Schach in Gelee

Bemerkungen zum Verhältnis von öffentlicher Theologie und politischer Ethik der Macht, dargestellt am Beispiel der Serie „House of Cards“ und der Tudor-Romane Hilary Mantels

Wolfgang Vögele

II.          Krise der Öffentlichen Theologie?

Öffentliche Theologie habe ich vor beinahe drei Jahrzehnten bestimmt als „die Reflexion des Wirkens und der Wirkungen des Christentums in die Öffentlichkeiten der Gesellschaft hinein; das schließt ein sowohl die Kritik und die konstruktive Mitwirkung an allen Bemühungen der Kirchen, der Christen und Christinnen, dem eigenen Öffentlichkeitsauftrag gerecht zu werden, als auch die orientierend-dialogische Partizipation an öffentlichen Debatten, die unter Bürgern und Bürgerinnen über Identität, Ziele, Aufgaben und Krisen dieser Gesellschaft geführt werden.“[6] Andere Theologen aus dem gleichen Kontext haben zu jener Zeit ähnliche Überlegungen angestellt. Gedacht war daran, den Begriff der politischen Theologie abzulösen durch ein neues Konstrukt, das den strukturellen Bedingungen einer demokratischen, pluralistisch organisierten Gesellschaft besser gerecht werde.

Dabei wurden jedoch von Anfang unterschiedliche Akzente sichtbar. Während zum Beispiel Heinrich Bedford-Strohm sich in seinen Reflexionen über den Begriff der Gerechtigkeit weiter an der Option für die Armen orientierte und in der öffentlichen Theologie die legitime Nachfolgerin der Befreiungstheologie und der kontextuellen Theologie sah, interessierte sich eine zweite Gruppe eher für Strukturen der Öffentlichkeit und unterschiedlicher politischer wie rechtlicher Diskurse. Es ist nicht unbedingt nötig, beide Akzente gegeneinander auszuspielen. Aber mir selbst lag an einem Begriff öffentlicher Theologie, der die politische Ethik des Christentums nicht nur auf die Parteinahme in bestimmten öffentlichen Fragen begrenzt sah.

Später erschien öffentliche Theologie dann als eine Art Wahlprogramm für hohe kirchliche Ämter, wobei ich mir von manchen Bischöfen gewünscht hätte, dass sie ihre oft ebenso platte wie einseitige Parteinahme mit dem Reflexionsinstrument einer öffentlichen Theologie geschärft hätten. Aber wie dem auch sei, die Inanspruchnahme als Wahlprogramm wird dem systematischen Anspruch des Projekts nicht gerecht. Versuche, die Diskussion über öffentliche Theologie weiterzuführen, haben noch nicht wirklich weitergeführt.[7] Es bleiben genügend Fragen und Themen offen.

Es folgte eine Zeit, in der sich, verglichen mit den neunziger Jahren die Bedingungen des Öffentlichen und der Demokratie verändert haben. Und das lässt fragen, inwiefern sich dieses Projekt einer öffentlichen Theologie den neuen sozialen und politischen Bedingungen anpassen lässt und wie der alte, noch nicht aufgelöste Konflikt zwischen Parteilichkeit und Strukturanalyse weiterzuführen wäre. 

1. In Deutschland hat sich die Evangelische Kirche darauf festgelegt, vor allem durch Denkschriften in öffentliche Debatten einzugreifen. Der Charakter dieser Denkschriften hat sich aber über die Jahrzehnte verändert. War die sog. Ost-Denkschrift der EKD aus dem Jahr 1965 noch durch eine überschießende visionäre politische Kraft bestimmt, welche so weit trug, die gesamte Außenpolitik der Bundesrepublik zu verändern, so kann man das von heutigen Denkschriften nicht mehr in derselben Deutlichkeit sagen. Die Dokumente erscheinen als weitschweifig und konturlos. Sie werden in der Öffentlichkeit bei weitem nicht mehr so beachtet wie damals die Ost-Denkschrift. Immer schon war man darauf aus, Gegensätze und unterschiedliche Meinungen in schwammigen oder sogar widersprüchlichen Formulierungen zu verschleiern. Mittlerweile hat der (Formel-)Konsens über Prägnanz und Kontur gesiegt. In uferlosen Differenzierungen werden keine prägnanten protestantischen Positionen mehr sichtbar. Es könnte sein, dass die Denkschriften, verfasst von paritätisch besetzten Expertenkommissionen, ebenso wie übrigens die evangelischen Akademien an ihrem eigenen Erfolg gescheitert sind. Hatten die Akademien in den fünfziger Jahren die argumentativ abgestützte, kontroverse Debatte in die politische Kultur eingebracht, so kommt den Denkschriften unbestreitbar das Verdienst zu, innerhalb von politischen Dissensen das Konsensuale, gemeinsame Positionen zu definieren. Darauf jedoch kapriziert sich im Moment beileibe nicht mehr nur der Protestantismus. Und deswegen droht die Stimme des Evangelischen in der Vielzahl von Denkschriften, Positionspapieren und Grundsatztexten anderer Organisationen, vom Wirtschaftsverband über die Gewerkschaft bis zu Lobby der Chemieindustrie unterzugehen.

