Der Papierfalter oder: Origami in Unna

Vorsichtige Mutmaßungen über den Künstler Erwin Hapke (1937-2016)

Wolfgang Vögele

1.

Der Erbe steht vor einem Haus und sieht den Briefkasten neben der Haustür. Er ist zugeklebt. Der Name des Bewohners steht auf einem Klingelschild. Der Schlüssel dreht sich um, die Haustür öffnet sich. Das ist der entscheidende, riskante Moment, der Erbe überschreitet die berühmte Schwelle und betritt eine neue, ganz unbekannte Welt. Der, der eintritt, weiß, dass das Haus verlassen ist. Sein Bewohner ist gestorben. Der Erbe, der eintritt, ist darauf vorbereitet, zu sichten, zu sortieren, zu entrümpeln, einiges zu behalten und den großen Rest zum Sperrmüll zu geben. Aber statt Ramsch entdeckt er Kunst. Dieser Nachlass wird für den, der eintritt, zur Sensation und dann zu einer Aufgabe. Und die Sensation wird zu einer Nachricht, über die Zeitschriften und Fernsehen ausführlich berichten werden.

In den Räumen des alten Schulhauses, das in einem Dorf in der Nähe von Unna steht, finden sich Tausende von akkurat gefalteten Papierfiguren, kleine wie große, realistische und abstrakte Formen. Es wimmelt von Insekten, Tieren, Menschen, Figuren. Viele hängen an der Wand, stehen auf Tischen oder sind auf dem Boden verteilt. Oben auf dem Dachboden finden sich größere Figuren aus Metall. Aber auch sie sind nach dem Muster des Papierfaltens gestaltet. Alles scheint einer bestimmten Ordnung zu folgen.

Der Westdeutsche Rundfunk hat zu diesem merkwürdigen Künstler eine wunderbare Website[1] eingerichtet, mit Bildern, Videos, Texten und Audiodateien, die jeden Klick und Blick lohnen. Damit sind die Faltfiguren öffentlich geworden, auch wenn noch nicht klar ist, was aus dem Haus und der darin enthaltenen Sammlung wird. Es gibt Pläne, ein Museum einzurichten und die Figuren der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jeder soll sehen können, was im alten Schulhaus über Jahrzehnte im Verborgenen entstanden ist.


Dieses 360°-Video des WDR kann mit der Maus im Bild bewegt werden.

Der Schöpfer der gefalteten Figuren war der Biologe Erwin Hapke (1937-2016), der sich nach beruflichen Schwierigkeiten in den achtziger Jahren in das Haus seiner Eltern zurückzog und dort über Jahrzehnte ohne viel Geld und unter Vermeidung von Kontakt mit der Außenwelt lebte. Niemand wusste richtig, womit er sich beschäftigte, bis sein Neffe und Erbe nach seinem Tod im Jahr 2016 die Tür zu seinem Haus öffnete. 

Nun ist das Projekt öffentlich – via Internet –, aber als Museum noch nicht zugänglich. Es ist ein Komitee gebildet worden: Kulturverantwortliche und Erben überlegen gemeinsam, wie man das Haus in ein der Öffentlichkeit zugängliches Museum verwandeln könnte. Das würde in jedem Fall der breiten Aufmerksamkeit und der Faszination gerecht werden, die das Projekt in der Öffentlichkeit gefunden hat. Diese Faszination, die auch mich ergriffen hat, weckt Fragen und Gedanken, die diesem Projekt gelten.

2.

Hapke arbeitete jahrzehntelang in der Einsamkeit seines Hauses. Er pflegte kaum Kontakt zu Nachbarn und Verwandten. Er sprach mit niemandem über das, was ihn beschäftigte. Er nahm weder zu einer Galerie noch zu einem Museum Kontakt auf. Offensichtlich sollte die Öffentlichkeit vor seinem Tod von dem Kontakt mit den Werken ausgeschlossen bleiben. Hapke reduzierte sein Leben auf das Falten von Papier, auf den kreativen Akt des Schaffens von Figuren. Er wollte offensichtlich nicht, dass seine Kunst auch wahrgenommen würde, jedenfalls nicht, solange er lebte. Die gefalteten Papierfiguren bekommen so etwas Nachdenkliches, Meditatives. Es macht den Eindruck, als habe der Künstler sich nicht ablenken lassen wollen. Darin liegt ein erstes Faszinosum: Er hat sein Leben auf das Papierfalten konzentriert. Alles andere fiel weg. Es war offensichtlich genauso wie es das Klischee sagt: Er lebte nur für sein Werk.

