eindeutigkeit(1)

Traugott Roser

Ein Spiel - mehr oder weniger (als) ein Film

"Ich hatte seit Ewigkeiten ein Bild im Kopf, das Bild einer Frau mit feuerroten Haaren, die verzweifelt und entschlossen rennt und rennt und rennt", sagt Tom Tykwer, Regisseur und Autor von 'Lola rennt'. Keine Geschichte, eine visuelle Idee. Das Bild ist der Träger von Bedeutung, nicht die Geschichte des Autorenfilmers, nicht die intellektuelle Idee, sondern das Image. Im Zeitalter der computergenerierten Bilder, nach der visuellen Revolution des Musikvideos wird die These Walter Benjamins über den Zusammenhang von Technik und Realitätsvermittlung im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst geradezu radikalisiert. Die Visualität von 'Lola rennt' ist ein unablässiges Bombardement des Publikums mit Bildern. Benjamin hat schon 1963(2) die Bedeutung von Montage und Kameratechnik für die Erfahrung von Realität betont: "Indem der Film durch Großaufnahmen aus ihrem Inventar, durch Betonung versteckter Details an den uns geläufigen Requisiten, durch Erforschung banaler Milieus unter der genialen Führung des Objektivs auf der einen Seite die Einsicht in die Zwangsläufigkeiten vermehrt, von denen unser Dasein regiert wird, kommt er auf der anderen Seite dazu, eines ungeheuren und ungeahnten Spielraums uns zu versichern!" Tykwers Film könnte als visualisierter Beleg dieser These dienen.

Der Kritiker Peter Hasenberg schreibt im film-dienst 1998: "Tykwer brennt ein beispielloses visuelles Feuerwerk ab und nutzt dabei das ganze Arsenal formaler Techniken: rasante Kamerabewegungen, schnelle Schnittfolgen, Jump Cuts, Split-Screen-Techniken, wechselnde Darstellungsebenen (Realfilm, Animationsfilm, Video). Sein Einfallsreichtum ist bestechend. Fünf Minuten seines Films enthalten mehr kreative Ideen als andere deutsche Filme in 90 Minuten Laufzeit!"

Die Filmkritik hat 'Lola rennt' ein "auf Spielfilm-Länge gedehntes Musik-Video" genannt. Sie geht dabei in die Irre. Der Film bedient sich in seiner technischen wie narrativen Struktur nicht der Gewohnheiten des Musik-Videos. Viel eher stimmt, was v. a. amerikanische Kritiker (etwa der Washington Post oder des Fachblatts Variety) schrieben: es handle sich um ein auf die Kino-Leinwand übersetztes Computer-Spiel.

Dafür sprechen verschiedene Elemente:

  • Vor allem die Grund-Idee: eine Protagonistin mit den Merkmalen eines virtuellen Computerwesens. Lara Croft, der erste virtuelle Star weit über die PC-Welt hinaus kann als eine Schwester Lolas gelten.
  • Die Spielfigur hat drei Leben und damit drei Versuche.
  • Die Protagonistin ist immer in Bewegung.
  • Entsprechend wird Lola im Vorspann als Animations-Figur eingeführt.
  • Der Lauf wiederholt sich im Realfilm auf verschiedenen Spielebenen mit je eigenen Gefahren und Hürden. Zu Beginn das Treppenhaus mit halbstarkem Jungen und einem Cerberus-gleichen Kampfhund. Die Frau mit Kinderwagen. Die Nonnengruppe, der Fahrradfahrer, ein aus einer Ausfahrt kommendes Auto.
  • Drei gleichwertige Variationen werden durchlaufen. Die Punktewertung wird in die Handlung verlagert als Überleben oder fatales Scheitern der Spielfigur.
  • Montage- und Schnitttechnik erinnern z.T. an computergenerierte Bilder: Dreidimensionalität suggerierende 360° Kamera-Schwenks um ein Objekt herum und ein insgesamt durchgängig beibehaltener Soundtrack mit leichten (und dann auch bemerkenswerten) Variationen.
  • Zu den Regeln mancher Rollen-Spiele gehört es, dass die Figuren mit jeweils quantitativ bestimmbaren Merkmalen ausgestattet sind. Stärke, Ehrlichkeit, Aggressionspotential etc. Manchmal lassen sich die Spielfiguren mit unterschiedlichen Wertigkeiten ausstatten. Die Analyse wird zeigen, dass die Spielfigur Lola in den drei Läufen je unterschiedliche Merkmale erkennen lässt.

Die Verwandtschaft des Films zur virtuellen Welt der PC-Spiele scheint mir ein Schlüssel zum Verständnis von 'Lola rennt'. (Sie erklärt z.T. auch den phänomenalen Erfolg des Films. Das Zielpublikum ist jugendlich, hört Technomusik und geht selbstverständlich mit Computerspielen und virtuellen Welten um. Tempo, Schnittfolge und visuelle Überreizung entsprechen diesen Sehgewohnheiten. Zu dieser Generation gehört auch der Regisseur: Tom Tykwer.

Architektur einer Baustelle: Fakten zu Film und Regisseur

Tykwer, geboren 1965, gründete 1994 mit den Regisseuren Dani Levy und Wolfgang Becker sowie dem Produzenten Stefan Arndt eine unabhängige Filmgesellschaft unter dem Namen X-Filme Creative Pool, die sich mittlerweile zum Zentrum innovativer Filmproduktion in Deutschland entwickelt hat. Drei Filme hat Tykwer für die Firma gedreht, jeweils mit deutschen Filmpreisen und internationalen Lorbeeren ausgezeichnet: 1995 'Die tödliche Maria', 1997 'Winterschläfer', und schließlich 1998 'Lola rennt'. Der vierte Film aus der Produktionsgemeinschaft 'Das Leben ist eine Baustelle' (Wolfgang Becker) war ein vergleichbarer Erfolg. Ort der Filme ist meist Berlin als Stadt der Baustellen. Formal wie thematisch besteht zwischen den Filmen der Firma Verwandtschaft. "Patchwork, Bricolage, Generation X. Die Ausdrücke sind so bunt wie das Phänomen: Lebensläufe im Zeichen der Postmoderne, Biografien, in denen das Fragment zum dominierenden Strukturmerkmal geworden ist."(3)

'Lola rennt' hatte am 20. August 1998 Premiere; er fand in Deutschland über 2 Millionen Zuschauer und war damit eine der erfolgreichsten deutschen Produktion des Jahres. 1999 lief der Film mit sensationellem Erfolg auch im Ausland. In den USA spielte Run Lola Run über $ 7 Millionen ein. Die Hauptdarstellerin Franka Potente hat mit damit ihren internationalen Durchbruch geschafft. Sie dreht mittlerweile bei Oliver Stone in einer großen US-Produktion.

