Schach in Gelee

Bemerkungen zum Verhältnis von öffentlicher Theologie und politischer Ethik der Macht, dargestellt am Beispiel der Serie „House of Cards“ und der Tudor-Romane Hilary Mantels

Wolfgang Vögele

III.       Dialoge und Helden in der politischen Ethik

Wenn man Teilen der öffentlichen Theologie vorwerfen konnte, dass sie sich vor den politischen Fragen der Gegenwart in unreflektierte Parteilichkeit und Gesinnungsethik gerettet hat, so haben die Diskussionen der politischen Ethik oder Philosophie seit 1989 eine andere Wendung genommen. Auch hier wurde verblüffend deutlich, dass der Rationalismus des Denkens an seine politischen Grenzen kam. Konnte man nach 1989 noch unbefangen annehmen, dass sich nun die Demokratie westlichen Typs global durchsetzen würde (im Schlagwort vom ‚Ende der Geschichte‘), so hat sich in den Jahrzehnten danach das Gegenteil gezeigt. Die Demokratie konnte sich nicht global durchsetzen, und sie ist gänzlich unvermutet in vielen Ländern in eine schwere Krise geraten. Diese Krisen erscheinen als Krisen der Vernunft bzw. der damit verbundenen Werte und als Krisen der Öffentlichkeiten, hervorgerufen durch die immer weitergehende Durchdringung der Gesellschaften in digitalen Kulturen. Soziale Medien und die Möglichkeit sich zu äußern haben die Medien und Foren politischer  Öffentlichkeit insgesamt verändert und mit Hilfe von demokratischen Mehrheiten Personen an die Macht gebracht, deren Willkür, Widersprüchlichkeit und Unbeholfenheit noch vor zwei Jahrzehnten jeglichen Zugang zur demokratischen Meinungsbildung versperrt hätten.

In dieser Situation haben sich politische Philosophen für zwei Optionen eingesetzt. Die einen wie zum Beispiel Jörn Rüsen haben für die pluralistische Anerkennung von Differenzen geworben, die sich aber dennoch in einem Minimalkonsens zwischen den Kulturen ausprägen müssen. Was die Religionen angeht, warb er für die Sistierung theologischer Fragen unter Konzentration auf einen humanistischen oder menschenrechtlichen Konsens, der von allen geteilt werden könne. Aus der Perspektive öffentlicher Theologie wäre zu sagen, dass viele Religionen sich ja schon auf solche dialogischen Theologien[12] eingelassen haben, manchmal so sehr (siehe das bereits vorgestellte Islam-Papier aus Baden), dass es unter Preisgabe der eigenen theologischen Identität geschah. Solches ist bei Rüsen selbstverständlich nicht gemeint. Die Kernfrage behält trotz misslungener theologischer Lösungsversuche ihre Berechtigung: Wie kann eine Gesellschaft mit den ihr inhärenten Differenzen umgehen, ohne wieder in die alten Schemata von Freund-Feind oder in die alten Exklusionen zu verfallen?

Einen anderen Weg ist der St. Gallener Philosoph Dieter Thomä gegangen[13]. Er suchte nach den Außenseitern der politischen Theorie, die er im Anschluss an Thomas Hobbes die „pueri robusti“ nannte. Sie stünden an der Schwelle, die politische Systeme von ihrer Umwelt trenne. Und gerade wegen dieser Schwellenposition sei es bei ihnen besonders wahrscheinlich, dass sie neue, originelle politische Ideen entwickelten. Ohne dass sich Thomä darüber auslässt, hat dieses Denken eine besondere Nähe zu Paul Tillichs Theologie der Grenze[14], die in der theologischen Ethik sträflicherweise für eine öffentliche Theologie noch nicht fruchtbar gemacht worden ist.

In einem Fall wird die politische Ethik vom Konsens, im anderen Fall vom Außenseitertum und seiner abweichenden Meinung befruchtet. Beide Strategien politischer Ethik sind Anschluss fähig für eine öffentliche Theologie. Beide Strategien sind sich der Ambivalenzen des politischen Prozesses sehr wohl bewusst. Gerade Thomae weiß um die Gefahr, mit der sich seine Schwellensteher durch ihr abweichendes politisches Denken bewegen.

Das führt auf die Frage nach der Durchführung und Durchsetzbarkeit der jeweiligen Konzeption politischer Ethik. Und wie im Fall der öffentlichen Theologie bin ich, was die politische Ethik angeht, davon überzeugt, dass erst durch die Verknüpfung von Werten, Vision (oder wer will: Utopie) und Orientierung mit Fragen von Durchsetzung, Macht und Implementierung die intellektuelle Reflexion auf ein Feld gerät, wo es jenseits der Konzentration auf reine Gesinnung oder reine Machtfragen, für politische Ethik und öffentliche Theologie besonders interessant wird. Es stellt sich – jenseits aller theoretischen Reflexion darüber – die Frage nach der Natur des Politischen selbst. Die historische und politische Reflexion dieser Frage ist im Gegensatz zum politischen Protestantismus nicht mit dieser merkwürdigen Machtblindheit geschlagen. Es wird sich zeigen: In ‚House of Cards‘ wird der Machterwerb zum Selbstzweck, der alle theologischen und ethischen Orientierungen beiseite wischt, während Hilary Mantel in ihren Tudor Romanen das dicke Bohren politisch-protestantischer Bretter vorführt. Das ist jetzt kein Spoiler: Thomas Cromwell wird am Ende hingerichtet, aber der Erfolg seiner politischen Bemühungen, so Mantels aktuelle Botschaft, die weit über das 16.Jahrhundert hinausreicht - er bleibt.

-> Forts.: IV. Politik in Szene und Erzählung

Anmerkungen

[12]   Vgl. dazu im Übrigen auch das berühmte Gespräch zwischen dem damaligen Kardinal Ratzinger und Jürgen Habermas in München, siehe Florian Schuller (Hg.), Dialektik der Säkularisierung, Freiburg 2005.

[13]   Dieter Thomä, Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016 sowie Wolfgang Vögele, Über Ordnungswidrigkeit, tà katoptrizómena, Heft 106, März 2017, https://theomag.de/106/wv33.htm.

[14]   Wolfgang Vögele, 106. Grenzgänge. Paul Tillichs Emigration in die Vereinigten Staaten und sein theologisches Reden über die Grenze, in: D.Schößler, M.Plathow (Hg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen. Politische, theologische und weltanschauliche Aspekte transatlantischer Beziehungen, Transatlantische Beziehungen 2, Wiesbaden 2019, 175-203.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/127/wv061.htm
© Wolfgang Vögele, 2020