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Natur, Sinn und TodWolfgang Vögele
1.Ein bekannter deutscher Fernsehkomiker, mittlerweile 85 Jahre alt, erklärte neulich einem verblüfften Publikum, das ihn gerade als Tänzer und Sänger erlebt hatte: „Das Leben wird ja bestimmt durch zwei Dinge: Geburt und Tod. Und die Zwischenzeit sollte man nutzen.“ Wahrscheinlich war das nur witzig gemeint. Die Sottise, ein harmloser vorbeifliegender Witz, sollte eine langatmige Erklärung ersetzen. Und dennoch versteckt sich in der Bemerkung ein agnostischer Alltagspragmatismus, der sich rotzig und frech religiösen, metaphysischen und theologischen Spekulationen verweigert. Du hast achtzig Jahre, vielleicht ein paar mehr. Mach etwas draus! Verschwende deine Zeit nicht mit allzuviel Nachdenken darüber! Der Philosoph Michael Hampe, der in Zürich lehrt, hat trotzdem versucht, den weiten philosophischen Raum zu vermessen, der sich hinter dieser Bemerkung auftut. Er hat sich dafür eine besondere Versuchsanordnung ausgedacht, die er einen „philosophische[n] Roman“ (388)[1] nennt. Man kann das Buch als eine Sammlung von drei philosophischen Essays lesen, die in eine ein wenig umständliche Rahmenhandlung eingebettet sind. Oder man nimmt auch die Rahmenhandlung ernst und liest dann eine sehr schwarze, traurige Geschichte über Philosophie am Rande der Apokalypse. Und diese Philosophie überschreitet regelmäßig die Grenze zur Theologie. Und das lohnt die folgende gründlichere Auseinandersetzung.[2] 2.
3.Der Protagonist Aaron Fisch, ein Verleger und Redakteur schreibt an der Biographie seines verstorbenen Freundes Moritz Brand. Er sortiert seine Tagebücher und Briefe, und er will seine Gedichte und Essays herausgeben. Dafür hat er sich in eine großzügige Stadtvilla zurückgezogen. Draußen, auf der Straße toben Kämpfe. Drohnen beobachten Passanten aus der Luft und töten sie gezielt. Die Kämpfe reichen bis in den Garten der Villa. Während Fisch an seinem Buch arbeitet, werden die Nachbarn des Biographen getötet, ganz am Ende kommt er selbst ums Leben. Aus der Disposition schon leuchtet die Frage hervor: Wie kann ein Mensch ein sinnvolles Leben führen, wenn die Politik nur Chaos und Kriege produziert und die Religionen nicht mehr trösten können? Die Kämpfe, die bis in die Abgeschiedenheit der mit gut abgehangenem Fleisch, Whiskyvorräten, Festplatten und W-Lan ausgestatteten Villa reichen, dokumentieren das Versagen der Politik. Der Wunsch nach einem transzendenten Jenseits wird in den Essays diskutiert und negativ beschieden. Einen Gott, der sich in Offenbarungen und Inkarnationen mitteilen würde, kann es für Brandt und Fisch nicht geben. Politik und Religion hinterlassen also eine Leerstelle, auf der sich der Biograph und der an einem Hirntumor verstorbene Dichter und philosophische Essayist reflektierend bewegen.
Wie bearbeitet nun der Autor dieses Problem in einem philosophischen Roman? Und welche Gründe führt er an, auf die christliche, theologische Option zu verzichten? Der Roman beginnt zunächst ganz harmlos utopisch. Der Biograph Fisch führt Gespräche mit einem Computerarchiv, dem er einen japanischen Namen gegeben hat: Kagami. Der japanische Vorname bedeutet: Spiegel[3], nämlich in diesem Fall persönlich assistierende Spiegel des Verlegers, Herausgebers und Biographen. Kagami ist ein weiblicher Vorname. Allerdings werden Liebe und Erotik in diesem Buch ausgespart. Frauen tauchen nur auf als feminisierende Festplatte, die spricht, als Schwester des philosophischen Autors Moritz Brandt und als die philosophische Lehrerin, bei der er in Cambridge studiert hat.