Die Handlung des Films fügt sich grundsätzlich ein in das kanonische Story-Schema von Exposition - Konflikt - Auflösung, das David Bordwell in ein Fünf-Stufen-Schema einteilt: "1. Einführung des Settings und der Figuren, 2. Etablierung des Problems, das sich aus den Zielen der Figuren ergibt, 3. Versuche der Figuren, das Problem zu lösen, 4. Ergebnis der Lösungsversuche: die Auflösung des Problems, 5. Verfestigung der Auflösung: Ende und Ausgang der Geschichte"(4). Die Stufen 3 und 4 werden dreifach durchlaufen, nur scheinbar eine Durchbrechung der klassischen linearen Erzähltechnik. Diese Erzählweise hat ihre Vorbilder etwa in Groundhog Day (deutsch: Und täglich grüßt das Murmeltier) von Harold Ramis, USA 1992, 12:01 von Jack Sholder, USA 1993, oder Rashomon von Akira Kurosawa, Japan 1950.(5)

Stufen 1 und 2 werden simultan erzählt. Hauptfiguren, Setting und Etablierung des Problems, das sich aus den Zielen der Personen ergibt, werden innerhalb einer sechseinhalb Minuten langen Erzähleinheit eingeführt, eines Telefonats zwischen Lola und ihrem Freund Manni. Die Vorgeschichte des Problems wird eingeflochten, die Grundkonstellation der handelnden Personen wird angedeutet und neben dem zentralen Problem, der Beschaffung von 100 000 DM, wird der eigentliche Subplot etabliert: die fragile Beziehung zweier Jugendlicher. Bevor Lola noch sagen kann, dass sie ihrem Freund Manni bei der Beschaffung des Geldes hilft - und damit zu rennen beginnt -, erklingen durch das Telefonat die zentralen Fragen: "Lola, wo warst du? Du bist doch immer pünktlich! ... Von wegen Liebe kann alles, aber nicht in zwanzig Minuten hunderdtausend Mark herzaubern." Verlässlichkeit, Abhängigkeit und Verbindlichkeit einer Liebesbeziehung stehen am Anfang des Sujets - und werden auch am Ende stehen.

Die konzentrierte Exposition bewirkt eine schnelle und effektive Orientierung des Zuschauers über die Art, Stil, Themenspektrum (Zeit, Kausalität, Liebe) und Handlung des Films. Tempo, Schnittwechsel, Ton und Musik des restlichen Films werden vorweggenommen. Zudem gelingt es der Exposition, das Problem wie diverse Hypothesen zur Lösung gleichzeitig in den Figuren und in den Betrachtern entstehen zu lassen. Mittels dieses "Live-Charakters"(6) wird die Identifikation mit der Protagonistin erzeugt, dem Betrachter wird ein eindeutiger point of view zugewiesen. Wie es eben der Spielfiguren-Regel entspricht.

Lola ist die Tochter des Filialleiters einer Berliner Bank. Manni, ihr unbedarfter Freund (Moritz Bleibtreu), befindet sich auf dem Weg zum Kleinkriminellen. Ronnie, sein Gangsterboss setzt Manni einem "Vertrauens-Test" aus: Er soll den Erlös einer Gaunerei, genau 100 000 DM, exakt um 12 Uhr an einem vereinbarten Platz abliefern. Als in der U-Bahn der Penner (Joachim Król) sich mit dem Plastikbeutel voller Geld aus dem Staub macht, ruft Manni bei Lola um Hilfe. Lola ist nun diejenige, deren Verlässlichkeit getestet wird. "Ich helf' dir. Mir fällt immer was ein!" In blitzschnellen Flashsequenzen werden Alternativen durchgespielt, wer Lola helfen könnte. Als einzig mögliche erscheint der Vater mehrfach im Bild. Als Lola losrennt, schüttelt er jedoch schon den Kopf. Drei Varianten werden angedeutet durch eine mehrfach eingeblendete TV-Übertragung eines japanischen Rekordversuchs einer Domino-Stein-Kettenreaktion: der Versuch endet mit einer dreifachen Gabelung (je gleichlang). Die Exposition findet ihr Ende, als eine in den Realraum einkopierte Animationsfigur sagt: 'Rién ne va plus'. Der Croupier der dritten Variante.

Dreimal läuft Lola nun quer durch Berlin. Sie begegnet den gleichen Personen, verzögert nur durch wie zufällig erscheinende Ereignisse - etwa den Sturz auf der Treppe -, die jeweils dem Gesetz von Kausalität entsprechend Einfluss nehmen auf die Folgeereignisse. Im ersten Lauf erreicht Lola die Bank. Sie platzt in ein Gespräch ihres Vaters mit seiner Geliebten Jutta Hansen, in dem diese ihn vor die Entscheidung stellt: entweder die alte oder eine neue Familie mit der Geliebten. Lola kommt also etwas ungelegen mit ihrer Bitte um Hunderttausend Mark. Der Vater wirft sie aus der Bank und erklärt ihr, die Familie zu verlassen; Lola sei außerdem gar nicht seine Tochter. Die Zeit wird unterdessen knapp und Manni unruhig. Er überfällt den Supermarkt. Lola wird Zeugin und schließlich Mittäterin; es gibt ja nichts mehr zu verlieren. Polizisten umstellen das Gaunerpaar; ein zufälliger Schuss löst sich und trifft Lola tödlich. Game I over.

Noch einmal - mit mehr Power. Alle Handelnden sind aggressiver. Der Halbstarke mit Kampfhund stellt ihr ein Bein, Lola stolpert, stürzt die Treppe hinunter. Sie rempelt die Frau mit Kinderwagen an, diese ruft ihr "Kackschlampe" nach. Das Gespräch zwischen Vater und Jutta Hansen gerät zur Auseinandersetzung, denn Jutta Hansen erwartet bereits ein Kind, aber nicht von ihm (schon wieder!). Auch Lola agiert bissiger, fragt wenig freundlich in Richtung Jutta Hansen "wer is'n die Tussi?" Jutta Hansen wiederum ohrfeigt Lola, als diese das Geld fordert. Daraufhin schnappt sich Lola vom Wachmann eine Pistole und nimmt den Vater als Geisel. Mit dem Lösegeld in Höhe von 100 000 DM kann Lola von den (etwas tumb dargestellten) Polizisten unbeachtet entkommen und den vereinbarten Platz erreichen. Als Lola glücklich auf ihn zuläuft, wird Manni von einem Rettungsfahrzeug überfahren. Game II over.

