Belichtungen

Ein Vorausblick

Wolfgang Vögele

Das ganze Leben, dieses ganze Schauen.
Leute schauen. Aber was sehen sie?

Don DeLillo

Das Verhältnis von Theologie und Fotografie ist bisher kaum bedacht worden[1], dabei hat die Theologie der Frage gemalter (oder gezeichneter) Bilder, auch der Bildtheorie zu Zeiten große Aufmerksamkeit gewidmet und sich intensiv mit dem ontologischen Status gemalter Bilder auseinandergesetzt[2]. Die Frage, ob Bilder angebetet werden dürfen, hat mit zur Spaltung des Christentums in Ost- und Westkirche beigetragen. Für die einen repräsentierte die Darstellung des Gekreuzigten oder des Auferstandenen nur den wahren Christus, während die anderen Abbild und Urbild gleichsetzten: Im Bild wurde der wahre Christus angebetet. Diese Auseinandersetzung wiederholte sich in der Kunstgeschichte mit der Frage nach dem Status der Abbildung einer Person.[3] Die Fotografie kommt zu spät als Medium der Kunst hinzu, als dass sie diese Auseinandersetzungen noch hätten erreichen können. Die Verhältnisse von Urbild und Abbild sind da schon – vermeintlich? – geklärt, und zwar im Sinne einer Nachordnung.

Theologisch wäre auch bei anderen Verknüpfungen anzusetzen. Dante Alighieri, dessen siebenhundertster Todestag in diesem Jahr begangen wird, kannte die Fotografie selbstverständlich noch nicht. Aber seine Theologie ist in ganz besonderem Maße dadurch bestimmt, dass Gott als die ursprüngliche Lichtquelle verstanden wird. Der Gott im Paradiso ist eine Sonne. Indem Gott die Welt beleuchtet, wird sie zugleich ins Leben gerufen. Je weiter Dante im letzten Teil der Divina Commedia[4] ins Zentrum des Paradieses hineingelangt, desto heller wird es; desto mehr wird er von der strahlenden Sonne Gottes geblendet, die er nicht mehr anschauen kann. In der Hölle ist es dunkel, frostig und nass; die Seelen werden als Schatten gefoltert. Im Paradies dagegen herrscht ein Übermaß an Licht, das die kirchlichen Hierarchien der Seligkeit beleuchtet, die Dante allerdings vollständig durcheinanderwirft: Die großen Theologen stehen über den korrupten Päpsten, und die vom Dichter verehrte Beatrice rückt in die Nähe der Gottesmutter Maria. Je mehr göttliches Licht auf das Paradies fällt, desto mehr verwandelt sich die Szene ins Surreale und Traumhafte. Gott ist weder Gegenstand noch Gegenüber, sondern strahlende, blendende Lichtquelle, der niemand ins Angesicht schauen kann (Ex 33,20). Diese Lichttheorie Dantes lässt sich mit guten Gründen spekulativ ins Astronomische ausweiten[5], aber sie bietet auch einen Anknüpfungspunkt für die Fotografie. Nicht umsonst haben bei der Dante-Ausstellung im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt im Jahr 2014 viele der um Werke gebetenen asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Künstler sich des Mediums der Fotografie bedient.[6] Fotografie ist Wahrnehmung der Welt im Licht, auch wenn das die Darstellung von Schatten keineswegs ausschließt. Folgt man Dantes Licht-Theologie, so könnte man Fotografie auch als lichtbezogene Wahrnehmung von Gottes Schöpfung begreifen, wobei zu Gottes Schöpfung auch ihre mutwillige Zerstörung und ihr Elend gehören würden. Das wäre des weiteren Nachdenkens wert.

Einen Moment lang will ich beim Begriff der Wahrnehmung bleiben, denn er wird hier nicht im trivialen Sinn des Zur-Kenntnis-Nehmens verstanden, sondern in einem emphatischen, besonderen Sinn. Das wird schnell deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt wie der österreichische Romancier Heimito von Doderer Schriftsteller beschrieben hat: „Denken wie der Tiger springt; schreiben wie der Bogenschütze schießt; wachsam sein und scharf sehen wie ein Raubvogel in den Lüften: das zusammen macht einen Autor.“[7] Doderer dachte beim Autor vor allem an den Romanautor, der bei seinem epischen Erzählen Struktur, Ordnung und Gleichgewichte im Auge behalten muss. Der Fotograf ähnelt nicht dem Romancier, denn Fotografien als Momentaufnahmen gleichen eher den kleinen Gattungen der Literatur, dem Aphorismus oder dem Gedicht. Trotzdem: Der Fotograf braucht wie der Schriftsteller den scharfen Blick, wobei sich das Schauen durch den Sucher vom freien Blick der Augen unterscheidet. Daneben muss der Fotograf nachdenken, anordnen, reflektieren. Und er muss den richtigen Moment abpassen. Insofern gleicht er dem Flaneur[8], der durch eine Stadt oder eine Landschaft streift und sich dabei von seinen zufälligen Beobachtungen leiten lässt, die er dann je nach Vorliebe aufschreibt, zeichnet, fotografiert.

Fotografie ist eine besondere Form der Wahrnehmung der Welt. Es lohnt sich, deren Eigenheiten und Besonderheiten zu beschreiben und den Versuch zu machen, ihnen eine theologische Deutung zu geben.