Am besten wird dieser Umformungsprozess am Nationalen Ethikrat sichtbar, dessen Struktur erkennbar am Muster der Kammern der EKD orientiert ist. Gleichzeitig wird an ihm aber auch der begrenzte Einfluss auf die politische Sphäre sichtbar: Denn die Stellungnahmen des Nationalen Ethikrats werden zwar weithin öffentlich und politisch gehört, sie geraten aber, so vernünftig und klug sie sein mögen, stets in die politische Debatte hinein, die sich von der ethisch-wissenschaftlichen Debatte nochmals grundlegend unterscheidet.

2. Eine zweite Kritik bezieht sich auf die fehlende theologische Reflexion. Dieser Vorwurf gilt nicht für die EKD-Ebene der Kammern: Sie wurde ganz bewusst schon vor Jahren durch eine Kammer für Theologie ergänzt, aber es gelang nicht, dieser Kammer, die doch für die Arbeit einer Kirche zentral sein müsste, die notwendige öffentliche Bedeutung und Ausstrahlung zu verschaffen. Auf der Ebene der Landeskirchen zeigt sich fehlende theologische Reflexion zum Beispiel in der badischen Kirche, die mit einem völlig unausgegorenen und unzureichenden Papier über den Dialog mit dem Islam[8] ein Kommunikationsdesaster erlebte. Das Papier wurde von insbesondere in der zuständigen Fach-Community der Missionswissenschaften, aber auch unter liberaleren islamischen Theologen überwiegend mit Ablehnung aufgenommen. Dass das Papier in der evangelikalen Szene auf Ablehnung stieß, kann als Selbstverständlichkeit gelten. Das Scheitern dieses Papieres ist als umso schwerwiegender und schlimmer zu bewerten, als es selbstverständlich sein sollte, dass die Kirche gerade auf ihrem ureigenen Gebiet, der (interreligiösen und interkulturellen) Theologie, dem Dialog mit anderen Religionen doch über die größte Expertise verfügen sollte. Deswegen entstand in der Öffentlichkeit der verheerende Eindruck, die Kirche komme nicht einmal mehr auf ihrem eigenen Gebiet, mit den anstehenden und gesellschaftlich relevanten Problemen und Fragen zurecht.

3. Die Glaubwürdigkeit der Kirche in Stellungnahmen zu theologischen und gesellschaftspolitischen hängt von dem Vorschuss an Glaubwürdigkeit ab, den die Öffentlichkeit den Kirchen als Institution entgegenbringen. Diese jedoch hat in den letzten Jahren in beiden Konfessionen gelitten. Zeigt sich die katholische Kirche vor allem durch Konflikte über den Zölibat, die Gleichberechtigung von Frauen und den sexuellen Missbrauch von Priestern schwer beschädigt, so macht sich der Glaubwürdigkeitsverlust in der evangelischen Kirche vor allem an einer Vernachlässigung theologischer Fragestellungen und einer Hinwendung zu Marketing-Methoden fest, die à la longue für einen Verlust an Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit sorgen. Spirituelles Marketing bläst die Kirche zu einem Scheinriesen auf, unter dessen Ballonhülle sie gleichzeitig zu einem monströsen Apparat klerikaler Bürokratie erstarrt.[9]