Dritte Runde. Lola springt über den Hund, umgeht die Konfrontation auf der Treppe. Das Auto von Herrn Meyer, einem Kollegen ihres Vaters, rollt aus einer Ausfahrt und rammt Lola. Meyer kann dennoch seinen Termin mit Lolas Vater wahrnehmen, denn ihm bleibt hier ein größerer Unfall erspart. Der Vater muss deshalb das Gespräch mit Jutta Hansen abbrechen. Lola kommt zu spät zur Bank. Erschöpft bleibt sie vor dem Eingang stehen, wo Wachmann Schuster steht und Lola mit den Worten grüßt: "Da bist du ja endlich, Schatz." Aus dem Off sind zunehmende Herzschläge zu vernehmen, als Lola ihn fixiert. Etwas stimmt nicht. Schuster wird gleich einen Herzinfarkt erleiden.

Inzwischen begegnet Manni auf der Straße dem Penner und setzt ihm nach. Ihre Verfolgungsjagd führt über eine Kreuzung, auf die auch Lolas Vater mit Herrn Meier zusteuert. Dem skurrilen Paar hinterherblickend fahren sie frontal auf den BMW auf. Sie bleiben leblos liegen. Lola unterdessen rennt. Die Kamera zoomt auf maximale Großaufnahme, während Lola laut denkt - das einzige Mal im Film: "Was soll ich tun? Was soll ich nur tun? Was soll ich denn nur tun??" Sie schließt die Augen, die Filmsequenz wird auf Zeitlupe gebremst, absolute Stille. Lola betet: "Komm schon. Hilf mir, bitte. Nur dieses eine Mal." Sie presst die Augenlider fester zusammen - Kamera immer in Parallelfahrt, Großaufnahme und Zeitlupe: "Ich werd einfach weiterlaufen, okay? Ich warte..." Heftiges Quietschen durchbricht die andächtige Stille. Ein LKW kommt direkt vor Lola zum Bremsen. Lola starrt den Fahrer an wie vorher Meier und Schuster. Den Blick abwendend erkennt sie das Casino.

Sie löst einen Hundert-Mark-Chip, obwohl ihr noch 80 Pfennige fehlen. Aber im dritten Lauf sind alles Gutmenschen, auch die Kassiererin. Lola legt auf 20 - und gewinnt. Auch im zweiten Versuch setzt sie auf 20 und 'schreit' die Kugel ins Ziel. Raum und Zeit werden surreal verdichtet. An der Wand ein Bild, das eine Frau mit übergroßem Haarknoten zeigt - eine Anspielung auf Hitchcocks Vertigo - alle Besucher des Casinos stehen hilflos im Raum herum. Ein Wunder ist geschehen.

Aber Lola muss weiter. Auch Manni erlebt ein Wunder. Er kann den Penner stellen, bedroht ihn mit der Pistole. Der Penner rückt das Geld raus und fragt mit einem Antlitz, das Emanuel Levinas als Vorlage für seine Phänomenologie dienen könnte, "Und was mach ich jetzt?" Manni gibt ihm die Pistole und verschwindet.

Lola mittlerweile rennt auf den Treffpunkt zu. Ein Krankenwagen muss scharf bremsen. Lola steigt ein. Drinnen liegt Wachmann Schuster. Der Sanitäter müht sich vergeblich mit Herzmassage ab. "Was willst du denn hier?" herrscht er Lola an. "Ich gehör zu ihm..." Schuster streckt ihr die Hand entgegen, Lola ergreift sie. Dann begegnen sich ihre Augen lange, bis der Herzrhythmus sich wieder stabilisiert. Die Sirene verstummt, der Sanitäter atmet durch. Lola und Schuster blicken sich händehaltend an.

Die Uhr springt auf zwölf. Lola steht auf der Kreuzung. Manni ist nicht da. 360° Kameraschwenk um Lola. Da steigt Manni aus einem schwarzen Mercedes, verabschiedet sich unterwürfig von Ronnie und kommt cool lächelnd auf Lola zu: "Wie siehst Du denn aus Lola? Bist Du gerannt?" Manni nimmt sie an der Hand und geht mit ihr los; Lola blickt ihn nicht an. Auf die Frage Mannis in Richtung der Plastik-Tüte mit den 100 000 DM "Was isn da drin?" wird sie wohl nicht antworten. Game III over?

Die drei Spiele sind durchbrochen durch farblich wie narrativ aus dem Handlungsrahmen fallenden Sequenzen in Rot.(7) In ihnen stellt Lola Manni Fragen. Wörtlich: "Manni? Liebst du mich?" "Na sicher." "Wie kannst du sicher sein?" "Weiß nicht, bin's halt." "Aber ich könnte auch irgendeine andere sein." ... "Und wenn du mich nie getroffen hättest?"... "Ey Lola, was ist los?" "Ich weiß nicht." "Willst du weg... von mir?" "Ich weiß nicht. Ich muss mich grad entscheiden... glaub ich." In der zweiten Sequenz 'out of time'. beschreibt Manni Lola, wie schnell sie ihn wohl vergessen wird und einem anderen Traumprinzen verfällt. "Dann hockst Du plötzlich bei dem aufm Schoß und ich bin gestrichen von der Liste. So läuft das nämlich."

Eine Geschichte der Möglichkeiten

Die Haupterzählung des Films ist nur eine der möglichen Geschichten. In der ersten Sequenz des Films fährt die Kamera durch eine Masse schemenhafter Gestalten. "Der Mensch... die wohl geheimnisvollste Spezies unseres Planeten..." erzählt der Märchenerzähler Hans Paetsch aus dem Off, während einzelne Gestalten schärfere Konturen annehmen und die Kamera schließlich auf Wachmann Schuster zum Ruhen kommt. Alle erkenntlichen Gestalten sind Nebenfiguren im späteren Film. Sie erhalten in sekundenkurzen Bildsequenzen eigene potentielle Biographien, die entweder mit ewiger Märchen-Liebe, Wahnsinn oder einem fatalen Schicksal enden. Jede der Personen wäre folglich ihren eigenen Film wert. Lolas Geschichte ist nur eine der möglichen Erzählungen. Dafür aber gleich dreifach.