Wenn das so war, fragt man sich: Hat er jeden Tag von neuem sein Pensum absolviert? Wurde es ihm nie langweilig? Wie kam er zu dieser Ausdauer, Konsequenz? Wie konnte er diese Arbeit jahrelang durchhalten, bis an die Grenze der Unduldsamkeit? Erlebte er so etwas wie „Anfechtungen“, ähnlich einem Einsiedlermönch der Alten Kirche, der sich auf Gebet und Gottesdienst konzentrieren wollte?

Hapke fasziniert, weil es ihm offenbar gelungen war, alle Ablenkungen gegenwärtigen Lebens auszuschalten: den Espresso im Straßencafé, den Post auf Facebook oder Instagram, der Blick in die eigenen Emails, das Selfie vor der Sehenswürdigkeit, den Gang in die Buchhandlung oder zum Kiosk, das Bier vor dem Schlafengehen, der Fernseher zur Entspannung, die Nachrichten, der Chat mit Freunden und die Verabredung für den Abend, das alles war für ihn nicht wichtig. Genauer gesagt: Es war für ihn nicht so wichtig wie das Papierfalten, für das er alles andere kompromisslos zurückstellte.

Er war – ungleich uns angestellten Alltagsmenschen – ein Künstler der Konzentration. Faszinierend erscheinen nicht nur seine in Serie produzierten Werke, sondern die Haltung, aus der heraus er sie schuf, auch wenn diese Haltung bisher nur in schattenhaften Konturen sichtbar wird. Dieser Habitus ist deshalb faszinierend, weil er einen Gegenpol zu der Zerstreuung und Unübersichtlichkeit darstellt, die den Alltag vieler Menschen prägt, die sich in den kleinen und doch so großen virtuellen Welten ihrer Smartphones und Laptops verlieren.

Hapke hat es geschafft, sich der virtuellen Welt, aber auch der Familie, den Nachbarn, dem Sozialen insgesamt zu entziehen. Er hat für den Gewinn der Konzentration und der Kunst einen hohen Preis bezahlt. Im Grunde hat er, um es pointiert zu formulieren, sein Werk für seine Biographie eingetauscht. Er konnte unter Einsatz seines ganzen Lebens (das Pathos ist hier berechtigt) eine Idee realisieren, die ihn offensichtlich gepackt hatte.

Auch diejenigen, die nun sein Werk fasziniert, haben zündende Ideen. Aber sie gehen Kompromisse des Alltags ein.

3.

Der Menge von Tausenden von Papierfiguren in den Räumen des Hauses eignet etwas Ungeheuerliches, Überwältigendes. Der Betrachter der Bilder auf der Website sucht nach Deutungen, die doch nur Spekulation sein können. Mindestens zwei Hinweise legen sich deshalb nahe, weil Hapke sie selbst gegeben hat. Die erste  stammt aus der Widmung der Broschüre, die Anleitungen zum Falten enthält[2]. Hapke hat diese Broschüre seinen Eltern dediziert: „Dieses Buch sei meinen Eltern gewidmet, ohne deren Unterstützung vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen wäre, ihr Vertrauen in meine Tätigkeit ehrt mich und ist mir Ansporn gewesen, alles besonders gut zu machen. Dieses Buch ist auch ihr Buch. Mögen ihre hier miteingewebten Hoffnungen und Segenswünsche in Erfüllung gehen!“ Hapke war nach dem Verlust seiner Arbeitsstelle erst wieder in das Schulhaus bei Unna gezogen, nachdem seine Eltern gestorben waren. Er bedankt sich für Unterstützung und Hilfe und erklärt seine, des Sohnes, Kunst auch zum Anliegen der Eltern.

