Das Wort sie sollen lassen stahn?

Beobachtungen zum digitalen Strukturwandel im spätklerikalen Protestantismus

Wolfgang Vögele

In memoriam Christian Polke (1980-2023) -
einseitiger Ersatz eines anregenden Gesprächs,
 das nicht mehr stattfinden konnte.

Gliederung

1. Zerfleddertes Wort Gottes
2. Copy and Paste the Bible
3. Anläufe
4. Fahrplan und Richtgeschwindigkeiten
5. Lieferketten des Protestantismus
6. Schriftfixierungen über Jahrhunderte
7. Digitalisierung der Öffentlichkeiten – Folgen für die Theologie
8. Frommes weißes Rauschen
9. Open Access für das Evangelium
10. Erbauung in Spracheinheit mit Verwaltung
11. Migräne, Memes und Meditation
12. Hominum confusione et Dei providentia

1. Zerfleddertes Wort Gottes

Der Einband ist abgegriffen, instabil geworden, er löst sich in Schichten auf; Flecken von Tee und Orangensaft sind darauf eingetrocknet haben sich darauf ausgebreitet. Den bunten Schutzumschlag, wenn es ihn denn je gab, hat der Eigentümer vor langer Zeit weggeschmissen. Das häufige Lesen hat die Rippenbünde des Buchrückens mehrfach gebrochen, das viele Aufschlagen hat das Seine beigetragen. Die Seiten des Dünndruckpapiers fühlen sich abgegriffen und schmutzig an und sehen vergilbt aus. Die Vergoldung des Buchblocks ist dabei sich aufzulösen. Eselsohren verunzieren die Ecken. Es riecht nach Altpapier und eingetrocknetem Schweiß. Das ist ein Buch, das der Besitzer und einzige Leser niemals ausleihen würde, weil sich in ihm Lese- und Lebensgeschichte verbinden. Oben ragen Dutzende von gelben Post-It-Notizzetteln heraus, sie markieren besonders wichtige Stellen. Wer das Buch aufschlägt, dem fallen zahlreiche Unterstreichungen und Markierungen ins Auge, die Unterstreichungen manchmal akkurat mit dem Lineal vorgenommen, meistens mit Bleistift frei Hand gezeichnet, gelegentlich aber auch gekrakelt mit dem Blau eines Kugelschreibers oder Filzstifts. Weitere Unterstreichungen stechen durch die transparenten Neonfarben der breiten Linien von Textmarkern hervor. Das Lesebändchen liegt beim ersten Kapitel des Propheten Jesaja. Diese Bibel ist viel gelesen worden, und sie ist immer noch in Gebrauch. Sie besitzt ihren festen Platz neben den Lieblingsplätzen des Lesers: auf dem Nachttisch, auf dem Frühstückstisch, im Rucksack oder in der Aktentasche, neben dem Sessel im Wohnzimmer. Eine solche vielgenutzte, zerlesene Bibel ist ein, ist das Symbol des Protestantismus[1], noch vor dem Kreuz, dem schwarzen Talar, der bunten Stola und der gestalteten Mitte aus Trockenblumen im Frauenkreis. Solche Bibeln werden in pietistischen Stunden, in Bibelkreisen, in den Arbeitszimmern von Pfarrern, Privatdozenten und Professoren, in der Jungschar, beim CVJM und in den Lesekreisen der Theologiestudierenden benutzt.

Der Protestantismus gilt als eine Buchreligion, in mehrerlei Sinn: historisch, kulturell, liturgisch, alltagsethisch, frömmigkeitspraktisch. Von Anfang an hat die Reformation von der Erfindung des Buchdrucks profitiert[2]. Das hervorgehobene allgemeine Priestertum schloss den Zweck ein, die Glaubenden zu eigenständigen Bibellesern zu machen, die sich ihr theologisches Urteil selbst bildeten, auf der Grundlage der Schriftlektüre. Wer in der Bibel lesen wollte, musste zunächst Lesen und Schreiben lernen, im Expertenfall auch die alten Sprachen Griechisch und Hebräisch lernen, um die Heilige Schrift im Original lesen zu können. Wer sich keine Bücher kaufen konnte, bediente sich aus öffentlichen Bibliotheken. Wer eigenständig oder in der Gruppe die Bibel las, brauchte Auslegungsmethoden. Zur Lesebildung gehörten Kenntnisse der spezifisch protestantischen Hermeneutik, die Schrift(en) und Welt zueinander in Beziehung setzte. Das fromme Lesen und das heilige Buch der Bibel verbanden alltagspraktisch und theologisch die zwei Reiche. Voraussetzung dafür war, nach dem gemeinsamen Ideal von Humanismus und Reformation, eine umfassende Bildung, die Lesen, Schreiben und Deuten umfasste. Diese Methoden befähigten nicht nur zur Bibellektüre, sondern zur umfassenden Kenntnis des europäischen Bildungskanons. Und sie befähigten zur theologischen Orientierung in der Welt. 

Zur zerlesenen Bibel gesellte sich darum eine möglichst große Bibliothek, die wiederum ein ökonomisches System von Verlagen, Buchhandlungen, Bibliotheken, Lesegesellschaften und Antiquariaten voraussetzte. Wer in der Bibel las, der bewegte nicht nur die Augen über die Zeilen, der unterstrich auch. Dafür benötigten Bibelleser Bleistifte der Stärke HB, Textmarker in transparentem Giftgrün, Füller von Pelikan, Lamy oder Kaweco, Lineale. Lesend gewonnene Erkenntnisse wollten auch aufgeschrieben werden. Dafür versorgten sich die Leser mit Papier, Blättern, Notizbüchern und DIN A6 Karteikarten. In der Moderne kamen Schreibmaschinen und kleine Tipp-Ex-Blättchen hinzu. Wer Gelesenes aufschreiben wollte, benötigte zudem die Fähigkeit, in einer lesbaren Handschrift zu schreiben. Ich kannte Pfarrer, die stenographierten Predigten, Zitate aus Büchern und Briefentwürfe in Gabelsberger.

Sola scriptura, der reformatorische Schrift- und Buchgrundsatz, galt nicht nur im privaten Bereich, beim lesenden Wachsen im Glauben, die Bibel stand und steht auch im Zentrum der theologischen Ausbildung und noch vielmehr im Zentrum des Gottesdienstes, als besonders prachtvolle, möglicherweise sogar eigenständig von Gemeindegliedern mit der Hand geschriebene Altarbibel, aus der sonntags im Gottesdienste Älteste und Lektoren die Schriftlesungen vortragen. Pfarrer oder Pfarrerin legen Perikopen aus der Kanzelbibel aus.

Man kann die Reihe der Beispiele noch verlängern, aber es ist ohne weiteres deutlich: Der Protestantismus ist in seinem Kern eine Buchreligion, die eine besondere Buch-, Lese- und Schreibkultur voraussetzt. Im Moment wird allerdings zweifelhaft, ob dieser Satz noch im Präsens formuliert werden kann. Vielleicht muss es eher heißen: In der Endzeit des Anthropozän ist der Protestantismus dabei, seinen einstmals identitätsstiftenden Charakter als Buchreligion zu verlieren. Oder er hat sie schon verloren. Der papierne Glaube[3] des Protestantismus verändert sich im Moment nachhaltig. Und die evangelischen Kirchen reagieren darauf so konsterniert und schlaff wie die alte Tante Espedee auf ihre Wahlniederlagen.

All das hängt mit der Digitalisierung zusammen.

2. Copy and Paste the Bible

In der harmlosen Deutung haben Digitalisierung und Internet dazu geführt, dass die Bibel weiter und noch viel mehr gelesen wird. Nur die Formen des Gebrauchs haben sich vervielfältigt: Wer will, kann die Bibel in mehreren Übersetzungen online lesen[4]. Wer kein Buch zur Hand nehmen will, kann sich die heilige Schrift als Hörbuch vorlesen lassen. Oder er kann platzsparend einen Ebook-Reader nutzen und selbstverständlich auch dort ohne weiteres, nur eben digital Unterstreichungen, Anmerkungen und Kommentare einfügen. Auch die hilfreiche Fachbibliothek, die für gründliche exegetische Arbeit notwendig ist, ist zu großen Teilen schon kostenlos im Internet verfügbar[5]. Umgang mit der Bibel hat sich wie der Umgang mit anderen Büchern auch, in wachsenden Teilen aus der Kohlenstoffwelt ins Digitale verlagert. Das verändert auch die traditionelle Buchkultur: Bücherregale verschwinden aus den Wohn- und Arbeitszimmern. Aus den Bibliotheken sind Medienzentralen und Aufenthaltsräume geworden. Kleinere Buchhandlungen mussten reihenweise schließen. Lesen und Bibellesen verwandeln sich zunehmend in virtuelle Vorgänge. Angebote der künstlichen Intelligenz – Beispiel ChatGPT – ersetzen subsidiär Lese- und Deutungsfähigkeiten der User. Sowieso sind aus Lesern User geworden. Demgegenüber kann man kritisch eingestellt sein.

Es geht aber in diesem Essay nicht um neokonservative Rettung der anfassbaren Buchkultur, nicht um Werbung für das darbende und gefährdete theologische Verlagswesen, auch nicht um Technikfeindschaft oder Digitalisierungskritik. Es geht mir nur darum, die Veränderungen, Gewinne und Verluste zu markieren, die die digitalen Veränderungsprozesse für die protestantische Bibelkultur nach sich ziehen, zumal – so die These – diese Buchkultur zu den Kern- und Identitätsmerkmalen des Protestantismus gehört. Europäische Buch- und protestantische Bibelkultur sind auf das Engste miteinander verflochten. Gerät das erste durch die Digitalisierung in eine Krise, ist auch das zweite davon betroffen.

Digitalisierungsprozesse reichen so weit, dass User sich in Avatare verwandeln und dann virtuelle Gottesdienste in virtuellen Räumen feiern können. Es ist zu hoffen, dass dabei weiter in der Bibel gelesen wird, spätestens beim Abendmahl, beim digitalen Genuss von Brot und Wein gewinnt der Begriff Realpräsenz nun einen Sinn, der theologisch so komplex ist, dass er intellektuell gar nicht mehr richtig aufgelöst werden kann. Dieser Strang soll hier nicht weiter verfolgt werden. Ich will fragen, welche Folgen das Verschwinden der realen Buchkultur (Bücher, Regale, Bibliotheken, Buchhandlungen, Füller, Schreibmaschinen, Fähigkeiten zum deep reading) für die theologische Identität des Protestantismus zeitigt.

