Wolfgang Vögele: Bewegter und unbewegter Christus

1. Unvergleichbares

Kann man einen Jesusfilm und eine Serie von Passionsbildern miteinander vergleichen, wenn der Film aus dem 21. und die Bilderserie aus dem 15. Jahrhundert stammt? Macht der Sprung vom Genre der Malerei zu den bewegten Bildern des Films Sinn? Eigentlich ist das sinnlos. Wer Äpfel mit Birnen vergleicht, kann nur Banales herausfinden: Beide Obstsorten unterscheiden sich in den meisten Vergleichspunkten.[1] Zumindest sind in diesem Fall Film und Bilderserie gemeinsam auf die Erzählungen der vier Evangelien bezogen, mit einem Schwerpunkt auf der Passionsgeschichte.

Insofern gibt es Gemeinsames zu vergleichen: das vermittelte Jesusbild, die Darstellung von galiläischer Landschaft, den Garten Gethsemane, den Hügel Golgatha und das Jerusalemer Stadtpanorama, die Darstellung von Jüngern wie Petrus und Johannes, die Darstellung von Frauen wie Maria Magdalena, die Darstellung von Nebenfiguren wie den Schächern, die mit Jesus gekreuzigt werden, dem römischen Hauptmann oder dem Malchus, dem Petrus bei der Verhaftung Jesu das Ohr abschlägt. Bilder und Filme: Die darin erzählten Geschichten leben von den Akzenten, von Hervorhebungen und Weglassungen, die Maler oder Regisseur setzen. Der Maler des 15. Jahrhunderts war ebenso ein Theologe, Interpret, kreativer Gestalter wie der Regisseur des 21. Jahrhunderts. All das zusammen übergreift den Unterschied zwischen Bild und Film. Und darum lohnt sich der Vergleich.

Bei der Bilderfolge wie beim Film handelt es sich um Nacherzählungen und theologische Deutungen der Passionsgeschichte aus den Evangelien. In beiden Fällen wird die Passionsgeschichte aus ihrer historischen Vergangenheit heraus- und in die aktuelle Gegenwart hineingeholt.

Film und Malerei sind beide Medien zur Erzählung. Sie unterscheiden sich in ihrem Umgang mit dem Phänomen der Zeit. Der Maler steht vor der Aufgabe, erzählte Zeit in den stillstehenden Moment des dargestellten Sujets zu konzentrieren. Wenn er trotzdem von bewegter Zeit, von Abläufen erzählt, dann geschieht das mit Hilfe von Verweisen in die Vergangenheit und die Zukunft. Daneben hat der Maler eine Reihe von Möglichkeiten, auf parallele Ereignisse der Bild-Gegenwart zu verweisen. Der Film demgegenüber präsentiert erzählte Zeit in einer Abfolge von Szenen, die zusammen genommen einen eigenen Zeitzusammenhang ergeben. Vergangenheit und Zukunft kann durch Rück- und Vorblenden eingespielt werden, das ist aber nicht zwingend. Und die Gleichzeitigkeit von Ereignissen kann der Regisseur durch Schnittfolgen hervorheben. Film und Malerei unterscheiden sich darin, dass ihnen unterschiedliche grammatische und rhetorische Stilmittel zur Verfügung stehen, die Maler und Regisseur für Erzählung und Deutung verwenden kann. Dabei kommen möglicherweise auch je unterschiedliche Mittel zum Einsatz, um die Theologie einzubeziehen.[2]

Was die Rezeption anbelangt, verweisen Film und Malerei auf andere, nicht-spirituelle Orte des Glaubens, nämlich auf Kino und Museum[3]. Im Gegensatz zur Kirche sind beide nicht vorrangig theologische Orte, vielmehr atmen beide eine gewisse Distanz zum Kirchlichen, aber auch zum Theologischen. Der Zuschauer von Filmen und der Betrachter von Bildern denken, auch bei Jesusfilmen und Christusdarstellungen, nicht zuerst an missionarische Gelegenheiten.

Im Kino und im Museum wird das Evangelium als fremder Inhalt rezipiert und akzeptiert und dadurch noch einmal verwandelt, mindestens neu perspektiviert. Genau dieses theologische Thema interessiert mich noch mehr als die form- und kulturgeschichtlichen Aspekte von Jesusbildern und -filmen, und ich will es am Beispiel von Garth Davis‘ Film „Maria Magdalena“[4] (2018) und den Bildtafeln der Karlsruher Passion[5] eines unbekannten, vielleicht Straßburger Meisters vom Ende des 15. Jahrhunderts verfolgen. Die Notizen zu diesen beiden Werken sind eingebettet in theologische Bemerkungen über Christologie, Christusdarstellungen in der Malerei und Jesusfilme.

2. Richter, Leidender, Mensch, Gott

Christologie ließ sich noch nie rein dogmatisch, also ausschließlich in ihren abstrakten, systematisch-theologischen Zusammenhängen deuten. Stets bestimmten historische und kulturelle Kontexte die entfalteten Christusbilder, von den christologischen Streitigkeiten der Alten Kirche über die Gleichzeitigkeit der göttlichen und menschlichen Natur Jesu bis zu den aktuellen Kontroversen um die Historizität Jesu. Die Geschichte der Christologie soll hier nicht nachgezeichnet, sondern nur akzentuiert werden, um den theologischen Boden für den Vergleich von gemalten und gefilmten Christusdarstellungen zu bereiten.

Das Mittelalter war, wie der Historiker Jacques Le Goff[6] herausgearbeitet hat, geprägt durch mehrere radikale Neuentwicklungen und -orientierungen im christologischen Denken. Diese Vorgänge setzten ein im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter. Die europäischen Völker übernahmen den monotheistischen Gott der Bibel und setzten ihn an die Stelle einer polytheistischen Götterwelt. Dieser Übergang vollzog sich nicht reibungslos: Unter der monotheistischen Fassade entwickelten sich in Gestalt der Trinitätslehren neue theologische Entwürfe, die der Vielgestalt und Personalität Gottes in sich selbst verpflichtet waren. Dies geschah in der Absicht, die Dynamik des christlichen Gottesbegriffs auf den Begriff zu bringen. Die christliche Kirche nahm solche Strömungen auf, indem sie auf dem Boden der Trinitätslehre bald die eine, bald die andere Person der Trinität betonte. Der Gott, der Geist ist, unterscheidet sich vom Gott, der Mensch geworden ist. Mit der Marienverehrung wurde im Mittelalter zusätzlich ein weibliches Element in die Theologie aufgenommen.