Die unendliche Menge der Möglichkeiten des Lebens, die dann aber ihre je eigene Kausalität haben, spiegelt sich als Thema in der Menge filmischer Mittel wider. Tykwer selbst dazu gefragt: "Ein Film über die Möglichkeiten des Lebens, das war mir völlig klar, muss auch ein Film über die Möglichkeiten des Kinos sein. Deswegen gibt es in 'Lola rennt' verschiedene Formate, es gibt Farbe und Schwarzweiß, Zeitlupe und Zeitraffer, also alle elementaren Bausteine, die in der Filmgeschichte schon immer benutzt wurden."(8) Noch einmal sei an Walter Benjamin erinnert.

Tykwers Film ist eine Fundgrube für Semiotiker. Die interne Verweisstruktur ist nicht weniger vielschichtig wie die zeichenhaften Verweise ein Jahrhundert Filmgeschichte im deutschen wie internationalen Kino. Das Zeitmotiv etwa taucht in der Exposition in einer quer durchs Bild krabbelnden Schildkröte, wie sie schon von Michael Endes Unendlicher Geschichte als Symbol eingesetzt wurde (samt Verfilmung). Ein anderes Beispiel ist der oben schon genannte Verweis auf Vertigo. Die Visualität als Idee des Films erklärt sich auch aus der Unmenge von Filmen, die der Regisseur seit den Tagen als Filmvorführer konsumiert hat. Daneben ist Tykwer wie seine Kollegen bei X-Filme Creative Pool ein Filmemacher, der mit den neuen, digitalen Möglichkeiten des Mediums jongliert und sich auf die Zeichensprache der virtuellen Welten einlässt.

Aber der Film will mehr sein. Die Bilder sollen haften bleiben - und die Geschichte soll nachwirken: Tykwer noch einmal zitiert: "Eine wilde Jagd - mit Nachwirkungen, denn auch nach dem Kino soll der Film den Zuschauer noch beschäftigen... Ein Action-Film, der eine philosophische Idee trägt, die aber ganz spielerisch eingebaut ist. Im Vordergrund stehen immer Notwendigkeiten der Handlung, im Hintergrund steht ein Modell über Kausalität, über Weltkonzepte, über die Macht des Zufalls und des Schicksals."(9)

Die Zwischen-Szenen, die 'roten Szenen' sind die einzigen ruhigen Einstellungen. Hier ist auf Kamerabewegung verzichtet. Tykwer sagt darüber: "Es ist unheimlich still; ... so dass man das Gefühl hat, sich in einem Vakuum zu befinden. Die beiden sind in einer Art Kokon, einer Zwischenzone zwischen Tod und Leben."(10)

Bilderphilosophie im virtuelle Zeitalter

Das Spiel mit den Möglichkeiten und des Fragmentarischen menschlicher Existenz ist seit Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" Bestandteil literarischen Gemeinguts. Tykwer setzt seine Figur des Cyberspace dieser Tradition aus. Es lohnt sich also, die "Figur" genauer zu betrachten: Figuren sind, ganz im Sinne antiker Verwendung von Rede-Figuren, "vermittels von Assoziation und Substitution hergestellte Abkürzungen", also als Repräsentanten von Bedeutung.(11)

a) Rot gegen den Rest der Welt

Lola trägt alle Elemente einer Computer-Spiel-Figur am Leib. Rote Haare, ausgeprägte Körperformen und eine Tätowierung um den Nabel, Zeichen der Techno-Generation, deren inszenierte Körperwelten jährlich bei der Love-Parade in Berlin zu bestaunen sind. Zeichen, 'icons'(12) besitzen eine ambivalente und ironisch eingesetzte Verweisstruktur, beharren aber auf Oberflächlichkeit. Der amerikanische Theologe Tom Beaudoin, Jahrgang 1969, macht gerade auf die Bildhaftigkeit der Kultur seiner Generation aufmerksam. Eine Generation, aufgewachsen mit Comics und Musikvideos, Computerspielen und Internet, Markenfetischismus und Körperkult. Über die Bildhaftigkeit schreibt Beaudoin: "The image is the ground, the unit of experience, the frame for each of the pop culture forms... Music video is a collection of televisual 'musical' images. Cyberspace is a series of virtual images. Fashion conveys the image of the self and the self as image. What unites all these images? Each image in pop culture is a sign (whether a pierced navel, a crucifix, or a fish on a cutting board) that refers to something else.... Thus, any GenX pop culture interpretation is a chain of signs, with one image leading to another."(13) Durch die Verwendung von Bildern kommt der Benutzer allerdings darum herum, das Zeichen als Zitat oder als Bekenntnis erklären zu müssen.

  • Rote Haare: Lola ist anders, ist individuell - so wie jede ihrer haargefärbten Altersgenossinnen. Gewiss ein ironisches Spiel mit dem Identifikationsmerkmal der Elterngeneration wie mit den vermeintlich magischen Fähigkeiten Rothaariger.
  • Das Zimmer Lolas ist in der Eröffnungssequenz zu sehen. Kurz fällt dabei der Blick auf einen kleinen Hausaltar mit ikonographischen Massen-Objekten: Kerze, Herz, Polaroid mit Manni und Lola, Madonnenfigur (die Muttergottes in Lourdes-Variante). Repräsentanten der Image-Kultur, die sich ernsthaft oder ironisch der religiösen Symbolik bedient.
  • Die Tätowierung um den Nabel Lolas. (Die Popularität der Körperkunst in den letzten Jahren ist anderen Generationen wohl nur schwer zu vermitteln. Beaudoin versucht es zumindest, indem er auf den Schmerz- und Erfahrungsgehalt der Tätowierung verweist.)

Eines ist allen Zeichen gemeinsam: exklusive Geltung innerhalb einer Generation. Zielpublikum und Macher des Films gehören dieser Generation an, die in der amerikanischen Schlagwort-Kultur als Generation X beschrieben werden: Kinder der Flower-Power- und der Baby-Boomer-Generation. Tom Beaudoin definiert die Generation X als eine Kultur der Simulation: "With the ascendance of popular culture, the 1980s gave access to what has been called a culture of simulation. The simulation (or imitation) of reality found in video culture - for example in film, music video, and video games - was of a piece with the rise of... virtual reality."(14) Dass die Übertragung einer populär-soziologischen Kategorie von Nordamerika auf Mitteleuropa nicht ohne Brüche und Zeitverschiebungen möglich ist, sei hier nur ansatzweise angemerkt.