3. Anläufe

Unterschiedliche Motive und Vorarbeiten haben mich zu den hier entwickelten Gedanken geführt. Zum einen ist da ein autobiographisches Motiv: Dem älter werdenden Theologen fallen die Veränderungen auf, denen die intellektuell-theologische Arbeit in den letzten Jahrzehnten unterworfen war[6]. Die ersten Examensarbeiten schrieb ich mit Hilfe von Schreibmaschine und Karteikasten, ab der Dissertation nutzte ich den Computer. Als ich studierte, gehörte ich zu denen, die das Kopiergerät belagerten. Später, in einem meiner Seminare, das ich vor wenigen Jahren hielt, hätte ich beinahe eine Studentin gebeten, den Raum zu verlassen, weil ich dachte, sie sei die ganze Zeit dabei, auf ihrem Handy zu daddeln. Dabei las sie den Vorbereitungstext als pdf auf dem kleinen Bildschirm des Smartphones. Ich bemerkte das gerade noch rechtzeitig, war aber entsetzt, wie man solch einen komplizierten Text auf solch einem kleinen Bildschirm lesen kann. Luther, Hegel und Jesaja auf derselben Ebene wie SMS, Whatsapp und Einkaufszettel? Für mich unvorstellbar.

Zum zweiten haben die Veränderungen der theologischen Kultur mich dazu geführt, so etwas wie eine Theologie der Aufmerksamkeit für alle nichttheologischen und nichtkirchlichen Bereiche der Welt zu entwickeln, um über die strukturellen Schwierigkeiten des Modells der öffentlichen Theologie hinauszukommen[7]. Im Ghetto verengter und verkürzter Wahrnehmungen können evangelische Kirche höchstens eine Sumpfblüte erleben. Ich kann mir keine Theologie mehr vorstellen, die nur eine sterile Wächterfunktion für das Wohlergehen der klerikalen Bürokratie einnimmt. Daneben ist mit Wechselwirkungen und Rückkoppelungen zwischen Welt, Theologie und Spiritualität zu rechnen: Es könnte sein, dass protestantische Spiritualität aufgrund fehlender Schnittstellen toxische Nebenwirkungen zeitigt, nicht nur im Dunkelfeld der evangelikal-autoritären Variante. Theologische Aufmerksamkeit muss neben der Bibel auch den Gegenwartsbedingungen des Protestantismus gelten, ohne dass das gleich als vorgebliche Anpassung an den Zeitgeist diskreditiert werden muss. Dazu gehören nun insbesondere die Digitalisierung[8], die Veränderungen bei der Publikation von Texten (Verlagskultur) sowie die die veränderte Rolle von Intellektuellen in der Gegenwart[9].

Zum dritten fordern die angesprochenen Veränderungen eine Veränderung der Substanz theologischen Denkens, insbesondere was das Schriftprinzip und den Grundsatz sola scriptura angeht. Im Prozess der Digitalisierung macht dem Protestantismus gerade seine Schriftgebundenheit zu schaffen. Um es auf den Punkt zu bringen: In einer bild- und filmorientierten virtuellen Welt verlieren Schrift, Lektüre und Schriftbeweis massiv an Legitimation. Der Schriftbeweis wird für die User der virtuellen Welt angesichts von fake news und anderen Phänomenen zunehmend unglaubwürdig.[10] Vertrauen in Worte geht verloren. Und das beeinflusst den Glauben, also das Vertrauen auf das Wort, nämlich die Heilige Schrift.

4. Fahrplan und Richtgeschwindigkeiten

Um zu zeigen, worauf ich hinauswill, habe ich Beobachtungen und Indizien zusammengetragen, die ich zu versuchsweisen Argumentationen und Spekulationen verknüpfe. Ich will mich nicht auf Studien und statistische Auswertungen berufen. Dieser Essay oder Denkversuch enthält vorläufige, revidierbare Überlegungen. Manchmal verzichte ich bei meinen Beispielen auf das Nennen von Namen; die Kundigen werden sowieso durchschauen, wer gemeint ist.

Das ergibt folgende Reiseroute: Nach diesen einleitenden Beobachtungen (1.-3.) und dem Fahrplan (4.) beschreibe ich zuerst den theologischen Zusammenhang zwischen Glauben, Schreiben und Lesen (5.). Ich zeige, wie diese Konstellation zwischen 1960 und 1990 funktioniert hat (6.). Dann beschreibe ich, wie die aufkommende Digitalisierung zunächst die intellektuelle Kultur mit Blick auf Theologie und Kirchen verändert hat (7.-8.). Im Anschluss werden die Auswirkungen auf den universitären, kirchlichen und den sozialmedialen Protestantismus (9.-11.) beschrieben. Schließlich deute ich in einem Fazit (12.) an, welche Konsequenzen aus Beispielen und Überlegungen zu ziehen wären.

5. Lieferketten des Protestantismus

Es gehört zu den Gemeinplätzen der Bildung, dass Martin Luther, der als Mönch und Student die Bibel noch angekettet an einen Arbeitsplatz in der Universitätsbibliothek las, das theologische Schriftprinzip gegen den korrumpierungsanfälligen katholischen Traditionalismus entwickelt hat. Zur Begründung seiner Theologie wollte er sich auf die Schrift allein berufen. Und dieses Prinzip hatte erhebliche Folgen: Luther dekonstruierte die überkommene katholische Spiritualität, die von Heiligenverehrung, Wallfahrten, Ablasshandel und Gottesdienstbesuch geprägt war, um in einem zweiten Schritt eine neue, individuellere Spiritualität zu entwickeln, die in ihrem Zentrum auf dem Lesen der Bibel beruhte. Im Gegensatz zur katholischen Praxis ist genau aus diesem Grund der protestantische Glaube nicht mehr von Bildern geprägt. Lesen, Zitieren und Auslegen biblischer Passagen wird in der Reformation zu einem Grundelement der Spiritualität, in der individuellen Praxis (Bibellese) und im Gottesdienst, in dem textbezogene Elemente des Vorlesens (Lesung, Psalmgebete etc.) und der Auslegung (Predigt) in den Vordergrund gerückt werden. Gleichzeitig mit dieser Bibelorientierung stützen sich die Reformationstheologen auf den neu entwickelten Buchdruck, der es ihnen ermöglicht, erstens Bibelübersetzungen in den Volkssprachen in die Haushalte zu bringen und zweitens die eigenen theologischen Thesen durch Flugblätter, kleine Schriften, Katechismen und Dogmatiken schnell und weit unter dem lesefreundlichen Publikum zu verbreiten. Die Allianz zwischen Medium (Buch) und Message (Bibel) wird gar nicht erst hinterfragt; sie erscheint von vornherein als selbstverständlich. Und die These von der Schriftbindung des Protestantismus gewinnt einen merkwürdigen Doppelsinn. Die evangelischen Theologen fühlen sich an die Heilige Schrift gebunden; sie wird zum Kriterium aller theologischen Aussagen. Damit zugleich geht eine Bindung an das Schriftliche einher, an das Buch der Bibel und die Bücher, die nötig sind, um sie zu verstehen, an das Medium des Buchdrucks, und die Alltagsprozesse, die nötig sind, um das theologische Nachdenken über die Lebenswelt zu kanalisieren:

  • Hören auf die Schrift oder die Predigt;
  • Lesen in der Bibel, in Katechismen und theologischer Literatur;
  • Schreiben, um die gewonnenen Erkenntnisse festzuhalten;
  • Sammeln von Bibeln und Büchern in einer Bibliothek, um theologische Erkenntnisse erinnern und bei Bedarf aktualisieren zu können.

Es entsteht ein hermeneutischer Zirkel, der sich in aller Kürze so beschreiben lässt: Die Glaubenden lesen in der Bibel oder hören Auszüge aus ihr im Gottesdienst. Der Gott der Bibel ist ein sprechender Gott; er kann nicht in Bilder gefasst werden (Goldenes Kalb). Niemand kann ihn sehen.[11] Und der Gott der Bibel ist ein schreibender Gott. Im Medium der Verbalinspiration hat er den biblischen Autoren die Feder geführt. Aus diesen Lektüreerfahrungen gewinnen die Gemeindeglieder eigenständig und trotzdem im innergemeindlichen Diskurs neue theologische Erkenntnisse, die sie im Alltag anwenden. Um diese festzuhalten und sie sich immer neu zu vergegenwärtigen, schreiben sie auf oder lesen sie in allgemeinen Zusammenfassungen des Glaubens (wie den Katechismen) nach. Wer dazu berufen ist, wird diese neu gewonnenen theologischen Deutungen in seiner Verkündigung, also in Predigten und Gebeten vor die Gemeinde bringen und sie dort verbreiten. Noch breitere Öffentlichkeit findet er in der Publikation seiner theologischen Gedanken in Flugschriften oder Büchern. Damit sollen andere Personen eigenen Glaubens in ihrer theologischen Überzeugung bestärkt, wieder andere missioniert werden.

Es ist schnell ersichtlich, dass sogar ein doppelter hermeneutischer Zirkel entsteht: Gott äußert sich vor allem schriftlich und mündlich, in Worten und via Verbalinspiration in Schriften, und darauf reagieren die Menschen der Bibel, indem sie diesen Worten Gottes im Glauben, in Denken und Handeln entsprechen oder nicht. Der zweite hermeneutische Zirkel setzt ein bei den Lesern der Bibel. Sie verstehen das heilige Buch als Wort Gottes, dem sie (sola scriptura) ausschließlich folgen. Die Aufschreiber des Wortes werden zugleich zu Hörern und Tätern des Wortes. Die Aufschreiber des Wortes gewinnen Leser, deren Glaubensüberzeugungen aus ihren biblischen Lektüren herrührt. Ihren auf diese Weise neu gewonnenen Glauben verkündigen sie anderen Menschen weiter, im mündlichen Medium der Predigt oder im schriftlichen Medium von Flugblatt, Katechismus, Essay oder Buch. Von diesem doppelten Zirkel leben noch die Wort-Gottes-Theologie (Barth et al.) des beginnenden und die hermeneutische Theologie des späten 20.Jahrhunderts (Ebeling, Jüngel, Dalferth et al.).