In der Kunst des Mittelalters erschien ab einem bestimmten Zeitpunkt Christus nicht mehr als der göttliche, auferstandene Richter, der auf den Portalen der gotischen Kathedralen so dargestellt war, dass er die Seelen der Toten abwog und die Bösen in die Hölle und die moralisch Guten in den Himmel weiterleitete. Plötzlich sah man in Christus nicht mehr den Richter, sondern den exemplarischen Leidenden, der sich mit den leidenden, kranken und früh sterbenden Menschen solidarisch zeigte. Die Meisterwerke Matthias Grünewalds, der Isenheimer und der Tauberbischofsheimer Altar[7] geben ein Zeugnis von diesem Paradigmenwechsel in der Christologie.

Mit dem Aufkommen von Neologie, Aufklärung und Humanismus wechselte das Interesse an der Figur des Jesus von Nazareth von der Trinitätstheologie, vom Gott- und Menschsein Jesu zur Frage nach dem historischen Jesus, nämlich dem historisch verlässlichen Restbestand, der aus der Masse der theologisch überformten und damit historisch korrumpierten Evangelienbestände herauszupräparieren war. Die ipsissima vox Jesu war zu unterscheiden von den Firnisschichten christologischer Überformung. Frage und Unterscheidung führten in langwierige Auseinandersetzungen, die in dem Ergebnis mündete, dass eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Historischem und (bloß) Geglaubtem in den neutestamentlichen Texten gar nicht durchzuführen war. Das Rasiermesser der Entmythologisierungskritik erwies sich als stumpf.

Im 20. Jahrhundert kam zur Christologie, die kirchlich und theologisch noch an der Unterscheidung von dem einen wahren Glauben und den vielen falschen Religionen orientiert war, eine größere Toleranz für unterschiedliche Jesus- und Christusbilder hinzu, auch geprägt durch Entwürfe postmoderner und pluralistischer Philosophie, die statt auf die eine Wahrheit auf das Medium des Dialogs setzten. Kirchen und Theologien konnten und können mit unterschiedlichen Jesusbildern leben. Jesus war zugleich der Mann, der Befreiungstheologe, der Weisheitslehrer etc. Pluralistische Jesusbilder, die nebeneinander koexistierten, riefen jedoch fundamentalis­tische Gegenströmungen auf den Plan, die unter Nutzung eines vormodernen Wahrheitsmodells Wahrheit vor allem im eigenen christologischen Glauben sahen, während man die Vielzahl anderer Jesusbilder wahlweise als falsch, böse, korrupt, jedenfalls als unzulässig abtat.

Vor diesem christologisch-historischen Hintergrund ist zu bedenken, dass die christologischen Diskussionen keineswegs nur durch die Kirchen und die Theologie bestimmt wurden, sondern auch durch die Kunst, sehr früh schon durch Malerei und Plastik, ab dem 20. Jahrhundert auch im Film.

3. Karlsruher Passion

Die sogenannte Karlsruher Passion[8] ist ein unvollständiger Zyklus aus Tafeln zur Passionsgeschichte. Sechs erhaltene Tafeln hängen in der Karlsruher Kunsthalle, die siebte, die Darstellung von der Gefangennahme Jesu ist im Kölner Wallraff-Richartz-Museum zu sehen. Der Maler der Tafeln bleibt anonym: Er scheint Mitte des 15. Jahrhunderts in Straßburg gewirkt zu haben. Ebenso ist nicht bekannt, ob die Werke ursprünglich Teil eines Zyklus waren und, zum Beispiel als Bestandteile eines Altars, zu einem Ensemble gehörten. Es erscheint als kunsthistorisch gesichert, dass noch mehr Tafeln als die bis heute erhaltenen und bekannten existierten. Thema der Tafeln ist die Passionsgeschichte, die einsetzt mit dem nächtlichen Gebet im Garten Gethsemane und in der erhaltenen Form bis zur Kreuzigung bzw. Kreuzannagelung reicht. Es bleibt Spekulation, ob weitere Tafeln existierten, welche die Auferstehung, die Begegnung zwischen dem Auferstandenen und Maria Magdalena oder die Himmelfahrt repräsentierten.

Alle Tafeln zeigen Christus im Zentrum, mit Ausnahme der Gethsemane-Tafel stets inmitten einer großen Menge anderer Menschen, Soldaten, Jünger, Passanten und andere. Die Menge der Menschen um den zentralen Jesus herum bringt auf allen Tafeln eine große Dynamik zum Ausdruck. Die kunsthistorische Forschung hat herausgestellt: „Der Meister der Karlsruher Passion ist ein großartiger und eindringlicher Erzähler. So originell er aber auch erscheint, er schöpft aus zahlreichen Quellen unterschiedlichster Herkunft. Seine Besonderheit liegt nur zum Teil in seiner Erfindungsgabe. Wesentlicher ist seine Fähigkeit, althergebrachte Bildtraditionen zu variieren und neu zu formulieren. Dabei spielt die Weiterbildung, entscheidend jedoch die Verpflanzung und Neukombination eine ganz wesentliche Rolle.“[9] Der Meister der Karlsruher Passion griff offensichtlich auf mittelalterliche Passionstraktate zurück, denen er in seiner Malerei wie einem ‚Drehbuch‘[10] folgte.

Als Beispiel für eine der Tafeln aus dem Zyklus wähle ich die erste Tafel, das Gethsemane-Bild[11] aus. Dass alle Tafeln die Figur Jesu zeigen und sich auf die Passionsgeschichten des Neuen Testaments beziehen, ist eine Selbstverständlichkeit. Dieser gemeinsame Charakter wird nochmals unterstrichen, wenn die Tafeln wirklich als Sequenz in der Rastervorlage eines Altars hingen. Dafür spricht zum Beispiel die identische Größe der sieben bekannten Tafeln. Die Referenz auf die Passionsgeschichten der Evangelien stellt sich als der Versuch einer Harmonisierung und Collage der Evangelien dar. Denn anders als für heutige historisch-kritische Exegeten betrachteten Maler und Betrachter des Mittelalters die Passionsgeschichte nicht als vier verschiedene Versionen ein und derselben Geschichte, sondern sie konstruierten aus den Evangelien eine Evangelienharmonie. Das heißt, sie empfanden, dass die Differenzen in den Details sich nicht gegenseitig ausschlossen, sondern bereicherten. Also wurden sie nebeneinandergestellt. Und künstlerische, theologische und alltägliche Tradition besaß auch keine Scheu, die Geschichte um weitere Details, die sich logisch nahelegten oder die man als stimmig und passend empfand, zu bereichern.