Die ironische Ambivalenz des imitierenden Simulierens bezieht sich auch auf Religion. Religiöse Symbole sind selbstverständlicher Teil der Kultur, wie sie v.a. in Massenmedien präsent ist; sie werden nicht bekämpft, wie noch in der Generation der Eltern. Sie sind Teil der Kultur, der man sich eingliedert oder zu der man sich distanziert, der man aber nicht entkommen kann. Es trifft zu, was Wolfgang Steck über den Zusammenhang von veröffentlichter Christentumskultur und deren privater Aneignung schreibt: "Die Egalisierung und Standardisierung der religiös-moralischen Gehalte [des zur Kulturreligion gewordenen Christentums] stimuliert aber gerade die private Aneignung der Medienreligion."(15= Weil die Kultur aber alles andere als stimmig und homogen ist, kommen widersprüchliche Zeichen und Inhalte gleich-gültig zur Geltung. Ironische Distanznahme ist das angemessene Stilmittel. Andreas Mertin beschreibt denselben Sachverhalt folgendermaßen: "Jugendliche und Erwachsene beziehen Elemente aus Filmen und Sendungen in die Gestaltung und Bewältigung ihres Alltags ein. Sie partizipieren also nicht nur an der Verbreitung und Rezeption massenmedialer Produkte, sondern auch an der alltäglichen ‚Produktion' lebensweltlicher Deutungen und Bedeutungen."

Als Stilmittel der ironisierenden Zitation ist auch die Voranstellung zweier Zitate am Anfang des Films zu verstehen: das erste von T.S. Eliot, das dem Film eine philosophische Tiefe zu geben versucht, nur um vom zweiten, nämlich von Sepp Herberger, sofort ironisch kommentiert zu werden.(16)

b) Wer ist eigentlich die verlorene Generation?

Auffälliger Weise gibt es neben Lola und Manni keine nennenswerten Vertreter der eigenen Generation. Dafür umso mehr der vorgängigen, personifiziert im Vater. Er wird vor allem in den Szenen mit Jutta Hansen gezeigt, und dabei immer mit einer wackligen, vorsintflutlichen Home-Video-Kamera aufgenommen, dem Gerät der Kinder-Geburtstage und Urlaubsstrände. Nun dreht sich das Objekt gegen ihn und seine Unsicherheit, sein erbärmliches Leben, sein Immer-noch-auf-der-Suche-nach-Liebe-Sein. Was Wunder, dass Lola im zweiten Spiel die Waffe gegen ihn richtet.

Georg Seeßlen vertritt wie Susan Hayward eine psychoanalytische Deutung des klassischen Schemas von Exposition, Konflikt und Auflösung.(17) Dem zu Folge entspricht die Exposition der Erzählung dem Verlust der Familie; der Konflikt erzählt von der Krise, während das Ende der Geschichte die Identitätsfindung der Heldin schildert. Die ödipale Struktur des krisenhaften Endes der Zugehörigkeit zur elterlichen Welt bis zur Identitätsfindung nimmt in 'Lola rennt' den Verlauf eines Weges. Im Kinderzimmer erreicht Lola der Anruf Mannis, der sie dem Zuhause endgültig entreißt. Eine Rückkehr (wie etwa Dorothy in 'Das zauberhafte Land'/'The Wizard of OZ') ist unmöglich. Der Abschied vom Vater vollzieht sich in eskalierenden Variationen von der Annullierung des Verhältnisses bis hin zur Todesphantasie durch einen Autounfall (die deus ex machina-Variante). Das letzte Bild zeigt Lola am Ende des Weges auf einer Straßenkreuzung mitten in der Mega-Baustelle Berlin. Ein Ort der Entscheidungen. Zwar wird die Gründung einer eigenen Familie angedeutet; sie wird jedoch sofort auf ein offenes Ende hin aufgelöst.

Der Weg entspricht dem altersbedingten Aufbruch der Hauptfigur zur eigenen Subjektwerdung. Ihr Aufbruch gerät zum Ausbruch. Die kaputte Ehe der zu Spießbürgern geratenen Eltern, die 68er-Generation der entscheidungsunfähigen Versager und ihrer nie endenden Pubertät: all das hat Lola und ihre Altergenossen in ein urbanes und emotionales Chaos gestürzt. Die Folgen dieses Chaos sind Patchwork-Biographien, die Tykwer in den genial-kurzen Standbild-Serien einführt. Instabilität, Fragmentarität, Unzuverlässigkeit - das ist nicht die Welt Lolas, sondern die der Eltern, in der sich Lolas Generation zwangsweise zurecht finden muss. Lola sucht Orientierung, aber wo? Manni hat den kindischen Helden Ronnie zum Vorbild gewählt, eine Comic-Version kultureller Verfallstheorien. Dieser Weg führt in einen kläglichen Tod bar jeder Heldenpose.

Die Religionspädagogik hat in Aufnahme der Entwicklungspsychologie die Verschiebungen im Wertesystem im Alter zwischen Pubertät und Erwachsenwerden herausgearbeitet. Distanznahme zu und Teilhabe am tradierten Wertesystem stürzen Heranwachsende in sequentielle Identitätskrisen. "Die Vermittlung von wertorientiertem Verhalten vollzieht sich wesentlich auf dem Weg der Partizipation. Die Teilhabe an in der Gemeinde lebendigen Symbolen kann aber angesichts der neuzeitlich-pluralistischen Situation nur über eine kritische Distanz als konstruktive Möglichkeit erfahren werden - Partizipation und Reflexion gehören zusammen."(18)

Das Dilemma der Generation X ist, dass die Elterngeneration keinen homogenen Wertekosmos mehr kennt, sondern ihrerseits ohne stringentes Bezugssystem auskommen muss. Aufgewachsen ist Lola also in einer Welt, in der religiöse oder gar konfessionelle Bindung zu verschwindenden Größen geworden sind. Dies wird 'Lola rennt' und die meisten europäischen Filme am deutlichsten von den US-amerikanischen Blockbustern unterscheiden. Es gibt keine Rückkehr zu einem prästabilisierten Gleichgewicht.

Die Frage also bleibt: welches Wertsystem sucht Lola sich aus?