Von Anfang an schillert das Buch zwischen Reflexion und Literatur. Die ‚Wirklichkeit‘ des Romans wird durch eingestreute Fotografien der Schauplätze verstärkt. In diesem Schillern zwischen Science-Fiction, Apokalyptik und der gegenwärtigen Realität entsteht das dumpfe Gefühl einer Verunsicherung genauso wie die Frage, ob eine fiktionale Erzählung die genaue philosophische Analyse lohnt. Moritz Brandt, der Autor der im Buch präsentierten Essays, hat in Cambridge studiert wie der Autor Michael Hampe. Brandt wandte sich von der Philosophie ab, wurde Verlagslektor und begann, eigene Gedichte zu veröffentlichen. Aaron Fisch lässt sich von seiner Archivstimme Kagami Tagebucheinträge von Moritz Brandts Philosophieprofessorin Dorothy Cavendish vorlesen. Dazu kommen Tagebucheinträge von Brandt selbst. Es entsteht das Bild eines durch seine großbürgerliche Herkunft gut versorgten, leicht exzentrischen jungen Mannes, der zwischen Philosophie und Lyrik schwankt so wie der eigentliche Autor Hampe zwischen Philosophie und Belletristik. In solche biographischen Texte eingebettet, stehen die drei Essays, die dem Buch den Titel gegeben haben: die Wildnis (43ff.), die Seele (149ff.) und das Nichts (254ff.). Manche Texte Brandts, vor allem in den Tagebüchern sind in einer Art orthographisch ungewöhnlichem Jugend-Slang geschrieben. Brandt lässt Vokale weg, die in der Sprache verschluckt werden. Fisch bemerkt später selbst, dass diese Marotten die Lektüre nur stören. In den Text eingesprenkelt sind aber auch merkwürdige Fehler, von denen man nicht weiß, ob es sich um absichtlich eingestreute Unklarheiten oder um fehlendes Lektorat handelt. So heißt es an einer Stelle „Emroy“-Universität, wo doch wohl Emory University gemeint ist (48). An anderer Stelle ist von einer Ivory League Universität (153) die Rede, wo es korrekt Ivy League heißen müsste. Zwischen Elfenbein (ivory) und Efeu (ivy) besteht nicht nur im Englischen ein Unterschied. An einer dritten Stelle wird ein „Dokument“ zitiert, das in der Überschrift als ein Brief von Moritz Brandt an seine Schwester Mariam bezeichnet wird (250). Das „Dokument“ nach der Überschrift ist aber gar kein Brief, sondern seinem Charakter nach eher ein Auszug aus dem Tagebuch Moritz Brandts. 4.
Langsam stellt sich bei der Lektüre heraus, dass Kagami, die Stimme des Festplattenarchivs so etwas wie die Summe allen Wissens bereithält. Auf Nachfrage liefert sie Dokumente, Bücher, Texte, Quellen, Ton- und Bildaufnahmen. Sie kann über diese Dokumente nachdenken, sie nachvollziehen, sie kann sogar Leben und Lebensläufe simulieren. Aber das führt nicht zu weitergehenden Schlussfolgerungen. Kagami kommt nur so weit, dass sie Dokumente und Überzeugungen nebeneinanderstellt. Sie verzichtet darauf, ihr Wissen zu bewerten, zu kategorisieren und die nötigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
5.Der zweite Essay gilt der Seele. Brandt hebt hervor, dass das griechische „psyche“ sowohl für Seele als auch für Schmetterling steht. Der Schmetterling kommt aus einer Verpuppung, die hässliche Raupe macht eine Metamorphose durch (149). Brandt diskutiert die Frage, was mit der Seele nach ihrem Tod geschieht. Er wählt die Alternativen Befreiung vom Körper (Platon), ewiges Leben (Christentum) und Wiedergeburt (Buddhismus). Spiritualität und Theologie entstehen in der Frühzeit daraus, dass Menschen die Erfahrung des Todes bearbeiten wollen (159). In der Vorstellung von einem Leben nach dem Tod liegt ein Trost, eine Stärkung für das Leben, und deswegen taucht sie nach Brandt in allen Religionen auf (161). Diesen Trost benötigen Menschen angesichts der Tatsache, dass der Tod eine „Manifestation des totalen Scheiterns jedes individuellen Lebens“ (161) ist. Dieser anthropologische Pessimismus wirkt schon fast paulinisch. Der einzelne fürchtet sich vor seinem Tod, aber es könnte Trost bringen, dass alle Menschen sterben müssen. Man kann wie es in der Bibel heißt lebenssatt sterben. Irgendwann im Alter sind Körperkraft und Bewusstsein verbraucht. Die Individualität der Seele entsteht für Moritz Brandt durch erlebte Lebensgeschichte. Vergangenheit und Gegenwart bilden einen „‘Rahmen‘“, einen Container, der Lebensgeschichte aufnimmt. Lebensgeschichten unterscheiden sich je nach Individuum, aber Rahmen oder Container bleiben gleich (173). Es folgen interessante Gedanken zur Immaterialität der Seele, zum Zusammenhang von Individuum und Zeit und zur Rolle des Lichts (180ff.). Wieder münden im zweiten Essay diese Gedanken in eine Reflexion über den Tod: „Das Einzige, was wir über den Tod wissen, ist: Noch niemand ist zurückgekommen, um von der Verwandlung, die er vielleicht durchlief, berichten zu können.