Spätestens mit der Reformation entsteht in dieser kulturell-religiösen Lieferkette ein komplexer hermeneutischer Zirkel von Lesen, Schreiben, Sprechen, bei dem das Buch als Medium und Inhalt vorausgesetzt wird. Nur so ergibt das Prinzip „sola scriptura“ einen theologischen Sinn. Wer es auf Inhalte reduziert, spiritualisiert das Prinzip in falscher Weise und unterschlägt die medialen Voraussetzungen. Die kulturellen Folgen dieser Neubestimmung des Schriftprinzips können gar nicht unterschätzt werden, zumal nicht, wenn diese über Jahrhunderte geltende Vorrangstellung von Schrift mit Beginn des dritten Jahrtausends durch Digitalisierungsprozesse mehr als in Frage gestellt wird.

Aus diesem Schriftprinzip in einem tieferen Sinn erklären sich aber auch die Bilderstürme der Reformatoren und die langwährende Bilderskepsis der modernen evangelischen Theologie, die erst in jüngster Zeit einer ernsthaften und nachhaltigen Beschäftigung gewichen ist. So erklärt sich aber auch die Bevorzugung der Musik durch die sprachorientierten Theologen. Johann Sebastian Bach konnte nur deshalb zum fünften Evangelisten werden, weil er in Chorälen, Kantaten und Passionen biblische, theologische und spirituelle Texte vertont hat[12]. Wohltemperiertes Klavier und Cellosuiten erscheinen demgegenüber als nicht ganz so theologisch relevant.

6. Schriftfixierungen über Jahrhunderte

Im Schatten des dogmatischen Schriftprinzips entwickelte sich über die Jahrhunderte eine Buch-, Lese- und Publikationskultur, die in ihrer erheblichen Bedeutung für die deutsche und europäische Kulturgeschichte nicht unterschätzt werden sollte. Um es ein wenig pathetisch zu sagen: Der Protestantismus knüpfte sein theologisches Schicksal an gesprochene und geschriebene Sprache.

Nicht umsonst stellte der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer[13] die zwar umstrittene, aber von ihm gut belegte These auf, die hochdeutsche Literatur sei seit dem 16.Jahrhundert durch das Pfarrhaus geprägt. Wichtige belletristische Texte hätten nur dort entstehen können. Das Pfarrhaus ist ein Forschungsgegenstand für sich, aber deutlich, entscheidend an dieser Insti­tu­tion erscheint die in ihm gepflegte Lese- und Buchkultur. Daneben war das Theologiestudium durch das vorauslaufende Erlernen der alten Sprachen geprägt. Das Theologiestudium selbst beruhte auf dem Lesen, Exzerpieren und Interpretieren von exegetischen, dogmatischen, historischen und praktischen Texten. Pfarrer richteten sich wie selbstverständlich Amtszimmer ein, die sie als riesige, oft überfüllte Bibliotheken mit Bücherregalen, Karteikästen, Tintenfässern und Wolken von Staub gestalteten. Die Predigt, also das Auslegen eines Bibeltextes, das Aufschreiben oder Memorieren war ein zentraler, nein, der zentrale Bestandteil pastoraler Arbeit[14]. Theologische Wissenschaftler legten auf ihre Publikationsliste wert, lange bevor das Prinzip „publish or perish“ die Wissenschaftscommunity bestimmte. Pfarrer veröffentlichten oft nebenher erbauliche Schriften, regional bedeutsame kirchenhistorische Broschüren, auch dogmatische oder ethische Aufsätze. Dazu kamen Sammlungen eigener Predigten, die auch gekauft und gelesen wurden, was heute so gut wie gar nicht mehr geschieht. Noch im Zeitalter der Schreibmaschine wurden theologische Dissertationen immer länger und sprengten oft die Grenze von 500 Seiten. Ausdruck dieses bibliomanen theologischen Gigantismus ist auch der berüchtigte weiße Wal, die Kirchliche Dogmatik Karl Barths[15], zwar unvollendet und dennoch in dreizehn Teilbänden über 9300 Seiten lang. Und die Bände wurden gelesen, obwohl selbst Eberhardt Jüngel über die Länge der Dogmatik seines Lehrers öffentlich geseufzt hat. Und noch im 21. Jahrhundert veröffentlichte ein Dogmatiker eine Systematische Theologie von über dreitausendvierhundert Seiten und musste sich dann die Kritik[16] gefallen lassen, er führe nur ein endlos langes Selbstgespräch. Protestantismus ruhte auf einer Schreib- und Lesekultur. Aber wer sollte das alles lesen?

Das theologische Schriftprinzip des Protestantismus beeinflusste seine Publikationskultur, die theologische wie die nichttheologische, man denke bei letzterem an alle Pfarrerssöhne und -töchter, die sich nicht der Theologie, sondern der Literatur zuwandten, gleich ob als Literaturwissenschaftler oder als Romanciers bis hin zum Pastorensohn Benjamin von Stuckrad-Barre, dessen Schlüsselroman „Noch wach“ gerade viel diskutiert wird. Daneben beeinflusste es die Vortrags- und die Diskussionskultur. Noch bis zum Ende des 20.Jahrhunderts waren die evangelischen Kirchentage durch eine feste tägliche Struktur von Bibelarbeiten und großen Vorträgen geprägt. Heute existiert beides immer noch, aber beides wurde rezeptionsästhetisch in Häppchen, Clips und Albernheiten aufgelöst, sodass die ursprünglichen Formate kaum noch erkennbar sind. Was die Diskussionskultur angeht, so leisteten die evangelischen Akademien ein halbes Jahrhundert lang sehr Bemerkenswertes bei der Entwicklung einer demokratischen, sachlich-rationalen, das Theologische nicht ausschließenden Debattenkultur[17], die aus Gründen ihres eigenen Erfolgs fast völlig zum Erliegen kam. Eine ähnliche Entwicklung macht der Evangelische Kirchentag durch, seitdem Diskussionsforen immer mehr durch Elemente von Event- und Unterhaltungskultur aufgelöst werden.

Noch in den sechziger Jahren wurden breit angelegte öffentliche Debatten über die Auferstehung Christi geführt, die theologischen Werke von Dorothee Sölle, Eberhard Jüngel oder Helmut Thielicke wurden breit rezipiert und debattiert, wie immer man inhaltlich dazu stand. Dasselbe galt für die theologischen und ethischen Äußerungen von Bischöfen wie Martin Kruse, Klaus Engelhardt und anderen. Prominente Denkschriften der Kammern der EKD erhielten enorme Aufmerksamkeit, angefangen von der Ostdenkschrift, weiter über die Demokratie- und die Friedensdenkschrift der achtziger Jahre, bis sich ab dem 21.Jahrhundert die Aufmerksamkeit, die Denkschriften entgegengebracht wurde, aufzulösen begann. Dass Texte wie das Familienpapier der EKD durch evangelikale Zündeleien künstlich am Leben gehalten wurde, widerspricht der Diagnose eines Bedeutungsverlusts nicht. Bei bestimmten Politikern, Intellektuellen und Wissenschaftlern war bekannt, dass sie sich in protestantischen Institutionen engagierten, und noch mehr, dass ihre protestantische Prägung in ihre öffentlichen Interventionen einfloss. Das galt für Carl-Friedrich und Richard von Weizsäcker, für Erhardt Eppler, Klaus Dörner und viele andere. Was sie sagten und schrieben, wurde wahrgenommen und diskutiert.

7. Digitalisierung der Öffentlichkeiten – Folgen für die Theologie

Mit dem Beginn der Digitalisierung, dem Aufkommen von Laptops und Notebooks, von Handys und Smartphones, sozialen Medien, der Blogosphäre und vielem anderen mehr verwandelte sich die Struktur der Öffentlichkeiten, in denen Kirchen und Theologen agierten, grundlegend. Die Volkskirche jener Zeit war und ist fixiert auf die bleibend hohen Kirchenaustrittszahlen, die religionssoziologisch intensiv untersucht wurden, ohne dass man Hebel und Dämme gefunden hätte, um diese Austrittswellen zu stoppen. Hinter diesem Phänomen, auf das die innerklerikalen Blicke fixiert waren, liefen jedoch ganz andere, tiefer greifende Prozesse ab, deren Einfluss auf das Bild der Kirchen in der Öffentlichkeit eigentlich viel tiefer untersucht werden müsste.

Digitalisierung veränderte tiefgreifend die Buch- und Lesekultur der Gesellschaft. Und man irrt, wenn man meint, der Protestantismus sei von dieser Entwicklung nicht betroffen. Im Gegenteil: Er ist besonders betroffen, weil sich der Protestantismus seit seinen Ursprüngen in der Reformation an diese Buch- und Lesekultur gebunden hat. Es seien hier exemplarisch einige Auswirkungen der Digitalisierung aufgezählt und in ihren Auswirkungen auf Theologie und Kirchen beschrieben. Dabei geht es um erheblich mehr als nur die überkommenen theologischen Schlagwörter gegen digitale buzz words auszutauschen.

Am Anfang sah es so aus, als sei das Internet nur ein gewaltiges Archiv von Texten, Bildern und Filmen, aus dem man sich bedienen könne wie aus einer gigantischen Bibliothek. Diese Annahme hat sich spätestens mit dem rasanten Aufstieg der sozialen Medien als Fehleinschätzung erwiesen. Das Internet ist auch Archiv von Medien, wichtiger aber ist seine Funktion als kommunikatives Medium. Richtete sich früher die Aufmerksamkeit auf die Produzenten von Texten und Bildern, so schwenkte das zuerst für eine Weile auf die Rezipienten über und löste sich dann in Aufmerksamkeit für Kommunikation auf. Die alten Gleichungen mit ihrem hierarchischen Gefälle Autor – Leser, Redner – Zuhörer, Prediger – Zuhörer, Liturg – Gottesdienstgemeinde, lösen sich auf und werden reziprok und kommunikativ.

Mit den sozialen Medien, insbesondere mit Twitter und Instagram, aber auch mit Facebook zeigt sich eine Verallgemeinerung und Erweiterung bei dem Prozess, eigene Meinungen zu äußern: Jeder User kann schreiben, was auch immer er will, selbst wenn das negative Folgen wie hate speech und hate mails zeitigt. Es zeigte sich, dass der Strom der Äußerungen nur mühsam juristisch reguliert werden kann. Kurzum: Soziale Medien vervielfachen die Möglichkeiten, die eigene Meinung zu äußern. Und wenn die Menge der Meinungsäußerungen insgesamt zunimmt, dann nimmt konsequent auch die Aufmerksamkeit für die Rolle von Kirchen und Theologie ab. Oder sie wird ersetzt durch Aufmerksamkeit für christliche Einzeläußerungen. Die Kirchen sehen sich damit konfrontiert, dass sie die Aufmerksamkeit von Rezipienten plötzlich erst herstellen müssen, bevor sie wieder gehört werden können. Im breiten Strom der öffentlichen Äußerungen gehen aber auch Qualitätskriterien verloren. Das gilt für politische, wissenschaftliche, theologische Äußerungen gleichermaßen, und der Versuch, diesem breiten Strom durch Qualitätskriterien zu kanalisieren, ist bisher noch nicht richtig erfolgreich gewesen.

