Schach in Gelee

Bemerkungen zum Verhältnis von öffentlicher Theologie und politischer Ethik der Macht, dargestellt am Beispiel der Serie „House of Cards“ und der Tudor-Romane Hilary Mantels

Wolfgang Vögele

IV.         Politik in Szene und Erzählung

Es ist angemerkt worden, dass Hilary Mantels Romane über Thomas Cromwell das Genre des historisch-politischen Romans neu definiert haben. Bei näherem Nachdenken zeigt sich, ohne damit die Verdienste Mantels im Geringsten schmälern zu wollen, dass der historisch-politische Roman auf eine längere Geschichte zurückblicken kann. Ich will hier keine Theorie des politischen Romans liefern, sondern an einigen Schlaglichtern zeigen, wo nach meiner Auffassung Akzente liegen könnten, die theologisch anschlussfähig sind.

Beide hier zu behandelnden Erzählungen konzentrieren sich auf eine Person, „House of Cards“ auf den (späteren und fiktiven) amerikanischen Präsidenten Francis Underwood, die Tudor-Romane auf den Lordsiegelbewahrer Heinrichs VIII., Thomas Cromwell. Wobei bei „House of Cards“ zu bemerken wäre, dass im Grunde nicht die Geschichte eines einzelnen, sondern die Geschichte eines Ehepaares erzählt wird, aber richtig wichtig wird Claire Underwood erst, als ihr Mann gestorben ist und sie selbst das Präsidentenamt übernimmt. Trotzdem bleibt das alte Schema bestehen, auch in der Figur Claire Underwoods: der einzelne Machthaber (oder die Machthaberin) gegen den Rest der Welt.

Davon setzt sich ein politischer Roman ab, der im Gegensatz dazu geradezu als soziologischer Roman bezeichnet werden könnte, nämlich Leo Tolstojs „Krieg und Frieden“[15]. Der Schriftsteller zeigt ein ganzes Panorama von Figuren sämtlicher Gesellschaftsschichten, deren ganz unterschiedliche psychologische und soziale Reaktionen auf Napoleons Russlandfeldzug beschrieben werden. Auf überzeugende Weise sind in die Erzählung philosophische und ethische Passagen eingestreut, über die sich Thomas Mann schon – zu Unrecht – mokiert hat. Tolstoj gelang mit diesem Roman etwas, was den Individualismus und Subjektivismus des 19.Jahrhunderts überbieten konnte. In seinem dritten großen Roman „Auferstehung“[16] zeigte er aber auch, wie man mit einem solchen Roman scheitern konnte, denn über dem Panorama des russischen Rechtswesens und des Justizvollzugssystems geht die narrative Schlüssigkeit verloren, man hat oft den Eindruck, eine Art Sozialreportage über das russische Justizwesen zu lesen.

Thomas Manns Josef-Tetralogie[17] reicht weit über den politischen Bereich hinaus, indem sie sich ausführlich Zeit nimmt für Theologie, geschichtsphilosophische Theorien, aber Josef, der von seinen Brüdern verraten wurde, steigt ausgerechnet im feindlichen Ägypten zum obersten Minister auf, was eine ähnliche Konstellation ergibt wie bei Thomas Cromwell, der zwar zu großer politischer Macht gelangte, aber wie Joseph dem Pharao stets der Willkür und politischen Unklugheit seines Königs ausgeliefert war und letztlich auch daran scheiterte. Josef scheiterte nicht, er erhielt am Ende der Erzählung den Segen Gottes und kehrte in seine Heimat zurück. Die biblischen Autoren sollten sich erst nach der Vätergeschichte an einer Königskritik abarbeiten.

Im Vergleich zu Thomas Mann sind die Romane Heinrich Manns stets unterschätzt worden. Damit tut man jedoch seinen beiden Hauptwerken, der „Jugend“ und der „Reifezeit“ des Königs Henri Quatre.[18] Hier handelt es sich um einen genuin historisch-politischen Roman, der in seinen stärksten Passagen transparent wird für die politische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die Heinrich Mann als Exilant während seiner Arbeit an diesem Roman erlebte. Das Werk ist geprägt von einem großen Lob für die deutsch-französische Freundschaft: Die „Moralités“, die jeweils am Ende der großen Kapitel stehen, sind bewusst in französischer Sprache verfasst. Schon der Ausdruck „Moralité“ deutet auf politische Ethik und das bedeutende Genre der Fürstenspiegel, welches sich mit der Frage beschäftigte, wie ein guter Fürst psychologisch, politisch und philosophisch angemessen seine Geschäfte zu führen habe. Heinrich IV. besprach seine Politik mehrfach mit dem Philosophen Montaigne, und Heinrich Mann nimmt das in seinen Romanen auf. Der französische König wechselte aus Machtgründen zwischen den reformierten Hugenotten und der katholischen Kirche, und gerade das zeichnet ihn nach Heinrich Mann aus, dass er verstanden hat, mit einem unbedingten, unbeugsamen Wahrheitsanspruch an politisch nicht überwindbaren Grenzen zu zerschellen. Um der Politik und der Macht willen geht Heinrich eine Reihe von Kompromissen ein, die ihn die Wertschätzung seiner protestantisch-theologischen Freunde kostet: „Paris ist eine Messe wert“. Das entfremdet ihn zeitweise seinen strikten hugenottischen Freunden, das entfremdet ihn aber auch den Guises, denen er das Massaker der Bartholomäus-Nacht nachträgt. Heinrich Mann porträtiert Henri IV. als einen verständig-vernünftigen, beileibe nicht fehlerfreien Politiker, der in der Lage ist, das politisch Machbare von der Wahrheit zu unterscheiden. Und dabei – das ist vielleicht noch wichtiger an Heinrich Manns Darstellung – sieht er seine eigenen Fehler und entwickelt, angeleitet vom Philosophen Montaigne, dem er im Roman wie in der Historie begegnete, ein gesundes Misstrauen gegen sich selbst. Und bei der Lektüre spürt man, dass Heinrich Mann einem solchen Typus des Politikers zutraut, den Wiederaufbau nach Krieg und Diktatur in seiner eigenen, vom Exil bestimmten Gegenwart, zu bewerkstelligen.