“ (190). Moritz Brandts Argument läuft darauf hinaus, dass der Seele keine ‚Trägersubstanz‘ eignet, mit der sie nach dem Tod des Körpers weiterleben könnte. Eine Ausnahme könnte das Licht sein. Es ist schade, dass Hampe/Brandt hier nicht auf die „Göttliche Komödie“ Dantes[7] zu sprechen kommen, denn Dante verstand ja vor allem im dritten Teil seines Werks, dem ‚Paradiso‘, Gott vorrangig als Licht, welches die in Barmherzigkeit aufgenommenen Seelen und den Rest der Welt beleuchtet und damit allererst lebendig macht. Ebenso wäre an die Licht- und Aufklärungsphilosophie Hans Blumenbergs zu denken.[8]
Es geht hier auch um einen Unterschied zwischen Subjektivismus und Kosmologie. Der Subjektivismus sagt: Gott hat mich erschaffen, und darum muss ich mich selbst entfalten und verwirklichen. Die Kosmologie sagt: Gott hat diesen Kosmos erschaffen, und ich bin einen Funkenschlag lang ein Teil davon. Also nutze ich die Zeit. Der philosophische Pessimismus sagt: Ich kann nicht mit guten Gründen entscheiden, ob es einen Gott gibt. Ich weiß auch nicht, ob hinter dem Kosmos eine gute Kraft steckt. Ich bin in das Leben hineingeworfen, in dem ich keine, wie auch immer geartete moralische Verpflichtung entdecken kann. Wie kann ich dann den Funkenschlag, der mein Leben ist, nutzen? 6.
Leben wird in apokalyptischen Zeiten häufig als so ambivalent bewertet, dass man behauptet: Es wäre besser, wenn es keine Menschen geben würde. Oder zugespitzt: Es wäre besser, wenn ich gar nicht geboren worden wäre. Und: „Wer keine Kinder zeugt, verhindert damit Leid, aber er verhindert nicht Freude oder Lust. Deshalb sei es besser, keine Kinder in die Welt zu setzen.“ (267) Brandt unterscheidet Natalisten und Anti-Natalisten; die einen entscheiden sich für Fortpflanzung und Geburt, die anderen dagegen. Die Entscheidung für das eine oder andere hängt ab von der Möglichkeit intensive Erfahrungen der Wirklichkeit zu machen. Brandt kommt in seinem Essay deshalb auf die Bewertung von Empfindungen und Wahrnehmungen und die subjektiven Anteile daran zu sprechen: „Auch eine künstlerische Tätigkeit wie Zeichnen oder Malen, das Musizieren oder der Versuch, ein Gedicht zu schreiben, kann zu einer so genauen Hinwendung zu den Einzelheiten der Wirklichkeit führen, daß die subjektiven Bewertungen als störend bei der kontemplativen Arbeit empfunden und immer mehr ausgeblendet werden, je mehr die Künstlerin oder der Künstler die Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung, weg von sich selbst und hin zum Gegenstand der Kunst, zu lenken imstande ist.“ (247f.) Der Künstler gewinnt die Einsicht, daß ihm das eigene Selbst bei seiner Tätigkeit im Wege steht. Das aber ist keine allmähliche Erkenntnis, sondern nur möglich in einer schlagartigen Intuition, in einer ‚Erleuchtung‘. „Die Reinigung der Empfindungen von den selbstischen Zusammenhängen führt in der Mystik vielmehr zur Intuition einer unendlichen Komplexität, einer Komplexität, die meine Lebensgeschichte bei weitem übersteigt.“ (276) Diese Intuition einer das Ich umgebenden und es übersteigenden Komplexität lässt sich nur als Gefühl oder Ahnung spüren, nicht aber als Text, also sprachlich ausdrücken. „Texte realisieren etwas anderes als das, was sie beschreiben, sie reduzieren die Komplexität des Benannten innerhalb der Perspektive eines auf bestimmte Weise bewertenden Selbst.“ (277) Es geht um die Erkenntnis, daß „die Wirklichkeit zu komplex ist, um sie nur von meinen subjektiven Interessen her zu begreifen und sprachlich zu thematisieren (…).“ (ebd.)