Die Gethsemane-Tafel zeigt Christus als betenden Menschen, der das neutestamentliche Gebot des Betens ohne Unterlass (1Thess 5,17) erfüllt. Darin tut es Christus den Mönchen gleich, deren Tagesablauf durch sieben Gebetszeiten gegliedert war, während die Laien immerhin noch durch das dreimalige Angelusläuten, das seit dem 14. Jahrhundert verbreitet war, jeden Tag auf die Wirklichkeit der Nähe Gottes hingewiesen und zum Beten angehalten wurden.

Allein schon die Wahl des Sujets der Passionsgeschichte zeigt Christus nicht mehr, wie im frühen Mittelalter üblich, als vergöttlichten Richter im Himmel, sondern als leidenden Menschen, mit dem sich die betenden Betrachter identifizieren können. Der Christus der Tafel kniet vor einem Doppelfelsen, die man als eine Art Gebetsnische verstehen kann. Er hat die Arme zum Gebet erhoben, was für mittelalterliche Spiritualität ein Zeichen ekstatischen Gebets war. Über der Gebetsnische schwebt ein weißgekleideter Engel. Er trägt eine Albe, also ein Verweis auf Gottesdienst und Messe. Der Engel streckt Christus einen Kelch und ein Kreuz entgegen. Das Kreuz erinnert an seine bevorstehende Hinrichtung, der Kelch spielt an auf das Jesuswort: „Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“ (Mt 26,39). Im Alten Testament ist der Kelch ein Symbol für ein schweres Schicksal, das man erdulden muss. Noch Dietrich Bonhoeffer dichtet in der Gefängniszelle von 1944: „Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern / des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand (…).“[12] Da der Engel die für den Gottesdienst bestimmte Albe trägt, ist der Kelch aber zugleich als eine Anspielung auf das Abendmahl zu verstehen.

Die drei Jünger im Vordergrund schlafen. Sie zeigen ein Thema an, das sich auch durch die übrigen Tafeln zieht. Es besteht zwischen Jesus und seinen Jüngern ein grundlegender Unterschied darin, dass Jesus selbst das kommende Leiden durch Gebet und Meditation aushält und darum auch Hilfe von Gott bzw. dem Engel erhält. Die Jünger halten die Passionsgeschichte nicht durch: Sie schlafen ein, leugnen oder verraten Jesus sogar.

Ein weiterer Jünger hat sich im Hintergrund schon bereit gemacht, um nach seinem Verrat die Soldaten zu Jesus zu führen, damit sie ihn gefangen nehmen können. Judas ist eine kontroverse Figur. Mittelalterliche Theologie hat sich stets daran gestoßen, dass er nach dem neutestamentlichen Bericht am Abendmahl teilnahm, obwohl er ein Sünder und Verräter war. Auf der Tafel hält er das Kästchen mit den dreißig Silberlingen schon im Arm, hinter ihm ducken sich die Soldaten, die Jesus wenig später verhaften werden. Das zeigt die Vielschichtigkeit der Bildtafel. Während im Hauptteil und Vordergrund Jesus noch betet und die Jünger schlafen, zeigt sich im Hintergrund, sehr viel kleiner, die Fortsetzung der Geschichte und ein Verweis auf die nächste Tafel zur Gefangennahme Jesu.

Die Konzentration des Malers auf den betenden Jesus verknüpft die Passionsgeschichte mit der Alltagsfrömmigkeit der mittelalterlichen Betrachter. Jesus hält sich, trotz der bevorstehenden Hinrichtung an die vorgegebenen Liturgien, und die Betrachter werden an die täglichen Gebete (Angelus) erinnert, mit deren Hilfe sie den Tag strukturierten und die Passionsgeschichte in ihr Leben hineinzogen. Erzählte Geschichte und spirituelle Alltagspraxis waren amalgamiert zu einer Einheit, welche die Geschichte mit der damals aktuellen Kirchlichkeit und Frömmigkeitspraxis zutiefst verband. Das vergangene Geschehen der Passion wurde damit aktualisiert und hatte nicht nur spirituell und liturgisch eine Fülle von Konsequenzen für den Alltag. In liturgischer wie spiritueller Praxis vollzieht der Glaubende (und Betrachter des Bilderzyklus) die letzten Stationen des Lebens Jesu nach. Zugespitzt formuliert: Die Bildbetrachtung wird selbst zum Vollzug des Gottesdienstes. Auf der Gethsemane-Tafel sind es die Themen Beten und Gebet, welche diese Verbindung von Alltagsfrömmigkeit und Passionsgeschichte gewährleisten.

Zwar ist der Maler gezwungen, sich wegen der Vorgaben des Bildformates auf einzelne Stationen in der Passionsgeschichte zu konzentrieren. Dennoch enthalten alle Tafeln bestimmte Verweise, angefangen von der in Erinnerung gerufenen Nacht- oder Tageszeit bis zum Hinweis auf die kommende Fortsetzung der im Vordergrund dargestellten Geschichte. Gerade deshalb präsentiert der Zyklus der Tafel nicht eine Abfolge von sieben Szenen als Momentaufnahmen, sondern einen kontinuierlichen Erzählzusammenhang, der dem glaubenden Betrachter Vorgeschichte, Gefangennahme, Kreuzigung (und Auferstehung) Jesu Christi mit Hilfe einer Fülle von Verweisen und symbolischen Darstellungen in der Gegenwart nahebringt. Die verwendeten malerischen und rhetorischen Techniken erinnern dabei gelegentlich an das, was Zeichner des 20. Jahrhunderts als Erzähltechnik in comic strips perfektioniert haben. Comic strip und Film haben sich gegenseitig befruchtet, auch das ein Indiz für die Möglichkeiten des Vergleichs von Passionsbild und -film.

4. Der Abgebildete, der Angebetete und der Betrachtete

„Niemand hat Gott je gesehen.“ (1Joh 4,12) Die Erinnerung an das Bilderverbot der hebräischen Bibel blieb im Christentum stets wach, und sie führte zu einer Verlagerung der Theo-Logie als Lehre von Gott zu einer Christo-Logie als einer Lehre dessen, dessen Leben und Sterben das wahre Bild Gottes in unvergleichlicher Weise repräsentiert. Leben und Lehre Jesu von Nazareth werden zum Brennspiegel, aus dem sich indirekt Denken und Handeln Gottes des Vaters ergeben.

Aus dieser Verlagerung des theologischen Gravitationszentrums ergaben sich Konsequenzen für den Umgang mit gemalten Bildern. Während in der Theologie des Ostens die Möglichkeit der Anbetung der Bilder konzediert wurde, verwarf man diesen Gedanken im Westen und verstand Christus-Bilder mit Hilfe der Konzepte von Stellvertretung und Repräsentation.[13] Im einen Fall sind Bilder geprägt durch die „Anwesenheit“ des Dargestellten im Bild, im anderen Fall verweist sie nur auf die Anwesenheit des Dargestellten auf einer anderen ontologischen Ebene.