4. In letzter Zeit ist die Kritik am politischen Handeln der Kirche gewachsen, besonders was die Flüchtlingsfrage, den Umgang mit dem Rechtsradikalismus und die Friedensfrage betrifft. Der emeritierte Zürcher Sozialethiker Johannes Fischer hat der evangelischen Kirche und ihren synodalen Organen wiederholt vorgeworfen, sie verwandele sich in ein „Gesinnungsmilieu“, deren Vertreter sich der dilemmatischen Struktur der Wirklichkeit und der Politik nicht bewusst seien. Man konstruiere vermeintlich simple und eindeutige Lösungen in ökonomischen, außenpolitischen und militärischen Fragen und beweise in der Option dafür nur die eigene, gute protestantische Gesinnung, verfehle aber gerade den ambivalenten Charakter des Politischen. Dafür beruft sich Fischer auf Dietrich Bonhoeffers Ethik sowie auf Max Webers berühmte Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

Zum einen scheint mir diese Kritik berechtigt, zumal wenn man nicht nur die Ebene der EKD, sondern auch die der Landeskirchen in Betracht zieht. Wiederum – nicht zufällig! – in Baden hat sich die Synode auf einen pazifistischen Weg festgelegt, der jenseits aller politischen Einwände und Ambivalenzen durchgepusht werden soll[10]. Die entsprechenden badischen Papiere leben von einem merkwürdigen religionspädagogischen Rationalismus, welcher die Friedensbereitschaft der Menschen auf  dem methodischen Weg einer didaktischen Gesinnungsarbeit in Richtung auf eine Friedensvision bringen soll, die in der Regel von theologischen Konnotaten völlig frei ist. Der – insbesondere badische – Pazifismus erklärt sich ganz einfach aus seiner völligen Ignoranz gegenüber dem Machtthema. Machtauseinandersetzungen, die definitorisch kennzeichnend sind für das Politische, werden einfach ignoriert und durch eine rationalistische Sozialtechnologie ersetzt, deren Methoden an Themenzentrierter Interaktion und naiver Schul- und Kindergartenpädagogik orientiert sind. In den Seminarräumen von Fachhochschulen bei der Diakonenausbildung mag sich das bewähren.  Gegenüber vergewaltigenden IS-Kämpfern, Taliban oder Terroristen erweisen sich solche Methoden in der Regel als unwirksam, auch wenn die Anhänger solcher Methoden stets betonen, man müsse es einmal ausprobieren. Politische Fragen, und das heißt Machtfragen, bleiben dabei stets ausgeblendet. Und das muss auch so sein, weil ihre Integration sämtliche Modellgebäude dieser Provenienz unweigerlich zum Einsturz bringen würden. Der alte Konsens des Nebeneinanders zwischen Pazifismus und militärischer Option wird in Baden durch eine Synode überboten, die den Kirchenmitgliedern auf dem Weg einer Mehrheitsentscheidung gleichsam eine bestimmte ethische Option verordnet. Und das ist demokratie- und entscheidungstheoretisch problematisch.

Kritisch gegenüber Fischer ist anzumerken, dass die Grenze zwischen Gesinnung und politischem Dilemma oft nicht einfach zu ziehen ist, übrigens auch nicht mit Hilfe der Unterscheidung von Max Weber. Wo hört Gesinnung auf, und wo fängt das politische Dilemma an? Aber diese Frage kann erst stellen, wer bereit ist, sich auf das Politische als einen Raum des Unwägbaren und des Austrags von Machtfragen einzulassen. 