Digitalisierung hat erhebliche Auswirkungen auf die Buchkultur. Viele Menschen haben ihre Bücherregale im Wohnzimmer entweder aufgelöst oder auf dem Speicher eingemottet. Wo früher das Bücherregal ein Signum intellektueller bürgerlicher Kultur war, ist es nun als Accessoire der eigenen Singularisierungsbemühungen[18] nicht mehr geeignet. Weil weniger Bücher gekauft werden, hat ein Sterben von Buchhandlungen und Antiquariaten eingesetzt,[19] und das gilt trotz der neuen Popularität von Büchern auf Tiktok.[20] Teenies stellen ihre Buchempfehlungen unter dem Hashtag #booktok ein. Aber emeritierte Pfarrer, die ins Pflegeheim ziehen und deswegen ihre theologischen Bibliotheken auflösen müssen, ernten bei den angefragten Antiquariaten nur Kopfschütteln. Theologische Literatur ist schon im Übermaß antiquarisch vorhanden und wird nicht mehr nachgefragt. An die Stelle von gedruckten Büchern treten zunehmend elektronische Lesemöglichkeiten wie das Smartphone, das Tablet oder der Ebook-Reader, auch wenn kulturkonservative Leser (auch Theologen darunter) noch so oft beteuern mögen, dass nichts über das konkrete Anfassen einer Buchseite gehe, einschließlich des gelegentlich wegen des Staubs muffigen Geruchs.

Generell besteht ein Trend, visuelle (Film, Bild) und auditive Medien (Hörbuch, Podcast) an die Stelle zu lesenden Buches zu setzen. Die medialen Unterschiede werden dabei vernachlässigt. Das Bild der Sehenswürdigkeit ersetzt die Beschreibung. Diesem Prozess sind auch die Postkarten (im Tourismus, in Museen) zum Opfer gefallen. Wer eine Veranstaltung dokumentieren will, filmt sie einfach mit, anstatt mitzuschreiben, ohne zu beachten, dass damit das Konzentrations- und Verstehensmoment des Notierens verlorengeht. Wenn alles gefilmt wird, ist es zwar dokumentiert, aber noch nicht interpretiert und verstanden. Das Konservieren auf der Festplatte ersetzt nicht das Erinnern. Auch diese Tatsache wirkt auf das Schreiben von Texten zurück. Diese werden kürzer, prägnanter und kommen schneller auf den Punkt. Langweilige umständliche Sprache (wie es in der Wissenschaft und leider in Predigten oft der Fall ist) wird als Zumutung empfunden.

Die protestantische Bücherkultur implizierte stets auch einen bestimmten antikatholischen Bilderskeptizismus, der gelegentlich und bei einigen auch in Bilderstürme ausuferte. Aber die gegenwärtige digitale Übermacht der Bilderkultur schlägt nun auf den schreibenden und schriftlichen Protestantismus zurück. Medial hat die barocke Gegenreformation einen späten Sieg errungen.

Die Zahl der Bücher und Zeitschriften verlegenden Verlage geht zurück[21]. Zeitungen und Zeitschriften verlieren allesamt erheblich an Printauflage, gewinnen aber oft mit ihren digitalen Angeboten. Das gilt nicht nur für den allgemeinen Bereich der Öffentlichkeiten, sondern auch für die Nischen des Wissenschaftlichen, der Theologie und der Kirchen. Kirchliche Verlagshäuser fielen Sparmaßnahmen zum Opfer, kirchliche Publikationen wurden eingestampft oder konzentriert. Verlagshäuser, die vordem der wissenschaftlichen Theologie große Aufmerksamkeit gewidmet hatten, bauten die entsprechenden Abteilungen bis auf kleine Restbestände ab. Wissenschaftliche Beiträge, sei es als Monographie oder als Aufsatz, werden zunehmend nur noch digital im Open-Access-Verfahren publiziert. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Theologie, die nach meiner Wahrnehmung bei diesem Wandlungsprozess gegenüber anderen Wissenschaften hinterherhinkt.

Auf die neuen Entwicklungen haben sich auch die Bibliotheken eingestellt. Aus Lese-Lagerstätten mit Karteikästen und Bücherregalen haben sie sich zu modernen sozialen Treffpunkten, dritten Orten (Ray Oldenburg) gewandelt. Aus Büchersammlungen sind Mediensammlungen geworden, die auch Möglichkeiten zum Kaffeetrinken oder zur Kommunikation bereithalten. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich halte das für eine positive Entwicklung. Wissenschaftliche Recherche findet immer weniger in der Bibliothek statt, sondern zuallererst zuhause. User recherchieren über die Bibliotheksportale im Internet. Die Bibliothek besuchen sie nur noch, wenn ein Text digital nicht zur Verfügung steht.

Digitalisierung hat in den letzten Jahrzehnten auch die Rolle von Intellektuellen verändert. Handelte es sich früher um Publizisten, Redakteure oder Verleger, die durch das Verfassen von Texten die öffentlich zu diskutierenden Themen bestimmten, so ist diese genaue Funktionsbeschreibung mit der Digitalisierung verschwommen. Sie ist in Auflösung begriffen, weil sich über die sozialen Medien jeder äußern kann und es entsprechend zufällig ist, welcher Tweet oder welcher Post große Aufmerksamkeit erhält. Die Aufmerksamkeit ist jedenfalls nicht mehr von einem Professoren- oder Bischofs- oder Oberkirchenratstitel abhängig. Und auch diese Demokratisierung ist m.E. als eine positive Entwicklung zu werten, wenn auch im Moment die Dialektik dieser Entwicklung sehr deutlich wird.

Digitalisierung verändert den Charakter des Lesens. Um eine breite Diskussion kurz zusammenzufassen: Bücher (und Zeitschriften, vor allem wissenschaftliche) förderten das genaue und vor allem vollständige Lesen im Sinne von Durcharbeiten eines Textes (deep reading). Das digitale Lesen am Bildschirm fördert das Punktuelle, das Überfliegen, die zufällige Wahrnehmung von Besonderheiten. Auch hier ist Kulturkritik unangebracht. Es ist nur zu konstatieren, dass gerade der auf das genaue Lesen und Studieren der Bibel angelegte Protestantismus unter genau diesen Veränderungen zu leiden hat. Er gilt deshalb als altbacken, weil er aus guten innertheologischen Gründen mit diesem Klischee der zerlesenen Bibel[22] behaftet ist.

Digitalisierung verändert den Charakter des Schreibens. Wie beim Lesen das deep reading mehr Verständnis als oberflächliche Lektüre ermöglicht, so scheint auch das Schreiben mit der Hand, mit Füller, Kugelschreiber oder Bleistift, dem Verständnis der eigenen Gedanken und ihrer Verschriftlichung besser zu genügen als das Schreiben am Bildschirm. Das digitale Schreiben am Bildschirm kann leichter verändert und korrigiert werden (keine umständlichen Tipp-Ex-Orgien mehr), es erleichtert das Copy and Paste, das Abschreiben und Übernehmen von Zitaten; Plagiate werden nicht nur in Dissertationen zum Problem. Trotzdem: Das Schreiben mit Tastatur am Bildschirm macht einiges einfacher. Auch dieser Essay ist mit einer Tastatur geschrieben worden.

Nur sollte die Gewinn- und Verlustrechnung aufgemacht werden. Ich will wenigstens erwähnen, dass die neuen Programme künstlicher Intelligenz wie Chat-GPT[23] das Prinzip der Autor- und Verfasserschaft in Frage stellen. Dabei aber scheint mir, dass vor allem in der kirchlichen Sphäre sozialer Medien die vorläufigen Ergebnisse überschätzt werden. Selbstverständlich ist Künstliche Intelligenz in der Lage, schlechte Predigten und Andachten zu schreiben. Das hat sie mit Pfarrerinnen, Prädikanten, Bischöfen und Oberkirchenräten gemeinsam. Künstliche Intelligenz muss dafür nur nicht so viel intellektuellen Aufwand betreiben.

Die Digitalisierung hat im Übrigen auch einen weitgehenden Rückgang von vielen Formen öffentlicher Rede mit sich gebracht. Das gilt für politische Reden, für Reden bei Wahlveranstaltungen, für die Bedeutung von Bundestagsreden. An die Stelle vieler politischer Reden sind Bürgerversammlungen mit Frage-und-Antwort-Stunden getreten. Bei den Mittagessen von Social Service Clubs sind die gehaltenen Reden erstens immer kürzer geworden und zweitens stets begleitet von oft banalen Powerpoint-Präsentationen, die die Aufmerksamkeit vom Gehörten auf das Gesehene ablenken. Die Folgen sind, dass die Fähigkeit, einer längeren Rede eines Präsidenten, eines Abgeordneten oder eben einer Pfarrerin zuzuhören, rigoros abgenommen hat. Zu erkennen ist das an der Menge derjenigen, die während eines Vortrags mit dem Handy spielen. Nun ist es zum Beispiel um das Unwesen der selbstgefälligen, überlangen Grußworte nicht schade. Aber die digital bedingte Verkürzung von Aufmerksamkeitsspannen hat eben auch Einfluss auf die Fähigkeit, einer Predigt oder einem Vortrag oder einer Vorlesung zuzuhören. In der Folge dieses Prozesses sind Predigten banaler, einfältiger und aufmerksamkeitsheischender geworden. Davon wird noch zu reden sein.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Digitalisierung zerstört nicht die Buchkultur. Aber sie hat sie erheblich verändert. Es ist zu diagnostizieren ein enormer Rückgang der sprachlichen und schriftlichen und intellektuellen Vernunft, die sich – nicht nur zu ihrem Vorteil – zunehmend auf das Visuelle verlagert. Dieses ist ein allgemeiner Prozess, der aber erhebliche theologische und praktisch-theologische Auswirkungen hat, die im klerikalen Binnenbereich mit seiner Fokussierung auf Kirchenaustrittszahlen im Moment noch sehr unterschätzt werden. Alle drei diagnostizierten Prozesse – Digitalisierung, der Rückgang intellektueller Diskurse und der Bedeutungsverlust der Theologie im Protestantismus hängen auf das engste miteinander zusammen und müssen darum gemeinsam in ihrer Verflechtung betrachtet werden.