Verknüpft man diese Gedanken mit dem bereits erwähnten Prozess der Vermenschlichung Jesu, in dem er von der Herrlichkeit des himmlischen Richterstuhls hinunter in die elende Gegenwart der Kreuzigung geholt wird, dann zeigt sich darin eine Radikalisierung der Inkarnationstheologie. Die alte gnostische These, Jesus sei nur mit einem Scheinleib auf der Erde gewandelt und er habe die Kreuzigung gar nicht erlitten, sondern nur durchhalten müssen, wird so schlagend und eben bildhaft widerlegt. Im Gegenüber des vere Deus – vere homo wechselt das Betonungsgewicht von der linken göttlichen auf die menschliche rechte Seite. Schon beim Meister der Karlsruher Passion ist der im Mittelalter obligate Heiligenschein sehr viel kleiner und unauffälliger gezeichnet als in älteren Darstellungen. Die Kreuzigung und die übrigen Stationen der Passionsgeschichte gewinnen konsequent ein größeres Eigengewicht. Sie sind nicht mehr das vernachlässigbare, negative Durchgangsstadium zur theologia gloriae der Auferstehung und des Reiches Gottes, sondern es gilt: Die duldende Annahme, das Durchhalten, das betende Meditieren des Leidens werden geradezu zum entscheidenden Signum des leidenden Jesus und damit auch der Glaubenden. Nicht zufällig wurden darum Passionsbilder in Krankenhäusern aufgehängt – wie der berühmte Isenheimer Altar Grünewalds im Antoniterkloster an diesem Ort. Wie bekannt wurde später der Altar von Isenheim nach Colmar gebracht. Heute steht er dort in einem Gebäudekomplex, der interessanterweise ebenso ein altes Kloster samt Kreuzgang und Kirche wie auch ein modernes Museum bildet, gestaltet von den Elbphilharmonie-Architekten Herzog & de Meuron.

Der Tauberbischofsheimer Altar Grünewalds verstaubte jahrzehntelang in einer Kirche, bevor er wiederentdeckt, restauriert und in der Karlsruher Kunsthalle aufgestellt wurde. Mit dem Wechsel von der Kirche ins Museum verbindet sich auch ein Moment der Distanzierung vom ursprünglichen theologischen Zweck. Durch den Kontext des Museums[14] wird der theologische Umgang mit dem Bild nicht ausgeschlossen, ganz im Gegenteil: Er ist Ausgangspunkt und Grundlage jeder kunsthistorischen Betrachtung des Bildes. Aber während vorher das Sujet, eben die Kreuzigung im Mittelpunkt stand, rückt nun die Aufmerksamkeit auf den Künstler, seine Methoden, seine theologischen und künstlerischen Quellen, auf Methode und Interpretation seines Werkes.

5. „Maria Magdalena“

Garth Davis‘ Film „Maria Magdalena“[15] lief im Frühjahr 2018 in deutschen Kinos. Am Anfang steht ein ästhetisch durchdachter Film. Die Kamera konzentriert sich in Großaufnahmen auf die Gesichter der beiden Hauptdarsteller. Jesus von Nazareth wird von Joaquim Phoenix, Maria Magdalena von Rooney Mara gespielt. Die galiläischen Landschaften rund um den See Genezareth und Stadt Jerusalem mit ihrer riesigen Tempelburg bilden die Hintergründe des neutestamentlichen Geschehens, und die Kamera nimmt sich Zeit, Landschaften, Seebilder und Stadtpanoramen ausführlich zu zeigen. Es dominieren neben in den Tiefenschärfenbereich geholten Gesichtern die Blautöne der Dämmerung, das ineinanderfließende Braun, Ocker und Grau von Felsen- und Gerölllandschaften sowie die Kleiderfarben von naturbelassener Wolle und Leinen. All das ist farblich aufeinander abgestimmt und suggeriert eine Atmosphäre des Einfachen, Unauffälligen, der Fremdheit der Menschen in einer kargen, abweisenden Landschaft.

Am Anfang und am Ende des Films stehen Szenen, in denen eine bekleidete Frau tauchend und schwimmend im tiefblauen Wasser schwebt. Und eine Stimme aus dem Off teilt mit: Genauso sei das Reich Gottes, das Jesus verkündigt habe, eine Welt jenseits von Hass, Krieg, Bitterkeit und Streit. Diese Bilder von Personen, die im Wasser schweben, kennt man aus der Kinogeschichte. Auch der Oscar-Preisträger des Jahres 2018, der Regisseur Guillermo del Toro, arbeitet genau mit solchen Wasserszenen am Anfang und am Ende von „The Shape of Water“[16]. Die Unterwasserwelt erscheint bei del Toro als Gegenentwurf zu Härte und Grausamkeit der Welt des Kalten Krieges in den fünfziger Jahren. Diese Welt erkennt Abweichung und Differenz nicht an. Wer das trotzdem leben will, der zieht sich ins Wasser zurück, und deswegen folgt die hagere Putzfrau aus dem Forschungsinstitut am Ende dem amphibischen Monster ins Wasser, um ihre Liebe zu leben. Dem Regisseur gelingt es so, den Film mit einem eigentlich unmöglichen happy end zu beschließen.

Bei Davis verblüffen die Bilder vom tiefblauen Wasser durch ihre Schönheit und durch die offenkundigen Bezüge zur Taufe, auf die später im Film zweimal angespielt wird. Das erste Mal tauft Jesus Maria Magdalena, und das zweite Mal fängt sie, zur Begleiterin Jesu auf seinen Wanderungen geworden, selbst an zu taufen.

Der Zuschauer sieht Maria Magdalena am Anfang, vor ihrer Begegnung mit Jesus, bei ihrer Familie, als Fischerin, die wie die Jünger ihre Netze im See auswirft, mit ihrem Vater und ihrem Bruder, der sie unbedingt verheiraten will, dann mit den anderen Geschwistern sowie als Beterin und Psalmensängerin in der Synagoge. Die Mutter Marias ist gestorben. Die Leute finden es merkwürdig, dass sie einmal allein in die Synagoge geht und dort auch allein betet. Der Bruder weckt sie in der Nacht, führt sie zum See und lässt ihr angebliche Dämonen austreiben, wogegen sie sich heftig wehrt.