Brandt wechselt in der Folge von der Mystik zur komplementären Weisheit, verstanden als eine Lebenskunst, die im Detail weiterhilft statt sich in allgemeinen und abstrakten Bildungsprogrammen zu verlieren. „Jede begriffliche Schematisierung kapituliert letztlich vor der Bodenlosigkeit und Komplexität der Wirklichkeit, wie sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt manifestiert.“ Weisheit liefert nicht mehr Lebenshilfe-Anleitungen für jedermann, sondern richtet sich an einzelne und „ihre jeweiligen Transformationsbedürfnisse in konkreten Lebenssituationen.“ (285) Mystik sorgt dafür, daß der einzelne sich von seiner Subjektivität befreit und einstellt auf eine wechselseitige „Durchlässigkeit“ zwischen Unbewußtem und Außenwelt. Diese „führt dazu, daß sich die bodenlose Komplexität, die jeder Mensch selbst darstellt, und die bodenlose Komplexität der Situation, in der er sich mit anderen Menschen immer gerade befindet, aufeinander ohne Steuerung abstimmen.“ (286f.) Beispiele dafür, die Hampe nicht nennt, sind der Zen-Bogenschütze, den Eugen Herrigel[10] beschrieben hat, der ins Gebet versunkene Mönch, der alt und krank gewordene Maler Henri Matisse[11] beim Scherenschneiden und Finden von einfachen Formen. Durchlässigkeit heißt, von sich selbst und den eigenen Interessen abzusehen und sich für neue Situationen und Ansprüche zu öffnen.
In einem Tagebucheintrag kommt Brandt später noch einmal auf das Verhältnis von Weisheit, Philosophie und Literatur zurück. „In der Dichtung, vielleicht in der Kunst überhaupt, haben sich vielmehr noch Spuren der Weisheit erhalten. Für die Weisheit gilt anders als für Wissenschaft oder Philosophie: keine endgültige Bewertung einer Situation! Wir verfügen über keinen absoluten, nicht situativ gebundenen Erkenntnisstandpunkt. Jede Darstellung geschieht aus einer begrenzten Perspektive, ist von einem endlichen Wesen mit endlicher Erfahrung erzeugt. Es geht nicht um Allgemeingültigkeit, sondern um Ehrlichkeit, um Authentizität.“ (324) Brandts Gedanken über Weisheit und Mystik erweisen sich als eine Kritik der Vollständigkeit des rationalen Subjekts und gerade darin als religiös oder theologisch. Das unvollständige Individuum steht vor der Aufgabe, ein Verhältnis zur Wirklichkeit zu finden. Und das geschieht nicht durch Erkenntnis, sondern durch intuitive Übungen. Damit wird auch deutlich, warum die philosophischen Essays von Moritz Brandt in diese apokalyptische Rahmengeschichte eingeordnet sind. Letztere dient der Subjektivierung und Perspektivierung. Der Autor reduziert im guten Sinne abstrakte Philosophie auf situative Weisheit. „Wenn es keine Perspektive auf die ganze Welt und das ganze Leben gibt, wenn es keine Kriterien zur Beurteilung der Welt und des gesamten Lebens gibt, dann bleibt nichts anderes übrig, als zu schildern, wie es sich gerade anfühlt, auf der Welt zu sein und ein bestimmtes Leben zu führen.“ (327) Was folgt daraus? Es folgt daraus eine umfassende Vorsicht gegenüber allen Meinungen und Urteilen, gegenüber allem Positionalismus. Es folgt daraus das Einüben eines gelassenen Sich-Einlassens auf die Welt.