Demoskopen haben schon früh bemerkt, dass Fotografieren eine typisch evangelische Tätigkeit ist. Der Soziologe Gerhardt Schmidtchen beobachtete schon im Jahr 1973: „Rätselhaft wirkt wiederum, warum Protestanten so gern fotografieren. Sie, die mehr als die Katholiken im Bewusstsein absoluter Vergänglichkeit leben, möchten vielleicht festhalten, was sie leidenschaftlich lieben: das Bild dieser Welt. Denkbar wäre zudem ein übergeordnetes Motiv, dem Grauen der Nichtigkeit entgegenzuwirken, das totaler Weltimmanenz eigen ist.“[9] Auch in Schmidtchens Mutmaßungen über evangelische Fotografieleidenschaft zeigt sich ein verborgenes theologisches Motiv: das Festhalten und Archivieren des Vergänglichen, Momenthaften, Todgeweihten. Damit wird in die statisch-kosmische Licht-Theologie Dantes ein zeitliches Motiv eingebracht. Auch diesem Motiv wäre nachzuspüren, wenn auch zu konzedieren ist, dass Schmidtchen in den Siebzigern noch von der Existenz fester konfessioneller Milieus ausgehen konnte, was sich fünfzig Jahre später nahezu vollständig verloren hat.

Verloren hat sich fünfzig Jahre später auch jeglicher elitäre Charakter der Fotografie. Via Instagram und andere soziale Bildmedien ist die Fotografie zum Massenmedium geworden, das fast schon wieder unmodern wirkt. Die Fotografie ist durch die Digitalisierung und die Integration des Fotoapparates in das Handy schneller und unmittelbarer geworden. Das unterscheidet sie mittlerweile vom gemalten oder gezeichneten Bild, das viel an Vorbereitung, Material und Vorkenntnissen benötigt. Unmodern wirkt die Fotografie in ihrer Statik und Momenthaftigkeit gegenüber dem Film, der einfach abbildet, was dem ‚Kameramann‘ oder der ‚Kamerafrau‘ hinter dem eingeschalteten Handy auffällt. Umgekehrt heißt das: Um eine gute und verblüffende Aufnahme zu machen, muss der Fotograf sehr darauf achten, den richtigen Augenblick (theologisch gesprochen: den Kairos) abzupassen, während der filmende Handynutzer einfach draufhalten kann. Die Kosten von Material, Speicher etc. spielen keine Rolle mehr.

Aus diesen kurzen Blitzlichtern ergeben sich folgende Fragen:

  • Wie ist das Verhältnis von Fotografie und Theologie angemessen zu beschreiben?
  • Welches Verständnis von Wirklichkeit ergibt sich aus dem Medium der Fotografie?
  • Welche kreative Rolle kommt dabei den Fotografen zu?
  • Welche Werkzeuge stehen ihm dabei zur Verfügung?
  • Über welche Kategorien (Licht, Form, Raum, Zeit, Mensch) denkt er dabei nach?
  • Welcher Einfluss kommt der Verwandlung der Fotografie von einer Kunst in ein digitalisiertes Alltagsmedium zu?
  • Welche Konsequenzen ergeben sich für die Theologie aus der Entwicklung der Fotografie?

Diese Fragen sollen im längeren zweiten Teil dieses Essays beantwortet werden. Er wird in der nächsten Nummer der Zeitschrift erscheinen.

Anmerkungen

[1]    Eine Ausnahme macht der kurze Essay von Ezzelino von Wedel, Schöpfung in der Dunkelkammer, Hamburg 2020, https://www.ndr.de/kultur/epg/Schoepfung-in-der-Dunkelkammer,sendung1034852.html. Leider hat der Rundfunksender die pdf dieses Beitrags mittlerweile aus dem Netz genommen.

[2]    Dazu Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990.

[3]    Dazu Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013 sowie Wolfgang Vögele, Im Angesicht, tà katoptrizómena, H.100, 2016, http://theomag.de/100/wv24.htm.

[4]    Dante Alighieri, Commedia in deutscher Prosa, übers. von Kurt Flasch, Frankfurt 2013.

[5]    Vgl. Bruno Binggeli, Primum Mobile. Dantes Jenseitsreise und die moderne Kosmologie, Zürich 2006.

[6]    Susanne Gaensheimer, Simon Njami, Die Göttliche Komödie. Himmel, Hölle, Fegefeuer aus Sicht afrikanischer Gegenwartskünstler, Bielefeld 2014; vgl. dazu Wolfgang Vögele, Die Welt, aus dem Jenseits betrachtet. Einige Bemerkungen über Dantes Commedia, Theologie und Kunst, ta katoptrizómena, H.95, 2015, http://www.theomag.de/95/wv18.htm .

[7]    Heimito von Doderer, zit. n. Michael Maar, Die Schlange im Wolfspelz, Hamburg 2020, 366.

[8]    Dazu Wolfgang Vögele, Paname. Ein theologisches Feuilleton über Paris, zugleich Überlegungen zu einer Theologie des Flaneurs, tà katoptrizómena, Heft 120, August 2019, https://theomag.de/120/wv54.htm: Teil I: https://theomag.de/120/wv54a.htm, Teil II: https://theomag.de/120/wv54b.htm, Teil III: https://www.theomag.de/121/wv55.htm.

[9]    Gerhardt Schmidtchen, Protestanten und Katholiken. Soziologische Analyse konfessioneller Kultur, Bern München 1973, 198.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/131/wv070.htm
© Wolfgang Vögele, 2021