Schaut man auf dieses Muster, das man zusammenfassend als Verknüpfung von Biographie, Macht und Politik sowie einer Art politischer Ethik beschreiben könnte, so kommen einem eine ganze Reihe von Romanen in den Sinn. Marguerite Yourcenars Roman „Ich zähmte die Wölfin. Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian“ (1951) ist von vornherein als ein biographischer Rückblick angelegt[19]. Der römische Kaiser Hadrian resümiert seine Regierungszeit in einem Brief an seinen Adoptiv-Enkel Marc Aurel. In die Schilderung der Ereignisse schiebt er Meditationen über philosophische Themen ein, was sich bei einem Lebensrückblick ja auch nahelegt. Bei Yourcenar wird deutlich, wie sich schon in der römischen Antike das Politische und das Private miteinander verschränken.

Auch auf einen römischen Kaiser bezieht sich John Williams in seinem Roman „Augustus“[20] (1971). Der Roman gibt sich als die fiktive Sammlung von Briefen und anderen Dokumenten, die alle aus der Regierungszeit von Augustus, dem Nachfolger Cäsars stammen. Auch hier verschränken sich die Schilderung von privaten Verhältnissen, politischen Bedingungen und vom harten Durchgreifen des Kaisers, der sich gezwungen sah, rigoros gegen eigene Verwandte vorzugehen, um die eigene Macht zu erhalten.

Bei den aufgezählten Romanen, deren Reihe selbstverständlich noch zu verlängern wäre[21], steht nicht zufällig immer ein Mann gegen den Rest der Welt – oder mindestens gegen eine Welt von Feinden, Schurken, Intriganten. Es dominieren nicht die Erfolgsgeschichten, stattdessen sind scheiternde Männer wie Cromwell, Underwood, Struensee zu sehen, die sterben, ermordet oder hingerichtet werden.

Die Fernsehserie „House of Cards“ unterscheidet sich insofern von diesen Romanen, als im Mittelpunkt ein rivalisierendes Ehepaar steht, und beide werden nicht hingerichtet: Francis und Claire Underwood. Allerdings ist davon in der ersten Staffel noch wenig zu spüren. Erst in den Folgestaffeln rückt Claire Underwood immer mehr in den Mittelpunkt der Betrachtung, bis sie in der letzten und sechsten Staffel selbst das Präsidentenamt antritt. Diese letzte Staffel ist allerdings auch die dramaturgisch problematischste des gesamten Projekts. Davon aber wird noch zu reden sein.[22]

-> Forts.: Kontingenz und Macht („House of Cards”)

Anmerkungen

[15]   Leo Tolstoj, Krieg und Frieden, übers. von Barbara Conrad, München 2010.

[16]   Ders., Tolstoj, Auferstehung, übers. von Barbara Conrad, München 2016.

[17]   Thomas Mann, Josef und seine Brüder I-III, Frankfurt/M. 2018.

[18]   Heinrich Mann, Die Jugend des Königs Henri Quatre, München 1994 (1935) sowie ders., Die Vollendung des Königs Henri Quatre, München 1994 (1938).

[19]   Marguerite Yourcenar, Ich zähmte die Wölfin. Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian, München 2006 (frz. 1951)

[20]   John Williams, Augustus, München 2016 (engl. 1971).

[21]   Zum Beispiel Per Olov Enquist, Der Besuch des Leibarztes, München Wien 2001 (schwed. 1999), der in einem historischen Roman die Geschichte des königlichen Leibarztes Struensee erzählt, der mit seinem politischen Reformprogramm scheitert. Mir kommt auch der in Deutschland weithin unterschätzte Roman von Edoardo Albinati, Die katholische Schule, München 2018 (ital. 2016) in den Sinn. Albinati hat sich ein religiöses und ein pädagogisches Thema gestellt, das aber mindestens eine politische Dimension hat, die allerdings nicht im Vordergrund steht. Dazu ausführlich Wolfgang Vögele, Nichts gelernt? Rezension von Edoardo Albinati, Die katholische Schule, Berlin 2018, in: tà katoptrizómena, Heft 118, April 2019, https://theo­mag.de/118/wv051.htm.  Interessant erscheint auch der Bestseller Roman von Francesca Melandri, Alle, außer mir, München 2018 (ital. 2017). Sie beschäftigt sich mit den Themen italienischer Faschismus, Kolonialismus, Flüchtlinge, Korruption, Rechtspopulismus. Im Mittelpunkt der literarischen Kontroverse steht die familiäre Liebe der Tochter zu ihrem Vater, der Faschist, Rassenforscher und korrupter Politiker war. Dazu kommt die Liebe der Tochter Ilaria zu einem rechtspopulistischen Parlamentsabgeordneten, der für die Freilassung eines äthiopischen Flüchtlings sorgt,  der sich als Halbbruder Ilarias erweist.

[22]   S.u. Abschnitt V,11.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/127/wv061.htm
© Wolfgang Vögele, 2020