Die drei Varianten der Erzählung entsprechen einer spielerischen Simulation der Realität mit geringfügig veränderten Variablen. Ein Spiel; denn spielerisch machen Menschen zwischen Kindsein und harter Realität sich die Welt zu eigen. "Im Spiel werden wir wirklich Mensch, im Spiel realisieren wir unsere Freiheit... Genetisch betrachtet, erprobt das Kind im Spiel seine Fähigkeiten, entdeckt spielend seine Umwelt und bildet in gleicher Weise die Vorstellungen und Begriffe, um sich selbst und die Dinge sprechend und denkend zu begreifen... Im ästhetischen Spiel gibt [der Mensch] seiner Freiheit Ausdruck..."(19) Eckart Gottwald macht auf die Rezipientenorientierung dieses Elements des Unterhaltungsfilms aufmerksam; dieser Punkt kann hier nur angedeutet werden. Es geht ja um die spielerische Aneignung eines Wertsystems durch die 'Spiel-Figur' Lola. Der Spiel-Charakter ist allerdings in der virtuellen Welt der PC-Spiele noch deutlicher umgesetzt. Der Simulation kompletter Welten entspricht auch, dass es im Spiel immer um Leben oder Tod geht, also um Alles oder Nichts. In diesen Spielwelten werden "die Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben", die Gültigkeit von Ordnungssystemen kann simuliert erlebt werden, bis zum "wahrhaft apokalyptischen Weltbild... [Der Benutzer] muss mit menschlichen und vor allem übermenschlichen Mächten rechnen, die jederzeit und ohne Vorwarnung aus dem Jenseits des eigenen Blickfeldes hereinbrechen". "Es wäre zu fragen, welche Welt-Bilder der Umgang mit solchen Bildwelten erzeugt."(20) Darauf gibt 'Lola rennt' eine Antwort, denn die Spielfigur steht vor der Frage: Welchem Wertsystem schließe ich mich an?

Schon in der Exposition und Einführung des Problems führt Tykwer die Hollywood-Variante ein: unbedingte Liebe. "Lola rennt aus Liebe zu Manni", schreibt Hans Schifferle in seiner Kritik.(21) Oberflächlich betrachtet folgt 'Lola rennt' damit dem Sinn-System, dem 'Titanic' seine (bislang) endgültige Fassung verliehen hat. Ich behaupte, dass Lola Rennt dieses romantisch-ästhetische Ideal demontiert.(22) Die roten Zwischenszenen zeigen kein glückliches Liebespaar, das Erfüllung im erotischen Spiel findet. Es zeigt zwei junge Menschen, die einander ihre Liebeserklärungen nicht glauben. Auf Liebe ist also kein Verlass.

Nach Tom Beaudoin ist die fundamentale Frage der GenX: Wirst Du für mich da sein?(23) Das gilt gerade, weil diese Generation alles als verlässlich Gültige als das Brüchige und Instabile erlebt: Staat, Eltern, Freunde, Religion, Vorbilder. Die Frage nach der absolut verlässlichen Beziehung stellt Manni an Lola zu Beginn. Lolas Selbst-Konzept (im Sinne C. Rogers) ist, dass sie eben diese Frage bejahen kann. Zweimal aber erfährt sie ihr Scheitern. Beim dritten Mal erfährt sie, dass sie selbst diese Frage nicht beantworten kann, sondern sie weiter delegieren muss: an einen Gott. Die Frage wird positiv beantwortet, woraufhin Lola selbst sich als verlässlich erweist außerhalb ihrer Beziehung.

c) 'Lola rennt' - oder: Ausbruch aus der Welt ohne Gott

Hans-Jürgen Fraas schreibt: "Die Pubertät bringt häufig eine spezifische Abwendung von Gott als dem Projektionsträger der elterlichen Autorität und damit vom Religionsunterricht mit sich. Dieser 'Schüleratheismus' (D. Stoodt) ist für viele der nötige Umweg im Prozess der Ablösung von den Eltern." Was aber, wenn die Eltern von Gott nichts vermitteln? Wird dann aus dem Schüleratheismus ein Schülertheismus? Lola Rennt bietet dafür immerhin einige Indizien.

Die erfolgreiche letzte Spielrunde ist gespickt von zahlreichen mirakulösen Ereignissen, die vom Filmteam in entsprechender Weise gezeigt werden(24):

  • der Soundtrack erhält einen orientalischen Klang, der prominent durch Peter Gabriel eingeführt wurde in der Scorsese-Verfilmung der "Letzten Versuchung Christi" (USA 1988; Soundtrack "Passion"). Bei 'Lola rennt' wird die transzendierende Klangwelt dann eingesetzt, wenn die Handlung eine mirakulöse Wendung erhält.
  • Kamerabewegungen und Montage des Films heben Momente besonderer Anspannung heraus: die Augenkontakte Lolas, das Wunder im Casino und insbesondere die Wunderheilung Schusters. Das Gebet Lolas mit geschlossenen Augen im vollen Lauf wird durch eine Detailaufnahme gesteigert: ihr Flehen gewinnt an Intensität und Kraft, der sogar ein heranrollender Truck nicht gefährlich werden kann. Während sonst im Film jede potentielle Kollision auch passiert, kommt der Laster zum Halt und wird zum Finger Gottes: Lola öffnet ihre noch zum Gebet geschlossenen Augen und erblickt das Casino, in dem sie ihr Spiel wagt.
  • Mit mystischer Kraft pubertärer Allmachtsphantasien bringt Lola die Kugel auf der 20 zum Halten. Glaube, der Berge versetzt ist der Glaube der Kinder.(25)
  • Freilich wird allzu viel Religion sofort gebrochen, etwa im dritten potentiellen Lebenslauf der Frau mit Kinderwagen: eine skurrile religiöse Karriere vom Beten im Schlafzimmer, zum Beten auf Knien in der Kirche, Teilnahme am protestantischen Abendmahl, am Bibelkreis, und schließlich Wachturm-Halten für die Zeugen Jehovas.
  • Ernsthaft wird die Kraft des Glaubens aber in der guten Tat. Schuster, der Wachmann vor der Bank, liegt nach dem Herzinfarkt im Rettungswagen - Lola ergreift seine Hand - und bringt ihn wieder zum Leben. 'Hilf mir!' hatte sie kurz vorher noch gebetet. Und jetzt hilft sie selbst. Eine Generation X-Variante des Barmherzigen Samariters im Auto der Johanniter-Unfallhilfe.