Brandts Essay geht über diesen neutestamentlichen Verweis hinweg und endet dann so. Er beruft sich zuletzt auf ein Zitat von Ian Maclaren: „‘Sei freundlich, denn jedes Wesen, das du triffst, kämpft eine schwere Schlacht!‘ Wer sich daran hält, wird in den Schlachten, die die Menschen selbst anzetteln, nicht mitmachen.“ (333) Das ist das hehre Programm eines intellektuellen Aussteigers, und sein Erfinder Hampe scheint dagegen auch selbst skeptisch zu sein und deutet dies in zwei Wendungen der Geschichten an. Brandt selbst stirbt an einem unheilbaren Hirntumor, viel zu jung. Und Aaron Fisch, der Biograph, wird in den Gefechten getötet, aus denen er sich eigentlich zurückgezogen hatte. 7.Der Leser ist einerseits fasziniert von den Fragen, die Moritz Brandt stellt, von den Methoden, die er vorschlägt und bedenkt. Auf der anderen Seite wirken alle Figuren in Hampes philosophischem Roman doch leicht steril und klischeehaft. Ihnen fehlt die Subjektivität, die sie so gerne mystisch loswerden würden. In Brandt jedenfalls steckt jedes Klischee, das einen rebellischen jungen Intellektuellen charakterisieren könnte. Er pöbelt gegen seine philosophische Lehrerin, er geht zum Boxtraining, er schreibt Gedichte, er bedient sich einer schluffigen Sprache, er weiß in seiner Pubertät nicht, ob er sich als Junge oder Mädchen fühlen soll. Noch mehr gilt der Klischeevorwurf für seinen übergewichtigen Biographen Aaron Fisch. Er hamstert Lebensmittel, wendet viel Zeit auf für ein wunderbares englisches Frühstück, er spricht dem Rotwein zu und haßt den Sport. Die bedrohlichen politischen Geschehnisse, die Kampfdrohnen, die Kampfszenen in seinem Garten lassen ihn kalt. Er plaudert ausführlich mit seinem sprechenden Archiv. Am Ende kommt Aaron Fisch banal und erwartbar bei einem Drohnenangriff vor seinem Haus ums Leben. Und darum stellt sich die Frage: Wieso ist es nötig, dass Hampe diese klischeehaft erwartbare Rahmengeschichte erzählt? Um dem Roman noch mehr apokalyptische Schärfe zu geben? Mich hat das nicht völlig überzeugt. Es wäre an Milan Kundera zu denken, der es in seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“[12] meisterlich verstanden hat, existentielle philosophische Fragen mit einer tragischen Liebesgeschichte zu verknüpfen. Kunderas Geschichte lebt von ihren unerwarteten Wendungen und der philosophischen Klugheit seiner Fragen. Beides ist perfekt miteinander verwoben. Bei Hampe kommt die (literarische) Geschichte sehr vorhersehbar daher, was aber der philosophischen Klugheit seiner Fragen keinen Abbruch tut. Die Philosophie triumphiert hier über den Roman.
In einem Nachwort schließlich spricht der Autor selbst, und erst jetzt fällt das erwähnte Stichwort vom philosophischen Roman. Die Versuchsanordnung Hampes entspricht einer „narrativen Philosophie“ (389). Es wäre nach diesen rezensierenden Überlegungen die Frage zu stellen, ob es sich eher um einen Roman oder eher um einen philosophischen Entwurf handelt. Einen Roman würde man nach ästhetischen Kriterien beurteilen, auch wenn dort philosophische Fragen behandelt werden, wie in Diderots „Rameaus Neffe“, in Thomas Manns „Zauberberg“ oder im erwähnten Roman Kunderas. Wenn es sich bei Hampes Werk um einen Roman handelt, dann stellt sich die Frage, wo seine eigene Position zum Vorschein kommt. Auf mich wirkt die apokalyptische Zerstörung am Ende des Buches samt dem Tod der beiden Protagonisten bedrückend. Ich lese das als eine Warnung vor dem Zerfall globaler Solidarität und vor einer drohenden ökologischen Katastrophe.