8. Frommes weißes Rauschen

Es ist möglich, den beschriebenen Prozessen unreflektiert gegenüberzutreten und sich einfach in die Digitalisierung mit ihren neuen Möglichkeiten hineinzustürzen. Sympathischer sind mir die Theologen, die mit den neuen Öffentlichkeiten experimentieren und dabei gelegentlich ihre eigenen Erfahrungen reflektieren. Wenn im unübersichtlichen Rauschen der Öffentlichkeiten die theologischen und kirchlichen Stimmen verloren zu gehen drohen, muss umso dringlicher die Frage gestellt werden: Wie kann man Aufmerksamkeit erlangen? Und: Wie kann die protestantische Buch- und Lesekultur so modifiziert werden, dass sie mit den digitalen Herausforderungen kompatibel wird? Kirchliche Marketingstrategen haben angefangen, das Politische und das Moralische an die Stelle des Theologischen zu setzen. Für sie gilt nur noch, was Aufmerksamkeit erhält. Damit aber wird der theologische, der intellektuell anspruchsvolle Protestantismus verraten und an die Digitalisierung verkauft, auch wenn die spätklerikale Bürokratie noch so gerne darüber hinwegtäuschen will. Deren toxische Auswirkungen auf das theologische Erscheinungsbild von Kirchen sind praktisch-theologisch noch weitgehend unerforscht. Jedenfalls: Mit Popularisierung, Banalisierung und Trivialisierung ist dem Protestantismus und seinen darbenden Landeskirchen nicht geholfen. Es ist danach zu fragen, wieso sich die gegenwärtige Theologie nicht stärker in die aktuellen öffentlichen Debatten einmischt, wieso sie ihre Beratungsfunktion für die kirchlichen Apparate nicht stärker wahrnimmt. Denn ist es davon auszugehen, dass Theologie und Kirchen den Veränderungsprozessen der Öffentlichkeiten nicht einfach unterworfen sind, sondern dass sie diese Prozesse mitgestalten können.[24] Im Kirchensprech der sowieso verunsicherten klerikalen Öffentlichkeitsarbeiter heißt das so schön, man müsse „vor die Welle kommen“, und alle Leser denken dann an die eleganten Surfer, die die atlantischen Brecher abreiten, bevor sich die Wassermassen in Gischt überschlagen. Analog sollen Pfarrer und Kirchenräte mit wackeligen Youtube-Videos die über den Kirchen zusammenstürzende Welle der Digitalisierung abreiten. Aber das klappt nicht, denn solche Bilder haben ihre Grenzen.

Denn die damit mindestens drohende Verwandlung von Religion in Unterhaltung muss mindestens hinterfragt werden. Es kann nicht so sein, dass sich der intellektuelle Protestantismus unter dem Druck der Digitalisierungsprozesse in eine klerikal aufgeblasene Unterhaltungs- und Marketingagentur verwandelt. Auch viele Unternehmungen im Dunkelfeld der Evangelikalen, die genau dieser Spur folgen, kleben an dieser Entwicklung, weil sie auf den volkskirchlichen Protestantismus symbiotisch fixiert sind, trotz einer mehr oder weniger offenen Rhetorik des Spotts oder der offenen Ablehnung. Im Folgenden seien theologische Wissenschaft, kirchliche Publika­tions­gattungen, wuchernde sozialmediale Formen des Protestantismus und allgemeinreligiöse Äußerungen auf ihr Widerstandspotential gegen diese Entwicklungen befragt.

9. Open Access für das Evangelium

Der leider so früh verstorbene Sozialethiker Christian Polke, dem dieser Essay gewidmet ist, gehörte zu den Mitherausgebern einer spannenden neuen Zeitschrift, „Streit-Kultur. Zeitschrift für Theologie“[25]; sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, zwischen (allgemeiner) Öffentlichkeit und theologischer Fachwissenschaft zu vermitteln und will dafür vor allem jüngere Wissenschaftler zur Veröffentlichung anregen. Das Dilemma dieses Versuchs wird schnell deutlich, wenn man sich den letzten Artikel der Premierennummer anschaut: eine hundertzwanzig (sic!) Seiten lange Rezension der 2021 erschienenen Dogmatik von Ulrich Barth, verfasst vom emeritierten Systematiker Eilert Herms, definitiv kein Nachwuchswissenschaftler. Die Qualität dieser Rezension steht dabei überhaupt nicht in Frage, wohl aber ihr Umfang. Denn welcher Nicht-Theologe oder welche Nachwuchsforscherin, die Kurztexte von Twitter, Instagram und Facebook gewohnt sind, wird bereit sein, eine hundertzwanzig Seiten lange Rezension zu studieren, zumal die einschlägigen Rezensionsorgane der evangelischen Theologie, etwa die Theologische Literaturzeitung[26], nie und nimmer Rezensionen von einer solchen Länge annehmen würden.

Das Projekt der Zeitschrift offenbart das Dilemma der evangelischen Theologie, das sie mit anderen Kulturwissenschaften teilt. Auf der einen Seite sucht man den Kontakt zu einer breiteren Öffentlichkeit, die berühmten Gebildeten unter den Verächtern, die schon Schleiermacher interessant fand; auf der anderen produziert man Texte, die eine geradezu groteske Überdehnung der Länge konventioneller wissenschaftlicher Rezensionen darstellen. Es ist schon gesagt worden, dass Intellektuelle in vielen öffentlichen Diskursen nicht mehr so stark präsent sind, wie das im 20. Jahrhundert der Fall war. Diese Entwicklung betrifft zugleich den Protestantismus, aber auch viele andere Felder öffentlicher Debatte. Ausnahmen in der Gegenwart bilden der greise Jürgen Habermas und auf dem Feld des Protestantismus der emeritierte streitbare Münchener Theologe Friedrich-Wilhelm Graf. Beide öffentlichen Personen stehen als Beispiel für wenige andere. Trotzdem: In Karlsruhe war zum Beispiel Grafs gerade erschienene hochgerühmte Troeltsch-Biographie, im Übrigen das klassische Beispiel für einen protestantischen öffentlichen Intellektuellen zu Beginn des 20.Jahrhunderts, in keiner der wichtigen Buchhandlungen als vorrätiges Exemplar zu finden – und das trotz mehrerer befürwortender Rezensionen in großen Tageszeitungen, die auch Buchhändler dazu hätten verlocken können, den Band in ihre Verkaufsregale zu stellen.

Die andere Seite dieses Wunsches nach größerer Präsenz im öffentlichen Raum besteht im Rückzug der theologischen Publikationskultur in die Binnenwelten von Tagungen, Kongressen und Symposien, in die nur vom Fachpublikum gelesenen Fachzeitschriften mit geringer Auflage, in die Lehrbücher, die vor allem für Studierende bestimmt sind.[27] Theologische Publikationen in dieser Binnenrichtung haben ohne Zweifel ihre Berechtigung, aber sie können nur ein Moment im Strom dieser Publikationskultur darstellen. Nur auf die Binnenkultur gemünzt besteht die Gefahr der Isolation in esoterischen Fachsprachen, der Exegese, der Kirchengeschichte, der praktischen und systematischen Theologie, die nicht mehr in andere wissenschaftliche Disziplinen, nicht mehr in die Öffentlichkeit der Universitäten und nicht mehr in die allgemeine Öffentlichkeit vermittelt werden kann.

Im Binnenraum theologischer Publikation zeigen sich weitere Entwicklungen, welche die Isolationstendenzen verschärfen. Die Auflagen wissenschaftlicher Werke verringern sich. Das lässt die Preise steigen, so sehr, dass wissenschaftliche theologische Werke schon gar nicht mehr von Pfarrern in der Gemeinde erworben werden, sondern dass nur noch öffentliche und kirchliche Fachbibliotheken die finanziellen Mittel besitzen, etwa Qualifikationsschriften oder Fachmonographien zu erwerben. Christliche Verlage haben sich in den letzten Jahren aus dem Bereich der Publikation von Fachliteratur zurückgezogen.

Andere setzen auf das Prinzip des Open Access, mit dem berechtigten Argument, dass wissenschaftliche Ergebnisse, deren Projektierung mit öffentlichen Mitteln gefördert wurde, auch allgemein zugänglich sein sollte – und nicht nur denjenigen, die entweder die finanziellen Mittel oder den Zugang zu einer Fachbibliothek haben. Dieses Prinzip setzt sich langsam auch in der Evangelischen Theologie durch, wenn auch einige Verlage die Open Access Literatur, an der sie ja weniger verdienen als an einer Buchpublikation, auf ihren Webseiten sehr weit nach hinten versetzt haben. Im Vordergrund solcher Seiten stehen immer noch die zu verkaufenden, allerdings im Preis sehr teuer gewordenen Bücher.

Betrachtet man Dissertationen und Habilitationen, so haben diese ein Eigenleben entwickelt, die die Lesbarkeit des Genres erschweren. Wer jemals Gutachten für Dissertationen geschrieben oder Rezensionen über Habilitationsschriften verfasst hat, der weiß, dass die Verfasser zu Gründlichkeit, langen Kapiteln, häufigen und ausführlichen Fußnoten tendieren, aus guten Gründen selbstverständlich, nämlich in dem Wunsch, dem theologischen Kriterium der umfassenden und gründlichen Bearbeitung eines Themas in der Erwartung einer Prädikatsnote in jedem Fall gerecht zu werden. Aber das Bestreben, diesem Kriterium gerecht zu werden, erschwert häufig die Lesbarkeit und damit indirekt auch die Verkäuflichkeit eines solchen Werkes.