Ihre Zweifel an der drängenden Familie führen sie ohne Umschweife in eine neue Faszination, als sie den Prediger, Täufer und Wunderheiler Jesus von Nazareth kennenlernt. Zu ihm fühlt sie sich hingezogen. Sie lässt sich taufen, verlässt gegen Widerstände ihre Familie und folgt Jesus nach. Der Schauspieler Joaquim Phoenix scheint sehr alt für den ungefähr Dreißigjährigen, der Jesus gewesen sein muss, mit langem, ungewaschenem Haar und ebenso langem Vollbart. Bei den langen Wanderungen der Jüngergruppe sieht man Jesus stets weit vorausgehen, während weiter hinter die Jünger und Maria Magdalena miteinander über Jesu Zukunft, seine Pläne und die damit verbundenen Hoffnungen und Ängste sprechen. Den Petrus spielt, politisch ebenfalls korrekt, ein farbiger Schauspieler.

Jesus erweckt Lazarus von den Toten, und der Film zeigt, wie Jesus den erwachenden Leichnam umarmt. Vor sehr drastischem Realismus schreckt der Regisseur nicht zurück, vielleicht eine Konzession an Fundamentalisten und Evangelikale. In der nächsten Kleinstadt wendet sich Jesus auf Marias besonderen Rat hin an die Frauen, die sich nach seiner Predigt in großen Scharen taufen lassen. Der Prediger ‚schenkt‘ den Frauen das Vaterunser als ihr Gebet. Von der Passionsgeschichte lässt der Film vieles weg. Kurz streift er den Einzug nach Jerusalem, auch den provozierenden Auftritt im Tempel. Maria Magdalena hat sich mit Judas befreundet. Er sehnt sich nach dem Reich Gottes, weil er seine Frau und seine Tochter, die beide früh gestorben sind, wiedersehen will. Es schockiert Judas, dass Jesus sich nach dem Aufruhr im Tempel nicht zum König Israels ausruft. Judas sieht darin ein Versagen des Nazareners und entschließt sich deshalb, ihn zu verraten. Die Jünger folgen ihm nicht in seinem Verrat, aber sie wollen zu den Waffen greifen. Maria plädiert für Verzeihen und Gewaltlosigkeit. Für einen kurzen Moment sieht sie den gefolterten und ausgepeitschten Jesus mit blutüberströmtem Rücken. Mühsam trägt er sein Kreuz zum Hügel Golgatha. Nur für einen sehr kurzen Moment ist das aufgerichtete Kreuz mit dem sterbenden Jesus zu sehen. In der nächsten Szene wird er als Leichnam vom Kreuz abgenommen und auf den Schoß der Maria, der Mutter Jesu gelegt.

Der Film beendet die Jesusgeschichte mit einer problematischen Szene, in der Maria Magdalena den Auferstandenen entdeckt. Gerade dieser Schluss zeigt die Stärken und Schwächen dieses Films. Die Schwächen liegen in der Anbiederung an Fundamentalisten und Feministinnen gleichermaßen, was ja eigentlich ein Widerspruch in sich selbst ist. Den Fundamentalisten kommt der Film entgegen, wenn er den Auferstandenen als einen körperlichen, leibhaftigen Jesus zeigt. Der Tote ist wieder zum lebenden Menschen geworden. Er sitzt vor dem Grab, gekleidet in sein weißes Leichengewand und starrt auf den Horizont, bis ihn Maria Magdalena anspricht. Kein Indiz deutet darauf, dass der Auferstandene eine andere, neue Wirklichkeit repräsentiert. Letzteres hätte eher den theologischen Reflexionen des Paulus über Auferstehung entsprochen. Bei Paulus wird die Auferstehung als eine Erscheinung und ein Sich-Sehen-Lassen (1Kor 15,3-6) verstanden. Die alte Wirklichkeit dieser Welt und die neue Wirklichkeit der Auferstehung bleiben sich gleich. Damit fällt der Film selbst hinter die Evangelien zurück. Denn Maria hält im Johannesevangelium den Auferstandenen zuerst für den Gärtner (Joh 20,15). Und Jesus sagt zu ihr: „Rühre mich nicht an.“ Noli me tangere (Joh 20,17). Garth Davis bedient stattdessen evangelikale Klischees.

Genauso biedert er sich bei Feministinnen an. In einem Nachspann heißt es, im Mittelalter habe die katholische Kirche Maria Magdalena als Prostituierte verunglimpft. Erst im Jahr 2016 habe der Vatikan diese Verunglimpfung überwunden und Maria zur „Apostelin“ erklärt. Die offizielle Erklärung des Vatikan liest sich allerdings ein wenig anders.[17] Maria Magdalena wird deshalb gewürdigt, weil ihr der Auferstandene als erstem Menschen begegnet ist. Man kann diese Schlussbilder als Zugeständnisse an eine politisch korrekte Gegenwart und als Versuch betrachten, potentielle Zuschauer nicht zu verschrecken.

Im Übrigen verlässt sich der Film auf Landschaftsbilder und Nahaufnahmen von Gesichtern. Maria Magdalena trägt wie die anderen Jünger und Jesus einfache Gewänder, dazu kommen farblich passende Tücher, die ihr Haar verhüllen. Der Film lässt den Zuschauer zum einen mit einer Ahnung großer Schönheit, zum anderen mit dem Eindruck des Merkwürdigen und Befremdenden zurück. In der Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena liegt nichts Erotisches. Der Film zeigt keine aufreizende, sondern eine würdevolle Frau. Kein Zuschauer kommt auf den Gedanken, dass sich Maria Magdalena in diesen vollbärtigen Jesus verliebt haben könnte.

Die theologischen Akzente, die der Film setzt, wirken in der Summe nicht kohärent. Auf der einen Seite soll Jesus ganz und gar als Mensch gezeigt werden, auf der anderen Seite stehen die Sequenzen von Wasser, Taufe und Reich Gottes. Dazu kommt der Gegensatz von Maria Magdalenas Ermahnung zur Gewaltlosigkeit im Gegenüber zur politischen Frömmigkeit des Judas. Wunder werden in drastischem Realismus gezeigt, ebenso die Auferstehung selbst.

Obwohl der Titel des Films anders lautet, handelt es sich um einen Jesus-Film, allerdings erzählt aus der ‚schrägen‘ Perspektive einer Frau und Jüngerin. Sie will nicht heiraten, wie es Vater und Brüder von einer ordentlichen Tochter erwarten. Sie geht allein beten. Unter den Zwölfen wehrt sie sich gegen all deren Versuche, sie zu vereinnahmen. Maria Magdalena ist in diesem Film eine Frau, die Jesus bedingungslos folgt, sich auch nach der Kreuzigung von keiner Verzweiflung beirren lässt.