Viele Dissertationen widmen die Promovenden ihren Eltern und bedanken sich für Erziehung, Bildung und Erfahrungen, die sie aus dem Elternhaus mitgenommen haben. Der Dank in der Dissertation ist dann so etwas wie der letzte Abschluss von Kindheit und Erziehung und Bildung, vor dem endgültigen Eintritt ins Berufsleben und der Existenz als eigenständiger Erwachsener. Aus Hapkes Widmung klingt etwas ganz Anderes: Hier spricht offensichtlich jemand, der Sohn geblieben ist und sein Elternhaus nicht verlassen will. Der Sohn versteht seine Arbeit als Fortsetzung von Wünschen und Hoffnungen der Eltern. Er hat sich in die Burg seines Elternhauses zurückgezogen und dort verschanzt.

4.

Die zweite Deutung ergibt sich aus einem Zettel, der an einer Wand zu sehen ist. Auf dem Zettel ist ein Zitat von Kurt Schwitters geschrieben: „Wir spielen, bis daß der Tod uns abholt.“ Spielen wird gemeinhin mit Kindheit assoziiert. Vielleicht verstand Hapke das Papierfalten als Spiel, als den Versuch, sich eine eigene Welt zu erschließen, in der er sich sicher fühlen konnte vor den Zumutungen der Wirklichkeit und des Alltags. Seit Friedrich Schiller, Jan Huizinga und anderen ist das Spiel aber auch als philosophischer, alltagsethischer Habitus verstanden worden, in dessen Medium sich Menschen, besonders Kinder, aber nicht nur sie, den Zwängen der Wirklichkeit entziehen und ihre eigene Wirklichkeiten schaffen. Im Zusammenhang mit der Elternwidmung könnte Hapke meinen: Ich bin immer ein spielendes Kind geblieben. Und ich werde das Spielen bis zu meinem Tod nicht aufgeben. Versteht man das Papierfalten als Spiel, so liegt der Akzent auf dem Akt des Produzierens. Versteht man es als Kunst, so kommt zum spielerischen Akt des Erfindens und Faltens das Zeigen hinzu: Andere sollen sehen, was ich erfunden und gestaltet haben. Auch für den letzteren Punkt finden sich in Hapkes Wohnung offensichtlich Hinweise. Er wollte, dass seine Erben nach seinem Tod aus dem Wohnhaus ein Museum machen.

5.

Wie Schwitters es schon beschworen hatte: Der Tod setzte dem Faltspiel Hapkes ein Ende. Und damit verändert sich auch die Beziehung zwischen Künstler/Spieler und Werken. Die Werke werden sozusagen allein gelassen und geraten in Gefahr. Denn es stellt sich die Frage, was der Erbe mit den Figuren macht, von denen er vorher noch nichts wusste. Er könnte alles als Ramsch bewerten und die Figuren zum Altpapier-Container bringen. Oder er könnte in den spielerischen Werken Kunst sehen. An diesem Punkt geht die Gleichung, die sich der Künstler ausdachte, nicht mehr ohne Unbekannte auf. Er muss sich auf einen anderen verlassen, weil er nach seinem eigenen Tod nicht mehr eingreifen kann in die spielerische Welt, die er sich selbst geschaffen hat. Die Arbeit der Testamentsvoll­strec­kung lastet auf dem Erben, der damit zu einem virtuellen Sohn wird, obwohl er in Wirklichkeit ein Neffe ist. 

6.