Zwei Institutionen sollen noch gewürdigt werden, die in vordigitalen Perioden für die Vermittlung zwischen Theologie und Öffentlichkeit einstanden. Die evangelischen Akademien werden ihrer einst glänzend durchgeführten Aufgabe nicht mehr gerecht, theologische Gehalte in der Öffentlichkeit zu Gehör zu bringen. Der Anteil theologischer Tagungen im Gesamtprogramm evangelischer Akademien, wenn die Landeskirchen diese nicht sowieso schon längst aufgelöst haben, ist nach meinem Eindruck drastisch zurückgegangen. Auch die entsprechenden Zeitschriften sind eingestellt worden, manchmal aus finanziellen, manchmal aus Gründen politisch-theologischer Unliebsamkeit. Auch hier ist wieder das Phänomen zu finden, dass die Prozesse im Bereich von Kulturzeitschriften und politischer Meinungsbildung parallel laufen zu den Prozessen im Bereich evangelischer Publizistik. Auch das „Kursbuch“ war lange eingestellt, bis es in verkleinerter, reduzierter Form wieder erscheint. Andere Zeitschriften sind einfach eingestellt worden. Im Bereich des Evangelischen haben die „Evangelischen Kommentare“ unter dem neuen Titel „Zeitzeichen“ überlebt. Auch von dieser Zeitschrift ein persönlicher Eindruck: Man hat in den letzten Jahren Debatten über Kirchenreformen, political correctness und Schöpfungstheologie geführt, deren polemischer wie unsachlicher Charakter dringend der redaktionellen Eingriffe bedurft hätte. Wer die aktuelle Nummer über „Klassismus“[28] liest, der staunt über Autoren, die alle argumentieren, als hätten sie das Phänomen erst erfunden oder zum ersten Mal wahrgenommen, während die gerade die evangelischen Kirchen seit zwanzig Jahren versuchen, ihre Milieusensibilität durch Studien, praktisch-theologische Übungsprogramme, demoskopische Umfragen und Tiefeninterviews zu schärfen. In dieser Hinsicht kann man nun wirklich nicht vom Milieuautismus der klerikalen Parteisoldaten und Apparatschiks sprechen, eher von einer Lagermentalität, die sich aber aus anderen Gründen speist.

10. Erbauung in Spracheinheit mit Verwaltung

Wechselt man aus den wissenschaftlichen in die kirchlichen Bereiche, wobei beide im Medium der praktischen Theologie miteinander verknüpft sind, so fällt auf, dass sich im Kontext kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit die formalen Gattungen beträchtlich vervielfältigt haben. Die frühere, zentristische Vormachtstellung der Predigten hat sich aufgelöst und ist an die Stelle eines bunten, heterogenen Straußes kirchlicher Äußerungsformen getreten. Einige, nicht alle, sollen im Folgenden betrachtet werden.

Die Predigt, die Rede von der Kanzel, gilt im Protestantismus noch immer als die Königsdisziplin evangelischer Rede, auch wenn ihr in den letzten Jahren kommunikativere Formen des homiletischen Dialogs an die Seite gestellt worden sind. Praktische Theologen, welche die Abschaffung der in ihrer Sicht autoritären Predigt, von oben herab, fordern, sind allerdings – noch – selten. Auf die Abfassung von Predigten hat die Digitalisierung in analoger Weise erheblichen Einfluss genommen. Früher wurden Predigthilfen (Göttinger Predigtmeditationen, Predigtstudien, Lesepredigten und andere mehr)[29] gedruckt; Pfarrer hatten in der Regel mindestens eine dieser Reihen abonniert. Heute existieren diese gedruckten Predigthilfen zwar noch, aber neben sie sind digitale Predigtangebote getreten (Göttinger Predigten im Internet, Heidelberger Predigtforum und andere)[30]. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer stellen ihre Predigten vor oder nach dem wöchentlichen Gottesdienst auf die Webseite der Gemeinde, auf das eigene Blog oder in eine Gesprächsgruppe bei Facebook. In solchen sozialmedialen Predigtdiskussionsgruppen werden Predigten oder Passagen daraus intensiv diskutiert, Ideen und Durchführungsmöglichkeiten ausgetauscht. Wer nicht auf solche institutionalisierten Angebote zurückgreifen will, kann einfach die Bibelstelle samt dem Begriff Predigt in eine Suchmaschine eingeben. Er findet dann in der Regel ein Überangebot an Predigten, viel mehr, als er zur Vorbereitung jemals braucht. Im Vergleich dazu wirkt die Kritik älterer praktischer Theologen, kein Pfarrer dürfe seine Predigten ‚abschreiben‘, vergleichsweise altbacken. Ob man so weit gehen kann, von „liquider Predigtkultur“ zu sprechen, wie es jüngere Theologinnen tun, wage ich allerdings zu bezweifeln.[31]

Zuletzt ist noch zu bemerken, dass nach meiner Beobachtung die Bedeutung des mündlichen Vortrags der Predigt durch die Digitalisierung eher zugenommen hat, während es nicht mehr so wichtig ist, die eigenen Predigten auch schriftlich zu sammeln oder zu publizieren. Im Übrigen: Das, was für Predigten gilt, gilt auch für andere erbauliche Genres, Kalender- und Radioandachten.[32]

Während die gedruckten, etablierten Predigthilfen Wert darauf legten, nur meditative Vorbereitungstexte anzubieten, findet man im Internet in der Regel fertig ausformulierte Predigten. Es steht den Rezipienten frei, die ganze Predigt oder Teile daraus zu übernehmen oder die ausformulierte Predigt nur als Anregung für eigene Ideen zu nutzen. Es fällt auf, dass ausgerechnet bei dem Predigtforum, das durch Kirchensteuermittel finanziert wird, ein vorheriges „Zwangscoaching“ zur Bedingung gemacht wird, um überhaupt eine Predigt einstellen zu können. So genannte Predigtcoaches kritisieren und ‚verbessern‘ die vorher zur Einstellung eingereichten Predigten und unterwerfen sie einem simplen Modell banaler Regeln, das sprachliche Flüssigkeit und Orientierung an den Hörern verbessern soll, in Wahrheit aber nur homiletischen Kitsch erzeugt.[33] Elegante, schöne Sprache lässt sich eben nicht durch die sklavische Beachtung von Regeln erzeugen. Die so genannten „Coaches“ verbessern nicht die Predigten, sondern machen nur Werbung für das eigene homiletische Modell, dessen theologische Gesetzlichkeit (im schlechten Sinne) auf der Hand liegt. Es ist wichtig festzuhalten, dass es sich dabei nicht um eine Digitalisierungsfolge handelt. Dasselbe, unzureichende Modell wäre auch unter den Bedingungen der Schriftlichkeit denkbar.

Liest man in den Predigten, die im Internet kursieren, so fällt auf, dass die alte Balance zwischen Hörer- und Textorientierung oft zuungunsten der Bibel preisgegeben wird. Es ist zur Marotte geworden, Predigten nicht mehr als Fließtext, sondern im Flattersatz bzw. wie eine Art Gedicht wiederzugeben. Viele moderne Predigten scheuen Argumente wie der Teufel das Weihwasser. Oder in der Facebook-Sprache: Kein Prediger will „den Erklärbär“ machen. Stattdessen werden gedichtartig Gefühle modelliert, die zusammenfließen zu einer Mischung aus Kitsch, Banalität und Harmlosigkeit, unter Vermeidung substantieller theologischer Aussagen. Diese homiletische Grundkonstellation erklärt sich aus dem Versuch, unter allen Umständen zu vermeiden, dass die Zuhörer abgeschreckt, verprellt oder verstört werden. Die unterschwellige Angst vor weiteren Kirchenaustritten im Hintergrund befeuert so das homiletische und theologische Modell, das solchen Predigten zugrunde liegt. Im Ergebnis ist die homiletische Balance zwischen Hörer und Text nachhaltig gestört. Hier tun sich also kirchlich Problemkonstellationen auf, die dringend bearbeitet werden müssten.

Predigten sollen Glauben, Bibel und Bekenntnisse aktualisieren. Die Kirchen sind allerdings im Gefolge der Digitalisierung dabei, ihr Verhältnis zur Vergangenheit und ihr Verhältnis zur Zukunft zu verlieren. Was bedeutet das? Schaut man sich die Webseiten evangelischer Landeskirchen an, wie auf den Frontpages die angeblich aktuellen Themen der Kirche breit ausgestellt werden (Synodenbeschlüsse, Friedensdeklarationen, Einsatz für Bewahrung der Schöpfung, Erklärung gegen Rassismus), muss man nach den Grundlagen des Glaubens (Bibel und Bekenntnisse) lange und tief in den Subseiten dieser Webseiten suchen, bis man fündig wird. Hielten die Grundordnungen von Landeskirchen noch die Bekenntnisse in ihren Vorsprüchen fest, so werden sie nun verschämt in digitale Abstellkammern gepackt, weil zu ihrem Verständnis eine – zugegeben – aufwendige Hermeneutik nötig wäre, die eben nicht eingängig und schnell die Menschen unmittelbar überzeugt, sondern eine gewisse Denk- und Glaubensarbeit benötigt. Diese aber will man den Usern, Hörern und Zusehern nicht zumuten, aus den erwähnten Gründen. Insofern ist virtuell das Verhältnis der Landeskirchen zu ihren eigenen Grundlagen der Vergangenheit gestört.

Ähnliches gilt für das Verhältnis zur Zukunft. Alle Landeskirchen haben ausführliche Reformprogramme aufgelegt, die in der Sprache der Betriebswirtschaft oder ihrer Ableger Organisationsveränderungen, Sparmaßnahmen, Mittelkürzungen, Personalabbau auf den Weg bringen sollen. Der simple Planungskonstruktivismus der meisten dieser Programme verblüfft. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, man könne die Wirklichkeit, insbesondere die Zukunft durch simple Planerfüllungsprogramme nach den eigenen Wünschen gestalten, wo doch jeder Politiker weiß, dass das Vorhandensein von ausführlichen und detailgenauen Plänen keineswegs dafür sorgt, dass die Pläne auch Wirklichkeit werden. Internet und Digitalisierung haben dafür gesorgt, dass solche Pläne in großer Fülle kursieren, in Ausschüssen und Unterausschüssen diskutiert werden – und im Grunde doch nur wenig weiterführen, es sei denn, man orientiert kirchliches Reformhandeln ausschließlich an Vorgaben finanzieller Kürzung.[34]

Digitalisierung hat dafür gesorgt, dass kirchliches Sprachhandeln auf Aktualität ausgerichtet ist, während die Dimensionen der Vergewisserung über die eigenen evangelischen Grundlagen und die Reformplanung der Zukunft entweder in den Hintergrund treten oder auf eine Weise betrieben werden, bei der es eher um das Hinstellen von großen Plänen als um deren Verwirklichung geht.