6. Der gefilmte Jesus

Wie die Christus-Darstellungen in der Malerei haben Jesus-Filme ihre eigene Geschichte[18], die auch eine Geschichte ihrer Christologie oder Jesulogie ist. Es genügt die Erwähnung einiger Filme, um die entsprechenden Debatten in Erinnerung zu rufen. Pier Paolo Pasolini verfilmte mit Laiendarstellern das Matthäusevangelium und widmete seinen Film Papst Johannes XXIII.[19] Nur wenige Jahre später machte Norman Jewisons Film[20] Jesus zum Superstar, zum Muscial-Helden und zum Bestandteil der Popkultur. Damit war der Boden bereitet, um das Leben Jesu als Parodie zu zeigen, im „Leben des Brian“, das die Comedy Truppe Monty Python im Jahr 1979 herausbrachte[21]. Umstritten waren die Jesus-Filme Martin Scorseses[22] und Mel Gibsons[23], letzterer wegen seiner drastischen Darstellung des Leidens Jesu am Kreuz und wegen der Nähe des Schauspielers und Regisseurs zu fundamentalistischen katholischen Randgruppen.

Die Kontroversen um die Filme Scorseses und Gibsons zeigen sehr deutlich, dass der theologische Wert eines Films immer noch von einer Art Nihil obstat der Kirchen abhängig gemacht wird. Das gilt umso mehr, wenn der betreffende Film, wie das bei Monty Python der Fall ist, in den Verdacht gerät, provokativ oder sogar blasphemisch zu sein. Immer stellt sich die Frage, wie sich im filmisch erzählten Leben Jesu etwas von der Wirklichkeit Gottes andeutet.

Davis‘ wählt in seinem Magdalena-Film eine doppelte Strategie. Auf der einen Seite stehen Szenen eines übersteigerten Realismus, etwa in der Szene von der Auferweckung des Lazarus und in der Auferstehungsszene selbst, die als eine Auferstehung in Körperlichkeit verstanden werden. Auf der anderen Seite stehenden die rahmenden Szenen vom gewaltfreien, friedlichen Kommen des Reiches Gottes.

7. Jesus im Pluralismus

Vergleicht man nun den Maria Magdalena Film mit dem Bilderzyklus des Karlsruher Meisters, so ergibt sich als erstes ein Unterschied in den Perspektiven. Der ‚schrägen‘ Perspektive des Films kann man die Zentralperspektive der Tafeln der Karlsruher Passion entgegenstellen. Der Film erzählt die Passionsgeschichte gleichsam indirekt aus der Perspektive Maria Magdalenas: Heilungen, Verhaftung, Folterung, Kreuzigung und Abendmahl sind nicht zentral, sondern zentral ist Maria Magdalenas Handeln und Verhalten in all diesen theologischen Episoden. Der Meister der Karlsruher Passion erzählt dagegen aus der Perspektive der Hauptperson: Nicht umsonst steht er auf allen Tafeln im Mittelpunkt des Geschehens. Alle anderen, die große Menge der Nebenfiguren, Jünger, Folterer, Soldaten, Anhänger und Gegner gruppieren sich um den leidenden Jesus herum.

Damit ist schon ein zweiter Unterschied angesprochen. Der Bilderzyklus lebt geradezu von dem großen Unterschied zwischen Jesus als der Hauptfigur und der großen Menschenmenge, die auf den meisten Tafeln um ihn herum gruppiert ist. Die Vielfalt der Menge, von den folternden Gegnern bis zu den in Gethsemane schlafenden und später zweifelnden Jüngern, zeigt die unterschiedlichen Haltungen, die Menschen gegenüber dem leidenden Jesus einnehmen können. Deutlich ist jedoch, dass alle Personen um Jesus herum nur deshalb dargestellt werden, um ihre Beziehung zu dem leidenden Jesus zu zeigen. Das ist im Film anders. Vor allem bei Maria Magdalena, in Ansätzen auch bei Judas und Petrus, gewinnt die Lebensgeschichte der Anhängerin Jesu ein sehr viel stärkeres Gewicht. Der Regisseur interessiert sich für die Frage, welche Gründe Maria Magdalena dazu bewogen, sich für ein Leben in der Nachfolge Jesu zu entscheiden. Im Fall des Bilderzyklus ist Glauben geradezu definiert durch die Beziehung zum leidenden Jesus. Im Fall des Films laufen die Leidensgeschichte Jesu und die Lebensgeschichte Maria Magdalenas parallel und gleichgewichtig.

Um auf einen dritten Unterschied zu kommen: Weil der Bilderzyklus in der Gegenwart nur fragmentarisch erhalten ist, ist es schwierig, etwas über Akzente zu sagen. Aber in den erhaltenen sieben Tafeln zielt alles auf die zentrale Szene der Kreuzigung am Ende, eben weil sie theologisch das für den Glaubenden, der der Barmherzigkeit bedarf, entscheidende Ereignis ist. In Davis‘ Film verhält sich das ganz anders. Der Regisseur interessiert sich für den heilenden und predigenden Jesus lange vor der Kreuzigung. Die Kreuzigung selbst wird erstaunlich knapp dargestellt. Mehr Aufmerksamkeit wendet der Film dann dem auferstandenen Christus zu, gerade wegen der Möglichkeit, hier noch einmal einen Dialog zwischen Maria Magdalena und Christus einspielen zu können.

Da vom Karlsruher Meister keine Auferstehungstafeln erhalten sind, es diese möglicherweise auch gar nicht gegeben hat, ist es schwierig, darüber zu spekulieren, wie dieser Meister wohl die Auferstehung dargestellt hätte. Der Film befleißigt sich in diesen Szenen eines sehr kruden Realismus, von dem man nicht weiß, ob er als Konzession an fundamentalistische, evangelikale Zuschauer zu verstehen ist oder als der Versuch einer Interpretation der neutestamentlichen Auferstehungsgeschichten.

Fragt man – ein weiterer Vergleichspunkt – nach dem Verhältnis von Erzählung und Deutung, so ist beim Karlsruher Meister beide auf das Engste miteinander verflochten. Noch das kleinste Detail der Landschaften, der Gebäude, der Figuren ist mit Bedeutung und Symbolik aufgeladen. Der Film übt in dieser Hinsicht stärkere Zurückhaltung. Die Erzählung – und damit die Passion als menschliche Geschichte – rückt deutlich in den Vordergrund. Allerdings nimmt der Regisseur durch die Rahmung mit den Unterwasserszenen deutlich Elemente der Deutung auf. Sie erscheinen mit den Erzählsträngen des Films nicht unmittelbar verknüpft. Trotzdem sind sie – durch die prononcierte Stellung am Anfang und am Ende des Films – hervorgehoben.