5. Sozialethische Publikationen der letzten Zeit[11] zeigen, dass die ethische Diskussion auf die Frage hinausläuft, ob die konfessionellen Prägungen ethischer Reflexion nicht durch eine allgemeine, universale oder wenigstens ökumenische Ethik abzulösen wären. Eine solche universale Ethik würde sich an den Menschenrechten und ihrer politischen wie juristischen Implementierung orientieren. Sie wäre nicht mehr abhängig von partikularen Vorgaben, wie z.B. einer theologischen Konfession oder einer kulturellen Prägung, abhängig. Näher betrachtet, scheint auch dieser Versuch der Erweiterung der ethischen Diskussion mindestens in der Gefahr zu stehen, die machtpolitischen Implikationen der Ethik zu überspielen. Öffentliche Theologie steht m.E. näher an partikularen Bestimmungen von Ethik, die der Werteorientierung und Interessenvertretung weiterhin einen angemessenen Raum einräumen. Insofern stellt sich der Versuch einer universalen, nicht-konfessionellen Ethik zwar als interessantes Gedankenexperiment dar, aber nur als Ergänzung der Positionen öffentlicher Theologie und partikularer Ethik, nicht aber als deren Ersatz.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Öffentliche Theologie ist kein reiner Strukturbegriff politischer Ethik. Sie hat eine Geschichte, ist darum auf Veränderung und Modifikation angelegt. Sie hat sich gebildet vor der Folie der vorgeblich radikaleren, aber auch naiveren politischen Theologie. Sie wehrt ein Politikverständnis ab, das im Gefolge von Carl Schmitt nur auf die Durchsetzung von Macht und Interessen abhebt. Das aber bringt sie in die Gefahr der Selbstisolation in Gesinnungsmilieus. Die Reflexion von Elementen der Kontingenz wie der Macht bleibt unterbestimmt. Es ist also ein Begriff öffentlicher Theologie anzustreben, dessen Orientierungsleistung gerade in der Verbindung zwischen Wert- und Machtfragen besteht und darüber nicht in einen billigen, parteilichen Positionalismus (und nicht in das damit einhergehende Intrigantentum rechter, linker oder klerikaler Provenienz) abkippt. Ich bin interessiert an einem Projekt öffentlicher Theologie, deren Begriff eine bestimmte Heuristik ausbildet, Fragerichtungen vorgibt, und zwar unbeeinflusst von bestimmten Parteinahmen und Zugehörigkeitsgefühlen. Theologie geht nicht in billigen, moralisierenden Unterstützungsbekundungen auf.

Gerade deswegen sind die Serie „House of Cards“ und die Tudor-Romane Hilary Mantels von so enormer Bedeutung für die öffentliche Theologie, weil sie das, was öffentliche Theologie bisher vernachlässigt hat, zum Thema machen: Kontingenz und Machtdurchsetzung. Im Fall der Serie wird beides personalisiert, im Fall von Mantels Roman verbindet sich die Reflexion darüber umso spannender mit einem religionspolitischen Programm von erstaunlicher Aktualität. Und im Übrigen: Mantels Cromwell sympathisiert mit dem reformatorischen Protestantismus Melanchthons – in aktueller Absicht.

-> Forts.: III. Dialoge und Helden in der politischen Ethik

Anmerkungen

[6]    Wolfgang Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, Öffentliche Theologie Bd. 5, Gütersloh 1994, 421f.

[7]    Themenheft „Öffentliche Theologie“, EvTh 79, 2019, H.1 sowie Torsten Meireis, Rolf Schieder (Hg.),  Religion and Democracy. Studies in Public Theology, Baden-Baden 2017. Mir ist bewusst, dass diese wenigen Bemerkungen über öffentliche Theologie in diesem Essay die Probleme nur holzschnittartig durchmessen können. Im Kontext dieser Überlegungen dienen sie nur dazu, den ethischen Hintergrund der Beschäftigung mit den genannten ästhetischen Ausarbeitungen zu beschreiben. Die ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der öffentlichen Theologie muss einem weiteren, zu schreibenden Essay vorbehalten bleiben.

[8]    Christen und Muslime. Gesprächspapier zu einer theologischen Wegbestimmung der Evangelischen Landeskirche in Baden, Karlsruhe 2018, https://www.ekiba.de/html/media/dl.html?i=180898.

[9]    Dazu Wolfgang Vögele, Kirchenkritik. Beiträge zu Kirchentheorie, praktischer und ökumenischer Theologie, KirchenZukunft konkret 12, Münster u.a. 2019.

[10]   Dazu Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens (Lk 1,79). Ein Diskussionsbeitrag der Evangelischen Landeskirche in Baden, Karlsruhe 2013, https://www.ekiba.de/html/media/dl.html?i=95027.

[11]   Daniel Bogner, Markus Zimmermann (Hg.), Fundamente theologischer Ethik in postkonfessioneller Zeit. Beiträge zu einer Grundlagendiskussion, Studien zur theologischen Ethik 154, Basel 2019 sowie Thomas Laubach (Hg.), Studien zur theologischen Ethik 153, Basel 2019.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/127/wv061.htm
© Wolfgang Vögele, 2020