Der durch die Digitalisierung ausgelöste Aktualisierungszwang zeigt sich neben anderem auch an den Denkschriften der EKD. Mit guten Gründen bemühte man sich jahrzehntelang in Denkschriften um die substantielle theologische und interdisziplinäre Bearbeitung politischer, ethischer und kirchlicher Fragen – jenseits der Tagesaktualität. Schon der komplizierte Beratungsprozess der Kammern sorgte für zeitliche Verzögerungen, die ein schnelles Reagieren auf aktuelle Fragen verhinderten.[35] Leider verwandelte sich im Laufe der Jahrzehnte diese Gründlichkeit in Ausgewogenheit, sodass man oft über die Feststellung von Richtigkeiten und das Abschleifen theologischer Profilierungen nicht groß hinauskam. Wenn nötig, nahm man dafür auch Selbstwidersprüche in Kauf. Deswegen hat man neuerdings das Kammersystem durch ein „Netzwerk“ von Expertinnen und Experten ersetzt. Es bleibt abzuwarten, welche Folgen das zeigt. Auf den verbreiteten Optimismus der klerikal-offiziellen Seite haben Insider mit großer Skepsis reagiert. Auch diese Entwicklung ist, wie immer man sie bewerten mag, letztlich auf die Digitalisierung und den damit verbundenen Aktualitätszwang zurückzuführen. Politische Öffentlichkeit und öffentliche Meinung haben an Grundlagentexten kein Interesse mehr, deswegen leiden die Denkschriften der letzten Jahre, auch wenn ihre Qualität ausdrücklich anerkannt wird, unter Aufmerksamkeitsverlust.[36] Das Gegenwärtige ist so stark und bedrängend geworden, dass es andere Erwägungen (Grundsätzliches, Zukunftsweisendes) nicht mehr zulässt.

Ein besonderes Genre, an denen sich die Wirkung der Digitalisierung ablesen lässt, bilden die Bischofsberichte, mit denen Amtsträger halbjährlich oder jährlich ihre Synoden über die laufende Arbeit informieren. Internet und Streaming haben dafür gesorgt, dass diese Berichte nicht nur die Synode, sondern alle Kirchenmitglieder, sofern sie sich dafür interessieren, tagesaktuell zur Kenntnis nehmen können. Diese weitere Verbreitung hat dafür gesorgt, dass die Berichte sich aus schnöden statistischen Veränderungsprotokollen zu einer Mischung aus erbaulichen Reden und der Ankündigung von Reformvorhaben gewandelt haben. Die rhetorische Bischofsfunktion bei diesen Berichten hat sozusagen von Verwaltungsdirektor zu Seelsorger gewechselt. Das ist ja durchaus legitim, wenn nicht die rhetorische Vermischung von erbaulichen Banalitäten und harten Fakten gelegentlich zu einer trüben Mischung führen würde, die die notwendige kirchliche Aufklärungsfunktion solcher Berichte eher verschleiert denn unterstützt.

Ich breche hier ab. Man könnte nun weitere Genres kirchlicher Sprache auf die spürbaren Folgen der Digitalisierung untersuchen: etwa die klerikale Rechtssprache, die sich ohne Rücksicht auf das rhetorische Ausufern von Sätzen und Formulierungen sich die Gepflogenheiten von woken Sprachmoden zu eigen macht oder die vielen Broschüren, die die Landeskirchen für bestimmte Fragen (Selbstdarstellung, Kasualien etc.) erstellen. In letzteren nehmen Marketingaspekte stets die Priorität über theologische Überlegungen ein;  das Einfügen von Bildern wird intensiver diskutiert als die pastoralen Inhalte.

11. Migräne, Memes und Meditation

Theologie und kirchliche Bürokratie handeln als institutionelle Ausprägungen des Protestantismus und reagieren als solche in den durch die Digitalisierung neu geschaffenen öffentlichen Räumen. Daneben haben sich aber in den sozialen Medien auch Räume gebildet, die von Einzelnen bespielt werden und mittlerweile so bedeutend geworden sind, dass sie das Gesamtbild der evangelischen Kirchen beeinflussen.

Manchmal sind diese Sphären auch miteinander verknüpft. Unter den Theologen sind leider kaum Blogger oder Facebook-User zu finden. Jedoch war es früher kaum denkbar, dass der Präses einer EKD-Synode etwas anderes getan hätte als seiner Aufgabe zu genügen, nämlich Vorbereitung, Leitung und Durchführung von Synodalsitzungen zu gewährleisten. Die gegenwärtige Inhaberin des Amtes nutzt nun dieses, um mit Hilfe der sozialen Medien in erheblicher Weise theologischen und kirchenpolitischen Einfluss zu nehmen. Das ist selbstverständlich legitim, aber trotzdem stellt sich bei ihren inhaltlichen Einlassungen die Frage, inwiefern diese überhaupt von theologischen Hintergrundüberlegungen bestimmt sind. Damit sorgt die Digitalisierung dafür, dass alte kirchenpolitische Gefügeformationen (Rat der EKD, Bischöfe, Bischofskonferenzen, Synodalentscheidungen) aufgeweicht und durch neue Formationen ersetzt werden, die ihre Legitimität aus Aufmerksamkeit und nicht aus Funktionserwartungen beziehen. Die alte Formel lautete: Für die Kirche spricht, wer das Amt hat. Die neue Formel lautet: Für die Kirche spricht, wer die Aufmerksamkeit besitzt. Die Qualität kirchlicher Äußerungen sollte sich allerdings an ihrer theologischen Qualität, nicht an der klerikalen Ämterhierarchie oder öffentlicher Aufmerksamkeit bemessen.

Mit den neuen sozialen Medien haben sich Fenster geöffnet, die auch Protestanten, Theologen, Ehrenamtliche und Synodale nutzen. Ich will drei Gattungen ansprechen: Blogs, Facebook und Instagram.

Was Blogs angeht, so hat sich der Hype aus den Nullerjahren mittlerweile wieder gelegt. Viele Blogger haben ihre öffentlichen theologischen Tagebücher aufgegeben oder posten nicht mehr weiter. Im Gegensatz zum katholischen Bereich haben sich viele evangelische Christen nach meiner Beobachtung gar nicht richtig auf das Medium eingelassen, es führte im Protestantismus stets ein Schattendasein. Die Vernetzung innerhalb der protestantischen Blogosphäre war und ist minimal. Blogs, die dennoch existierten, präsentierten Texte (und in der Regel keine Bilder) und agierten deshalb sehr nahe entlang der alten protestantischen Schriftfreundlichkeit. Wenn also solche Plattformen genutzt wurden, dann eher zur Verbreitung von Texten als zur Kommunikation mit den Lesern. Wie das schriftliche Tagebuch ist das digitale Blog ein sehr volatiles Medium, von dem die Betreiber auf ganz unterschiedliche Weise Gebrauch machen können. Dass es sich im protestantischen Bereich nie richtig durchsetzen konnte, bleibt erklärungsbedürftig.

Auf Facebook, so meine Beobachtung, haben sich nach einer Anlaufzeit viel mehr evangelische Christen eingelassen. Es bildeten sich, wie erwähnt, Gruppen zur Diskussion von Predigten, Gottesdienst und Liturgie und ersetzten damit den dringend notwendigen innerprofessionellen Austausch, den Pfarrkonvente und Bezirksbesprechungen nicht mehr oder nur sehr schwerfällig gewährleisten konnten. Gleichzeitig ist Facebook auch ein Medium für Klatsch, Tratsch und das Verbreiten unbegründeter starker Meinungen (um es ganz vorsichtig zu formulieren). Bei mir, der ich mich an Facebook-Diskussionen in der Regel nur passiv und nicht aktiv beteilige, hat das Beobachten dieses Mediums zum Desiderat einer praktisch-theologischen Rezeptionsforschung der Digitalisierung geführt. Denn was passiert mit Usern, die sich täglich einer Dusche moralisierenden Klatsches und klerikaler Jubelorgien aussetzen? Auch kirchliche Institutionen, diakonische, klerikale, gemeindliche, bezirkliche, alle sind präsent, alle laden zu ausschließlich wunderbaren Veranstaltungen ein, die im Nachhinein ebenso ausschließlich erfolgreich waren. Um es ernster zu formulieren: Die Aufgabe der Selbstdarstellung ist in den sozialen Medien sehr viel schwieriger geworden. Kirchliche Institutionen lösen sie nicht immer erfolgreich.

Was für Facebook gilt, gilt mit Verzögerung auch für Instagram. Dieses begann ursprünglich als reine Bilder-Plattform. Aber es ist schwierig, ausschließlich mit Bildern Theologie zu treiben oder Glauben und Spiritualität ausschließlich visuell zum Ausdruck zu bringen[37]. Das änderte sich, als viele Instagrammer damit anfingen, ihre Bilder, die bei Instagram absolute Notwendigkeit sind, mit längeren Texten zu versehen. Die Einführung von Reels (also kurzen Filmen) und Stories, die nach einem Tag wieder gelöscht werden, führte dazu, dass eine ganze Reihe von Pfarrerinnen und Pfarrern begann, die eigene Arbeit und die eigene Lebenssituation intensiv zu dokumentieren. Und sie fanden damit auch User, die diese Stories regelmäßig verfolgten. Diese Stories setzen ganz unterschiedliche Schwerpunkte, manche eher im Autobiographischen und Befindlichen, andere eher bei der Gemeindearbeit, bei sozialethischen Fragen und noch selten bei der Theologie. Es kennzeichnet diese Stories, dass sie in der Regel schnell und aktuell, ‚spontan‘ gemacht werden und genauso schnell wieder verschwinden. Bei einigen wirkt das sehr professionell, bei anderen fällt doch auf, dass der hochgehaltene Überwert des Authentischen oft eine ganze Menge von Albernheiten und emotionalen Übersteigerungen enthält, deren Kenntnisnahme man den Usern vielleicht besser erspart hätte.

Auch auf dem Podest der vorgeblichen Authentizität spielen Gesichtspunkte der Performanz eine große Rolle: All das, was angeblich so spontan und zufällig und häufig über-emotionalisiert daherkommt, ist in Wahrheit eben doch oft das Resultat von Überlegungen, wie die Vorbedingungen des gewählten Mediums am besten mit den eigenen emotionalen und moralischen Mitteilungsbedürfnissen kompatibel gemacht werden können. Zwischen dem innerprotestantischen Differenzkompensationsprinzip We agree to disagree und dem durch die sozialen Medien befeuerten Kult der Authentizität besteht eine innere Verwandtschaft, deren sicheres Indiz der inflationäre Gebrauch des Verbes ‚wertschätzen‘ darstellt. Denn wer das Wort gebraucht, zeigt damit nur an, dass er damit einer moralischen Konvention genügt, aber dass ihm für das eigentliche Schätzen des anderen keine Begründung einfällt. Wer sich wie der woke protestantische Mainstream zum Fürsprecher von Diversity, Differenzbewusstsein und schrankenlosem religiösen Pluralismus macht, der handelt sich dieselben Probleme ein, die den – vorgeblichen – Pluralismus der sozialen Medien und die Singularisierung insgesamt betreffen. Maßstäbe, Orientierungen und Werte gehen verloren. Unter dem Schutzschild von Diversity, Singularität und Authentizität könne sich auch Irrationalität, Abwegiges und Querdenkertum (im negativen Sinn des Wortes) breitmachen.