Ein letzter Vergleichspunkt zielt auf das Verhältnis von erzählter (Passions-)Geschichte und Gegenwart. Die Tafeln der Karlsruher Passion hingen sehr wahrscheinlich in einer Kirche, wie erläutert spielten Symbole der Gethsemane-Tafel auf die tägliche Andacht der Gläubigen sowie auf Messen und Gottesdienste an. Insofern müssen die Bilder in den liturgischen und alltäglichen Vollzügen der Gemeinde und der Glaubenden integriert gewesen sein. Passionsgeschichte zielte auf Passionsfrömmigkeit. Vergangene Erzählung und fromme Gegenwart waren miteinander amalgamiert. In Davis‘ Film verhält sich das anders, zumal das Kino im Gegensatz zu Kirche oder Gemeindezentrum kein Ort der Alltagsfrömmigkeit und des Glaubens ist. Auf die Gegenwart zielt selbstverständlich der Abspann, mit dem Hinweis auf die veränderte Rolle Maria Magdalenas als verehrte Apostelin der katholischen Kirche. Das wirft allerdings auch ein Licht auf die Frage nach dem theologischen Gewicht der Passionsdarstellung dieses Films. Und es scheint, als ob anders als beim Karlsruher Meister diese zentrale Bedeutung der Passion nicht mehr die große Rolle spielen würde. Und dabei kommt ein zentraler Unterschied zwischen dem Bilderzyklus und dem Film zum Tragen: Den Bilderzyklus kann man im genuinen Sinn des Wortes theologisch nennen. Er zielt auf den Glauben der Betrachter und ist integriert in die liturgischen und theologischen Vollzüge der Kirche. Dem Film fehlt diese Integration in kirchliche Handlungsvollzüge. Die theologischen Bezüge lassen sich zwar sowohl in Erzählung wie in die angelegte Deutung hineinlesen, aber sie sind im Grunde kein konstitutives Moment des Films mehr.

8. Jesus-Vergleiche

Man kann den Vergleich von Jesus-Film und Jesus-Bild nun noch weiterführen, indem man weitere Werke hinzuzieht und eine Reihe von Vergleichsmomenten wenigstens andeutet.

In den Passionen Johann Sebastian Bachs wird wie beim Karlsruher Meister und im Magdalena-Film die Passionsgeschichte anhand des Textes des Johannes- oder des Matthäusevangeliums erzählt. Dafür stehen die Rezitative des Evangelisten, Jesusworte und die Einwürfe der Menge, gesungen vom Chor. Auf einer ersten Stufe meditieren die Arien das erzählte Geschehen und versuchen es zu vertiefen. Auf einer zweiten Stufe stimmt die Gemeinde mit den Chorälen in die lutherische und rechtfertigungstheologische Deutung dieses Geschehens ein. Von Zeitgenossen wurden Bachs Passionen als zu anschaulich-opernhaft kritisiert. Gegen diese Kritik handelt es sich bei der Passionsmusik Bachs um eine Vergegenwärtigung der Evangelien-Erzählungen, in die aktualisierend auch die Gemeinde mit einbezogen wird.[24] In dieser Gegenwartsbedeutung der Passionsgeschichte stehen Bachs Passionen dem Karlsruher Meister nahe, wenn auch der theologische Akzent durch die von Kindheit an lutherische Prägung Bachs anders gesetzt wird.

In Colm Tóibíns Roman „Marias Testament“[25] erinnert sich eine alt gewordene Maria an ihren hingerichteten Sohn. Bedrängt von den Anfragen der Jünger und späteren Gemeindegründer erzählt sie ihre Version der Geschichte. Und insofern arbeitet sich Tóibín an den dicken Schichten katholischer Marientheologie ab. Maria wird zur psychologisch interessanten Mutter, für die Familiengeschichte wichtiger ist als Heils- und Theologiegeschichte. Das ist vor allem für den Film von Bedeutung, weil Tóibín sich in erkennbarer Parallele zum Film einer Frauenfigur annimmt und dieser Frauenfigur durch Abtragen der Schichten theologischer Überformung und Interpretation neues (fiktives) Leben einhaucht.

Noch komplexer erscheint das Programm das der ungarische Schriftsteller Peter Esterházy in seinem Roman „Die Markus-Version“[26] verfolgt. Esterházy nimmt das Markusevangelium als Folie, um die Kindheit eines Jungen in den fünfziger Jahren in Ungarn zu erzählen. Der Schriftsteller collagiert nun Passagen aus dem Markusevangelium mit der Geschichte der Kindheit des Jungen, in dessen Leben die betende Großmutter eine wichtige Rolle einnimmt. Die Ebene theologischer Deutung und kirchlicher Orthodoxie kommen gar nicht mehr vor. Der Gebrauch, den Esterházy vom Markus-Evangelium macht, ist rein biographisch. In keiner Weise ist der Junge, von dem erzählt wird, ein exemplarischer Gläubiger, dem theologisch interessierte Leser folgen könnten. Biographie und Individualität des Jungen bleiben in ihrer Kontingenz für sich stehen.

Zuletzt ist auf das Theaterstück „Judas“ von Lot Vekemans[27] zu verweisen. Das Einpersonenstück wurde in der Spielzeit 2017/2018 vom Badischen Staatstheater in mehreren Karlsruher Kirchen aufgeführt. Die Figur des Judas steht vor dem Altar und führt mit den Zuschauern ein Gespräch, indem Judas seine Geschichte, seinen Verrat an Jesus begründet und sich dafür rechtfertigt. Im Laufe seines Monologs stellt sich heraus, dass er erhebliche Bedenken gegen die ihm zugedachte Rolle in der Heilsgeschichte hat. Alles läuft auf die Frage zu: Handelte Judas bei seinem Verrat aus freiem Entschluss und freiem Willen? Oder war er so etwas wie Marionette, die so handeln musste, weil die Passionsgeschichte so ablaufen sollte, wie sie dann ablief? In der Folge macht Judas seine eigenen biographischen Argumente gegen die theologische Tradition geltend. Er fühlt sich als der Sündenbock, der durch seinen Verrat dafür sorgen musste, dass die Menschen durch Jesu Kreuzestod erlöst würden. Auf den Tafeln der Karlsruher Passion verhält sich Judas konform mit der ihm von der Theologie zugedachten heilsgeschichtlichen Rolle. Im Maria Magdalena Film wird Judas wenigstens zugestanden, seine persönlichen Gründe für seinen Verrat anzuführen.

Wie gesagt – diese Vergleiche sollten nur angedeutet werden. Jeder einzelne würde einen neuen Essay lohnen. Die Andeutungen zeigen, dass die vergleichende Analyse die vorgegebenen Grenzen von Kunstformaten überspringt. Literatur, bildende Kunst, Theater und Film bilden nicht eigene Jesus-Traditionen aus, sondern befeuern sich gegenseitig.