Unabhängig davon, ob man das Werk für einen Roman oder einen philosophischen Entwurf hält, Hampes Buch trifft die (christliche) Theologie an einem zentralen Punkt, in der Frage nach dem Umgang mit dem Tod und der Frage nach dem Sinn des Lebens. Das liegt auch daran, daß Hampe in seiner mystischen Weisheit eine zwar theologie-affine, aber dennoch nicht-theologische Lösung für diese beiden Fragen bietet. Christlicher Glaube verweist für den Sinn des Lebens auf die Verschränkung von extremem Leiden am Kreuz und seiner Überwindung in der Auferstehung Jesu Christi. Die Fragen nach Leid und Tod verweisen auf ein extrem ungerechtes, in philosophischer Sprache kontingentes Schicksal (Tod durch einen Hirntumor, Tod als Zivilist in einem Bürgerkrieg). Moritz Brandt greift bei der Beantwortung dieser Fragen nicht auf das theologische Reservoir des Christentums zurück. Eher gilt das für seine philosophische Lehrerin Cavendish, deren Tagebücher ausführlich zitiert werden, aber im Kontext des Romans nur eine untergeordnete Bedeutung haben.
Anmerkungen[1] Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf das im Untertitel genannte Buch. [2] Wer es kürzer will, sei verwiesen auf diese sehr positive Rezension: Thomas Ribi, Das, was man Leben nennt, NZZ 15.5.2020, https://www.nzz.ch/feuilleton/das-was-man-leben-nennt-michael-hampe-geht-grosse-fragen-an-ld.1556372. [3] Zur Spiegel-Metaphorik Wolfgang Vögele, Im Labyrinth der Spiegel, tà katoptrizómena, Heft 113, Juni 2018, https://www.theomag.de/113/wv044.htm. [4] Bei John Williams könnte man auf den Gedanken kommen, daß dessen Roman „Stoner“ eine Art Vorbildfunktion für Hampe ausgeübt hat: John Williams, Stoner, München 2013 (engl. 1965); vgl. dazu Wolfgang Vögele, Der Dulder. Zu John Williams Roman „Stoner“, tà katoptrizómena, H.87, 2014, http://theomag.de/87/wv07.htm. [5] Hier treffen die Überlegungen Hampes mit der Philosophie der ‚elektrischen‘ Unmittelbarkeit zusammen, die der französische Philosoph Tristan Garcia entwickelt hat. Vgl. dazu Tristan Garcia, Das intensive Leben. Eine moderne Obsession, Berlin 2017; vgl. dazu Wolfgang Vögele, Elektrische Philosophie. Rezension von Tristan Garcia, Das intensive Leben. Eine moderne Obsession, Berlin 2017, tà katoptrizómena, Heft 111, Februar 2017, https://theomag.de/111/wv041.htm [6] Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017. [7] Vgl. dazu Dante Alighieri, Commedia in deutscher Prosa, übers. von Kurt Flasch, Frankfurt 2013 sowie Wolfgang Vögele, Die Welt, aus dem Jenseits betrachtet. Einige Bemerkungen über Dantes Commedia, Theologie und Kunst, tà katoptrizómena, H.95, 2015, http://www.theomag.de/95/wv18.htm. [8] Vgl. dazu zusammenfassend Rüdiger Zill, Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie, Berlin 2020. [9] Zum Begriff der Übung Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/M. 2009. [10] Eugen Herrigel, Zen und die Kunst des Bogenschießens, München 2010 (1948). [11] Wolfgang Vögele, Raum in der kleinsten Kapelle. Über den Maler Henri Matisse, seine ungläubige Theologie und die Ästhetik der Vereinfachung, tà katoptrizómena, Heft 121, Dezember 2019, https://theomag.de/122/wv056.htm. [12] Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, München 1986. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/126/wv060.htm |