Man kann die Frage stellen: Ist das nun Outsider-Kunst, geschaffen von jemandem, der niemals den akademischen Kunstbetrieb durchlaufen hatte und nichts zu hatte mit allen Formen der Präsentation und Vermarktung von Kunst von Museen bis Galerien? Die Antwort würde ‚ja‘ lauten, wenn man sagt, dass diese Kunst ohne Wissen und Kenntnis des Kunst- und Galerienbetriebs entstand, ja sogar ohne Wissen und Kenntnis von Hapkes unmittelbarer Umwelt. Aber Kunst definiert sich nicht durch das Preisschild, das eine Galerie neben ein Bild klebt. Insofern ist es gleichgültig, ob diese Kunst von einem Künstler stammt, der sich als Outsider vor allem Sozialen verschloss, nicht einmal Kontakt zu Verwandten und Nachbarn pflegte.

Hapkes Kunst fordert den Vergleich heraus mit anderen Künstlern, die mich schon beschäftigt haben. Der Schneidergeselle Hermann Paterna[3] (1870-1913) lebte in verschiedenen psychiatrischen Anstalten; er gestaltete seine Zelle mit Zeitungsausschnitten, die er mit Spucke an die Wand klebte. Und er führte ein Notiz- und Tagebuch, dessen Aufzeichnungen und Zeichnungen ihm halfen, sich in seiner eigenen Alltagswelt zu orientieren. Der Schriftsteller Christian Wagner[4] (1835-1918) aus Warmbronn schrieb sich mit Naturgedichten und Erzählungen aus der dörflichen Umwelt heraus. Als Tierfreund und Verteidiger der „möglichsten Schonung alles Lebendigen“ verfolgte er ein naturphilosophisches Programm, das aus der dörflichen Umwelt kam, aber um die Wende zum 20. Jahrhundert auch für Stadtmenschen und Intellektuelle interessant war.

Wenn man verschiedene Fälle vergleicht, so zeigt sich: Der Begriff des Outsiders ist ein Verhältnisbegriff. Der Outsider definiert sich im Verhältnis zu seiner jeweiligen Umwelt, der je nach Milieu und Habitus sehr verschieden ausfallen kann.

Für mein Verständnis definiert sich Kunst durch die Fragen, die sie im Betrachter auslöst. Und dabei gilt: Je mehr und je ungewöhnlichere Fragen Kunstwerke auslösen, desto besser. Der Begriff des Outsiders ist eine soziale, keine ästhetische Kategorie.

Es scheint so, als ob Kunst für ihn ein Spiel war. Spiele sind nicht davon abhängig, dass andere sie beobachten. Das ändert sich in diesem Fall erst durch den Tod des Künstlers, der die Werke der „Obhut“ ihres Produzenten entreißt.

7.

Man kann sich nur wünschen, dass das Museum mit den Werken Hapkes eingerichtet wird. Es wäre eine Aufgabe für Kuratoren, Museumspädagogen und Ausstellungsmacher, dabei die Werke nicht einfach nur zu „zeigen“, sondern die Tatsache zu berücksichtigen, dass der Künstler zu Lebzeiten offensichtlich gar nicht wollte, dass die Werke betrachtet werden. Ich werde die Vermutung nicht los, dass der Künstler mit den zukünftigen Betrachtern seiner Werke ein Spiel spielen wollte. Die Bauklötzchen sind die Werke, der Künstler selbst, das Schulhaus in Unna, die Betrachter, sowohl die ratlosen als auch die faszinierten, die Verwalter des Nachlasses. Und dieses Spiel könnte noch interessanter sein als die Werke selbst.

Ich würde mir ein solches Museum in jedem Fall anschauen. Nach meinem Besuch würde ich diesen Essay ein zweites Mal schreiben.

Anmerkungen

[3]    Dazu Burckhard Dücker, Thomas Röske, Wolfgang Vögele (Hg.), Zwischen Schloß und Irrenhaus. Die Aufzeichnungen Hermann Paternas entschlüsselt und kontextualisiert von einer studentischen Arbeitsgruppe, Heidelberg 2016.

[4]    Dazu den Beitrag von Burckhard Dücker in diesem Heft sowie Wolfgang Vögele, Verdichteter Glaube. Religion und Literatur bei Goethe, Hebel und Wagner, tà katoptrizómena Heft 93, 2015, https://theomag.de/93/wv15.htm.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/106/wv32.htm
© Wolfgang Vögele, 2017