9. Filmtheologie

Was Jörg Herrmann stets beschäftigt, der Film in der Theologie und die Theologie im Film, sollten die Überlegungen dieses Essays an einem vergleichenden Exempel durchspielen. Es konnte gezeigt werden, dass sich Christologie und Jesulogie je nach Genre, Kunstform, Interpretation und Erzählweise verändern und an moderne Fragen anschließen. Der gefilmte und der gemalte, der besungene und der erzählte Christus – sie alle sind noch nicht zu Ende gedeutet.

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Lieber Jörg Herrmann, wir sind uns leider nur einmal kurz in Berlin begegnet, und auch das ist schon länger her. Eigentlich schade. Das Gespräch zwischen praktischer und systematischer Theologie, zwischen Akademie in Hamburg und Loccum, zwischen der Referenz auf den Film und auf die Literatur hätte sehr fruchtbar sein können. Vielleicht können wir es in dieser Zeitschrift weiterführen. Ich hoffe auf Ihren Kommentar zu all den theologischen Filmbeiträgen, die Ihnen in dieser Nummer der katoptrizómena gewidmet sind. Aus dem Süden die herzlichsten Wünsche für Ihren runden Geburtstag!

Anmerkungen

[1]    Einen ersten Versuch, Unvergleichbares zu vergleichen, habe ich in einem Essay unternommen, der die Themen Tod und Sterben in den Songs Leonard Cohens und im Liederzyklus „Winterreise“ von Franz Schubert miteinander verglich: Wolfgang Vögele, Nebensonnen. Theologische Bemerkungen zu Leonard Cohen und Franz Schubert, tà katoptrizómena, Heft 105, Januar 2017, https://theomag.de/105/wv31.htm.

[2]    Zum Verhältnis von Film und Theologie vgl. Wolfgang Vögele, Film ab - Predigt läuft. Ungeordnete Beobachtungen eines Kinogängers, der gelegentlich auf der Kanzel steht, tà katoptrizómena, H.86, 2013, http://www.theomag.de/86/wv06.htm.

[3]    Zum Museumsbesuch vgl. Wolfgang Vögele, Schauen und Schweigen. Betrachtungen über den Museumsbesuch (ohne Kunst), tà katoptrizómena, Heft 111, Februar 2018, https://theomag.de/111/wv040.htm sowie die weiteren Artikel dieses Heftes zum Thema Museum.

[4]    N.N., Art. Maria Magdalena (2018), o.O., o.J., https://de.wikipedia.org/wiki/Maria_Magdalena_(2018).

[5]    N.N., Art. Meister der Karlsruher Passion, o.O., o.J., https://de.wikipedia.org/wiki/Meister_der_Karlsruher_Passion.

[6]    Jaques le Goff, Der Gott des Mittelalters. Eine europäische Geschichte, Freiburg u.a. 2005 (franz. 2003).

[7]    Zum Tauberbischofsheimer Altar vgl. Wolfgang Vögele, Zum Isenheimer Altar: Christus vor Augen malen. Zum Tauberbischofsheimer Altar von Matthias Grünewald, in: Wolfgang Brjanzew (Hg.), Bild und Bibel. eine Handreichung für die Arbeit in Gemeinde und Religionsunterricht, Karlsruhe 2014, 40-43

[8]    Dietmar Lüdke (Hg.), Die Karlsruher Passion. Ein Hauptwerk Straßburger Malerei der Spätgotik, Ostfildern 1996. Vgl. auch N.N., Meister der Karlsruher Passion, o.O. o.J., https://de.wikipedia.org/wiki/Meister_der_Karlsruher_Passion.

[9]    Stefan Roller, Ein verlorenes Werk des Meisters der Karlsruher Passion, in: Lüdke, Anm.6, 117-141, hier: 123 (Hervorhebungen wv).

[10]   A.a.O., 133.

[11]   Die folgende Passage beruht auf Notizen, welche die Grundlage für einen Vortrag und eine Führung zur Karlsruher Passion im März 2018 bildeten. Ich danke Dr. Dietmar Lüdke, Karlsruhe für die gemeinsamen Gespräche bei der Vorbereitung, von denen ich für diesen Essay sehr profitiert habe.

[12]   EG 65, 3.

[13]   Vgl. dazu Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990.

[14]   Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Schauen und Schweigen. Betrachtungen über den Museumsbesuch (ohne Kunst), tà katoptrizómena, Heft 111, Februar 2018, https://theomag.de/111/wv040.htm.

[15]   Garth Davis, Maria Magdalena, 2018. Vgl. den Trailer (https://www.youtube.com/watch?v=OqiVOa3a-Qk) sowie die Informationen von Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Maria_Magdalena_(2018)).

[16]   Guillermo del Toro, The Shape of Water. Das Flüstern des Wassers, 2018. Vgl. den Trailer https://www.youtube.com/watch?v=7Q-xE6tn7_A.

[18]   Dazu neuestens Daria Pezzoli-Olgiati, Marie-Therese Mäder, Natalie Fritz, Baldassare Scolari (Hg.), Leid-Bilder. Die Passionsgeschichte in der Kultur, Marburg 2018.

[19]   Pier Paolo Pasolini, Das erste Evangelium – Matthäus, 1964. Vgl. dazu Manfred Poser, Das Evangelium nach Pasolini, April 2010, http://www.kritische-ausgabe.de/artikel/das-evangelium-nach-pasolini.

[20]   Norman Jewison, Jesus Christ Superstar, 1973.

[21]   Terry Jones [Monty Python], Das Leben des Brian, 1979.

[22]   Martin Scorsese, Die letzte Versuchung Christi, 1988.

[23]   Mel Gibson, Die Passion Christi, 2004.

[24]   Zum Zusammenhang von Theologie und Musik bei Bach, gerade in den Passionen vgl. John Eliot Gardiner, Bach. Musik für die Himmelsburg, München 2016.

[25]   Colm Tóibín, Marias Testament, München 2012. Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Mater dolorosa auf der Couch. Bemerkungen zu Colm Tóibíns Roman „Marias Testament“, tà katoptrizómena, H.88, 2014, http://theomag.de/88/wv08.htm.

[26]   Peter Esterházy, Die Markus-Version, München 2016. Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Predigt des Löwen. Über Péter Esterházys Roman „Die Markus-Version“, tà katoptrizómena, Heft 101, Juni 2016, https://www.theomag.de/102/wv25.htm

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/114/wv045.htm
© Wolfgang Vögele, 2018