Was passiert mit der Beziehung zu Manni in dieser dritten Variante? Seinen Begrüßungskuss erwidert sie nicht; ihre Lippen bleiben unbewegt. Seine begehrliche Frage nach dem Inhalt ihrer Tasche beantwortet sie mit Schweigen. Lola ist auf sich selbst gestellt. Sie hat ihr eigenes Wertesystem gefunden, unabhängig von Manni und ihren Eltern. Aus dem Spiel geht ein freies autonom gewordenes Subjekt hervor. Über die Fortsetzung der Beziehung kann nur spekuliert werden; nachdem Manni Lola an der Hand nimmt, kann auch ein Rückfall in patriarchale Beziehungsmuster nicht ausgeschlossen werden.

In diesem offenen Ende besteht der große Unterschied zum klassischen narrativen Schema des Hollywood-Films. Am Ende wird nicht die gestörte Ordnung der Welt wieder hergestellt. Der Film geht nie von einem vorgängigen Gleichgewicht im Sinne Todorovs aus, sondern entzaubert die vermeintlich stabile Welt. Jedes Mitglied der Generation X muss ein eigenes Gleichgewicht herstellen. Dass die Freiheit des autonomen Subjekts allerdings nicht der idealistische Variante entspricht, sondern durchaus eine Last und eine Akzeptanz der biographischen Brüche beinhaltet, davon erzählt 'Lola rennt' durchgängig. Religiosität, deren inhaltliche Präzisierung tunlichst vermieden wird, erhält dabei eine prominente Rolle, weniger als Mittel zur Kontingenzbewältigung (im Sinne Thomas Luckmanns), sondern eher im Sinne Henning Luthers als Steigerung von Kontingenz. Die Auflösung des Problems in 'Lola rennt' bricht mit der Regel: "Die letzte Szene des populären Films zeigt einen nach der Auflösung des Problems erreichten Ruhezustand, in dem das Ergebnis der Auflösung bekräftigt wird."(26) Lola endet offen, beunruhigend für Lola, Manni und die Eltern. Befreiend aber auch für das Publikum, dessen Spielfigur Lola ist. Denn die letzte Szene des Films vor dem Abspann zeigt Lola und Manni gemeinsam aus dem Bild gehend (in Rückenansicht). Sie nehmen den Weg in ihren unbestimmten Alltag, genau so wie es die Besucher des Kinos in nur wenigen Augenblicken tun werden. Das Spiel ist vorbei, wie es weitergeht und was von der Simulation bleibt, ist eine Frage an die Rezipienten.

'Lola rennt' - ein religiöser Film?

"Populäre Kinofilme geben... Antwortmuster vor, die für manche Rezipienten lebensweltlich tragend werden. Diese Muster können dann im Blick auf traditionelle (institutionell-) religiöse Antworten erörtert und kritisch befragt werden."(27) Andreas Mertin geht von einem schwachen Begegnungsmodell von Theologie und Kunst aus, das nach dem kulturhermeneutischen Ertrag der Theologie im Blick auf die Kultur fragt. Mertin lehnt das übliche Schema, der säkularen Kunst religiösen Gehalt nachzuweisen, ab. Es hat seinen Ausdruck erneut gefunden im Kulturpapier der EKD, wo es heißt: "Durch ihre Freizeitkultur werden Jugendliche im Alltag allerdings stärker mit Religion, Kirche und Glaube konfrontiert, als ihnen selbst bewusst ist. Oft genug sehen sie in Kinofilmen oder Fernsehserien kirchliche Trauungen, bei Beerdigungen ist meist noch der Pfarrer dabei."(28) Vielleicht sollte man diese Apologie umformulieren: Durch die Freizeitkultur Jugendlicher werden Kirche und Theologie stärker mit Religion und Glauben konfrontiert, als ihnen selbst bewusst ist. Dies verlangt, sich auf Blockbuster-Kino einzulassen, "hinter die Konstruktion von Bewusstsein und Sprache zurück zu gehen und so zu einer ästhetisch-'archaischen' Realitätsebene zu gelangen", wie Martin Laube im Anschluss an Siegfried Kracauer formuliert hat.(29)

Eine solche Betrachtung vermeintlich anspruchsloser Unterhaltungsfilme würde dem entgegen kommen, was Rainer Volp in der TRE formuliert hat: "Europas und Nordamerikas Religionsgeschichte des 20. Jh. dokumentiert sich weniger in den Spuren der Kirche als in der professionellen Kunst, d.h. in Literatur, Film, Theater, Konzert und vor allem in der bildenden Kunst."(30)

Das macht 'Lola rennt' nicht zu einem religiösen Film. Es ist auch kein Film, der einen Begriff des "Religioiden" erfüllen würde. Dieser trifft wohl mehr auf die Bestätigung des Gleichgewichts der civil society und ihrer civil religion in US-Produktionen zu. Eine Interpretation, die nach der Religion in 'Lola rennt' fragt, ist aber dennoch legitim. Sie ist im Film selbst eindeutig schon angelegt im Sinne der Methodik, die Volp vorschlägt. In der Zeichensyntax verwendet Tykwer eindeutig religiöse Motive, und zwar sowohl binnenstrukturell als auch im werkübergreifenden Horizont. Der Film interpretiert Werte- und Glaubensbezüge des kulturellen Kontextes (z.B. der 'Generation X'). Schließlich enthält der Film Verweise auf "Erfahrung schlechthinniger Realität" nicht zuletzt durch den Einbruch des Mirakulösen in die Wirklichkeit. Die Möglichkeit religiöser Interpretation eröffnet sich freilich erst durch die Rezeption, also in den Augen des religiös interpretierenden Betrachters. Die religiösen Valenzen(31) sind ein Teil des Kommunikationsprozesses, der im Kino wie in keinem anderen Medium vielschichtig und auf Teilnahme von millionenfachen Teilnehmern angelegt ist.

Anmerkungen
  1. Der Text wurde verfasst für eine Seminarreihe an der Evang.-Theol. Fakultät der LMU München (veranstaltet von Prof. Dr. H. Timm und Prof. Dr. W. Steck). Sämtliche Vorträge der Seminarreihe werden in einem Buch zusammengefasst erscheinen (2000/2001), herausgegeben von Martin Laube.
  2. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1963, 34.
  3. Josef Lederle zu 'Das Leben ist eine Baustelle', in: film-dienst 6/97.
  4. Narration in the Fiction Film, London/Wisconsin, 1985, zitiert nach Jens Eder, Dramaturgie des populären Films. Drehbuchpraxis und Filmtheorie, Hamburg 1999 (Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte 7), 27.
  5. Eder verweist zusätzlich noch auf Alan Resnais 'Smoking / No Smoking', Frankreich 1992. Vgl. Eder, a.a.O., 43.
  6. Vgl. Eder, a.a.O., 132.
  7. Zur Farbtönung von Filmsequenzen vgl. Monaco, James, Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der neuen Medien, Reinbek 2000 (Neuausgabe), 113ff.
  8. Tom Tykwer, Lola rennt, hg. von Michael Töteberg, Reinbek 1998, 131.
  9. Tykwer, a.a.O., 130. Als inhaltliches, im übrigen narrativ nicht verankertes Zeichen dafür fügt Tykwer die Domino-Stein-Sequenz ein.
  10. Tykwer, a.a.O., 133.
  11. Reinhold Zwick, Pfade zum Absoluten? Zur Typologie des religiösen Films, in: Walter Lesch (Hrsg.), Theologie und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Begegnung von Religion und Kunst, Darmstadt 1994, 88-110.
  12. Vgl. dazu auch Monaco, a.a.O., 162ff.
  13. Tom Beaudoin, Virtual Faith. The Irreverent Spiritual Quest of Generation X, San Francisco 1998, 47.
  14. Beaudoin, a.a.O., 13.
  15. Steck, Wolfgang, Praktische Theologie. Bd I: Horizonte der Religion - Konturen des neuzeitlichen Christentums - Strukturen der religiösen Lebenswelt, Stuttgart/Berlin/Köln 2000, 268.
  16. Kritiker, die diese Sprache nicht sprechen, müssen dies missverstehen, wie etwa Hans Schifferle in epd Film: "Lola rennt ist einfach zu konstruiert. Was beim ersten Blick noch als guter Einfall gelten mag, etwa die Fußballverweise, wird bei näherer Betrachtung zur Koketterie. Weil Fußball jetzt angesagt ist als Teil der Pop-Kultur, kann man schon mal Sepp Herberger neben T.S. Eliot zitieren. Für einen Lacher ist das allemal gut." in: epd Film 8/1998, 35f.
  17. Vgl. Georg Seeßlen, Clint Eastwood trifft Federico Fellini: Essays zum Kino, Berlin 1996; Susan Hayward, Key Concepts in Cinema Studies, London/New York 1996. Vgl. auch Eder, a.a.O., 28. Ähnlich auch der metaphorische Prozess Paul Ricoeurs: Orientierung - Desorientierung - Neuorientierung, vgl. Zwick, a.a.O., 101.
  18. Hans-Jürgen Fraas, Schüler und Schülerin: Religiöse Sozialisation - Religiöse Entwicklung - Religiöse Erziehung, in: Adam/Lachmann (Hrsg.), Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 51997, 138-162, hier: 151.
  19. Eckart Gottwald, Zwischen Mythos und Spiel. Theologische Zugänge zum Unterhaltungsfilm, in: Ammon/Gottwald (Hrsg.), Kino und Kirche im Dialog, Göttingen 1996, 34-53, hier: 43. Vgl. auch die Ausführungen Gottwalds: Vom Umgang mit dem Numinosen in Unterhaltung und Spiel. Walt Disneys ‚Der König der Löwen' in theologischer und didaktischer Sicht, in: Pastoraltheol. 87 (1998), 442-454, hier: 448: "Im Augenblick des Kinobesuchs befinden sich die Zuschauerinnen und Zuschauer zudem subjektiv ‚jenseits' und außerhalb ihrer alltäglich erlebten und wahrgenommenen Realität, bleiben dieser aber dennoch objektiv verhaftet. Ihre spielerische Begegnung und Auseinandersetzung mit den symbolischen Präsentationen des Heiligen im Modus medialer Unterhaltung wird selbst zum säkularisierten Ritual des zeitlich begrenzten Ausstiegs aus der Realität ihrer Lebenswelt und des Wiedereinstiegs in sie."
  20. Failing, Wolf-Eckart und Heimbrock, Hans-Günter, Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis, Stuttgart/Berlin/Köln 1998, 250. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen von Jörg Hermann und Andreas Mertin, Virtuelle Religion. Die Herausforderung der neuen Medien für Theologie und Kirche, in: Magazin für Theologie und Ästhetik, Heft 7 (Juli 2000) (erstmals veröffentlicht in: Barbara Heller (Hrsg.), Kulturtheologie heute? Hofgeismar 1997, 117-124.
  21. A.a.O., 35.
  22. Völlig fehl geht m.E. die Einschätzung und Bewertung des Films durch Dirk Blothner, Erlebniswelt Kino. Über die unbewusste Wirkung des Films, Bergisch-Gladbach 1999, 267. Er meint, 'Lola rennt' behandle "auf einer tieferen Ebene" das gleiche Thema wie 'Titanic', nämlich die "Stabilisierung einer komplizierten und brüchigen Wirklichkeit durch Liebe". Zunächst bemerkt Blothner zu Recht, dass es in 'Lola rennt' um Verbindlichkeit geht, missversteht allerdings das Ende des Films völlig, indem er lediglich eine Gratifikation des Zuschauers durch ein Happy End vermisst.
  23. Vgl. Beaudoin, a.a.O., 140f: "Our most fundamental question is 'Will you be there for me?' We ask this of our selves, bodies, parents, friends, partners, society, religions, leaders, nation, and even God. The frailty that we perceive threatening all of these relationships continually provokes us to ask this question." Die Frage der Baby-Boomers war die nach dem Sinn des Lebens. "Xers start their fundamental questioning not with a grand quest for the meaning of their life but by querying those around them (including their 'selves') in regard to their fidelity."
  24. Vgl. zum Wunderbaren im Film Zwick, a.a.O. 92ff. 'Lola rennt' bedient beide Kategorien, das illusionistische Wunderbare wie das nicht-illusionistische (naive) Wunderbare.
  25. Ein typisches illusionistisches Wunderelement, wie die Raum-Zeit-Dehnung in Bild und Ton zeigt
  26. Eder, a.a.O., 71.
  27. Andreas Mertin, Annäherungen. Zum theologischen Umgang mit Kinowelten, in: Magazin für Theologie und Ästhetik 3 (Online-Magazin, Homepage www.theomag.de/3/am11.htm).
  28. Zitiert nach Mertin, a.a.O.
  29. Im Eröffnungsreferat zum Seminar: "Himmel über Hollywood", Manuskript, 8.
  30. Rainer Volp, "Kunst und Religion VIII. Das 20. Jahrhundert", in: TRE Bd. 20, 306.
  31. Den Begriff verwenden Failing / Heimbrock a.a.O., 249.

© Traugott Roser 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 8/2000
https://www.theomag.de/08/tr1.htm