Es sei wiederholt: Authentizität kann kein hinreichendes Kriterium zur Legitimation von Veröffentlichungen sein, welcher medialen Gestalt auch immer. Niemandem soll die freie Äußerung seiner Meinung und seiner Bilder und Filme verboten werden. Aber man sollte nicht vergessen, dass die Äußerungen der anderen bei den Empfängern auch Wirkungen auslösen. Produktion und Rezeption stehen beim Schaffen von „Content“ in sozialen Medien (und nicht nur da) in einem Wechselverhältnis, das berücksichtigt werden will.

Und es fällt auf, dass Pfarrerinnen und Pfarrer in der Regel ihre berufliche Tätigkeit als Christsein definieren bzw. beides miteinander verwechseln und nicht unterscheiden. Persönliches und Professionspezifisches, Privates und Pfarramtliches werden bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermischt und im gleichen überhöhten Umfang emotionalisiert und moralisiert. Argumente, welcher Art auch immer, kommen in der Bilder- und Filmflut zu kurz. Dafür ist Instagram auch nicht gemacht, und darin lässt sich dieses digitale formspezifische Genre auch nicht beeinflussen. Wer sich auf Instagram einlässt, lässt sich auf dessen nicht nur ökonomische Bedingungen ein. Wer dort über seinen Glauben sprechen will, nennt sich dann „Sinnfluencer“[38]. Und man rettet die Schöpfung durch vegane Ernährung, grünen Konsum im Unverpackt-Laden und das Sammeln von Plastikmüll am Ufer des Baches, der das Neubaugebiet begrenzt. So richtig (und eben begrenzt) solche Aktionen als einzelne sein mögen, so wenig lösen sie das globale Problem des Klimawandels.

12. Hominum confusione et Dei providentia

Den in diesem Essay entfalteten Beobachtungen und Diagnosen ist weder mit einem rückwärtsgewandten Programm des Festhaltens am Überkommenen noch mit der Reformbegeisterung der jüngeren Theologengeneration beizukommen. Der Pfarrer am Schreibtisch, in der linken Hand die aufgeschlagene zerlesene Bibel, in der Rechten die Frankfurter Rundschau, im Regal dahinter an leicht zugänglichem Platz die Bekenntnisschriften, das Godesberger Programm und die Charta Oecumenica – das ist das vergangene und nicht wieder zu belebende nostalgische Bild melancholischer linker Theologen, die Vorlesungen bei den Schülern Karl Barths besucht haben. Es hilft aber auch nicht, die Bücher alle zum Altpapier zu bringen, die Liturgie vom Tablet abzulesen und bei Instagram täglich verwackelte Filmchen über Body Positivity unter dem Talar, vegane Ernährung, Antirassismus und die Bewahrung der Schöpfung durch Sammeln von Plastikmüll vor der Kirchentür einzustellen. Ich sehe wenigstens bei einigen jüngeren und älteren Theologen den energischen Versuch, der angesagten Verwandlung des Protestantismus und der evangelischen Kirchen entgegenzutreten. Aus der evangelischen Kirche darf keine Religion unterhaltender Spiritualität werden, eingebettet in gefühligen Kitsch und wirkungssüchtigen Moralismus, der die Verheerungen eines unverstandenen Authentizitätsideals wieder rückgängig machen soll. Kirchen unterhaltender Spiritualität schwimmen allzu wohlgefällig in den virtuellen Welten der Digitalisierung mit.

Die folgenden Punkte sollen zentrale Einsichten dieses Essays markieren.

1. Der Protestantismus ist von Beginn an, also mit der Reformation eine Allianz mit dem Buchdruck und dem daraus entwickelten Publikationswesen eingegangen. Damit ging er nicht einen schnöden Pakt mit dem Kapitalismus ein, sondern er verwirklichte eine grundlegende theologische Einsicht, die auf dem Prinzip sola scriptura beruhte, auf der Bildung der einzelnen zu theologisch verantwortlichen Subjekten, die ihren Glauben in begründeten dogmatischen wie exegetischen Einsichten zum Ausdruck bringen konnten. Dafür war es nötig zu lesen (in der Bibel), zu schreiben und zu erinnern. Dafür brauchte es Schulen, Bibliotheken, Verlage und Buchhandlungen. Der Protestantismus ist von Anfang an eine Buchreligion im tieferen Sinn des Wortes. Darum ist er in der Moderne auch besonders stark von den Prozessen der Digitalisierung betroffen. Dabei handelt es sich nicht einfach nur um eine Medienwechsel, sondern um eine Veränderung, die Folgen für die theologische Identität des Protestantismus hat. Wie diese aussehen werden, ist noch nicht völlig klar, aber Konturen zeichnen sich bereits ab. Im Moment streiten sich melancholische, alt und müde gewordene Bücherliebhaber mit Authentizitätspropheten, Sinnfluencern und den Marketingagenturen der klerikalen Bürokratien. Es ist m.E. noch nicht zu spät, auf diese theologischen und kulturellen Entwicklungen Einfluss zu nehmen.

2. Digitalisierungsprozesse lösen nicht nur Kirchenkrisen oder wenigsten ihre Neuorientierung im Angesicht des Digitalen aus. Klerikale Bürokratien täuschen sich, wenn sie meinen, mit mehr Werbung für die Kirche, etwas mehr Geschlossenheit (Identität) und dem Abbau von Doppel- und Dreifachstrukturen sei alles getan. Die kirchlichen Orientierungsschwierigkeiten angesichts des Digitalen sind eingebettet in eine Krise der Aufmerksamkeitssteuerung, eine Krise der Intellektuellen, und eine Krise der Theologie.

3. Wo es früher Hierarchien der Wahrnehmung gab, ist an deren Stelle eine Nivellierung eingetreten. Wo man früher wusste, dass man in einer bestimmten Tageszeitung, in einer bestimmten Fernsehsendung, in einer bestimmten Zeitschrift verlässliche und gut recherchierte Informationen finden konnte, kirchliche wie nicht kirchliche, sind mit der Digitalisierung viele solcher orientierenden Vorzugsentscheidungen verloren gegangen. Wichtiges kann sich weiter in einer Zeitung oder Fernsehsendung, aber eben auch in einem Tweet oder in einem Facebook-Post finden. Damit vergrößert sich für die einzelnen die Menge der zu beobachtenden Medien. Die Autorität von Journalisten und anderen Personen, die öffentliche Meinung bisher steuerten, nimmt ab. Was im Protestantismus Priestertum aller Gläubigen heißt, ist mit dem Internet ubiquitär geworden. Im Glauben sind alle in gleicher Weise Priester, mit den sozialen Medien sind die User alle in gleicher Weise zu Personen geworden, die öffentlich ihre Meinung äußern, selbstverständlich vermittelt über unterschiedliche Foren. Singularisierte Individuen benötigen keine Großgruppenidentitäten mehr (Kirche, Parteien, Gewerkschaften).

4. Der angesprochene Autoritätsverlust betrifft auch die Intellektuellen. Die Leuchtturmfiguren und poster boys des rationalen (und des theologischen) Diskurses sind verschwunden – oder schon sehr alt geworden. Weil Intellektuelle ihre Meinungen vor allem in längeren, argumentierenden Texten dargestellt haben, aber die Zeitschriften und Verlage mit der Digitalisierung in eine Krise geraten sind, fehlt es ihnen an Foren und Plattformen, um sich zu artikulieren. Eine Talkshow oder ein Kurznachrichtendienst wie Twitter (wenn das dort überhaupt möglich ist) fordern andere Formen der Intellektualität als das Schreiben eines Essays. Die so diagnostizierte Krise der intellektuellen Vernunft läuft über in eine Krise des intellektuellen Protestantismus.

5. Mit der Digitalisierung hat sich also eine Krise des intellektuellen Protestantismus etabliert, deren Auflösung noch nicht abzusehen ist. Wie die Kirche an selbstgemachten Krisen laboriert, aber auch, ohne es zu wollen, an anderen Krisen wie den erwähnten beteiligt ist, so gilt das auch für die Theologie, in mehrerlei Hinsicht. Es fehlt zum einen an Konzentrationsbewegungen auf bestimmte Themen, die sich dadurch auszeichnen, dass die gegenwärtige Situation darauf befragt wird, wo in ihr theologische Themen deutungskräftig werden. Der aktuelle Zustand ist durch das Gegenteil geprägt, nämlich durch das moralisierende Hinterherhecheln hinter den Fragen der Wokeness und des damit verbundenen Versuchs der Funktionalisierung von (theologischer) Wissenschaft. Ein Beispiel dafür bildet die in der Zeitschrift ‚Zeitzeichen‘ geführte unsägliche Diskussion über Schöpfungstheologie. Nötig wäre also eine Neubestimmung dessen, was man unter aufmerksamer Theologie[39] verstehen könnte. Zum zweiten erfüllt die Theologie nicht ihre ureigene Wächterfunktion gegenüber dem ausufernden bürokratischen Klerikalismus. Nötig wäre es, diesen vor seinen selbstreferentiellen Wucherungen zu bewahren und vor allzu einfachen Lösungen zu warnen. Wenn diese Beobachtungen richtig sind, dann wäre  – drittens – konkret nötig die theologische Reflexion des Schriftprinzips, denn mit ihm steht man nach meinem Urteil am Ursprung der protestantischen Liebesehe mit Büchern, Lese- und Schreibfähigkeit. Und es kommt – viertens – darauf an, in welchem theologischen Referenzrahmen die Veränderungen der Digitalisierung diskutiert werden. Beim Framing macht es einen Unterschied, ob man es so hinstellt, als würde eine rückwärtsgewandte, an Tinte, Federkiel, Papyrus und Handschrift orientierte Kirche sich endlich den Segnungen der modernen digitalen Welt mit Eulen, Vlogging-Kameras, Tablets, frontend und backend der eigenen Website öffnen. Es kann nicht nur darum gehen, die Endmoränen des Buchprotestantismus mit Tablets und Beamern beiseitezuschieben, damit die anschiebenden Gletscher der Digitalisierung sich weiter ausbreiten können.

6. Mit mehr Bürokratie, mehr finanziellen Kürzungen, mehr Wokeness, mehr Rechthaberei, mehr digitaler Kompetenz ist das Problem nicht beseitigt. Der Protestantismus muss sich mit der Digitalisierung auseinandersetzen. Er ist dabei mit mehreren Gefahren konfrontiert. Es genügt nicht, einfach die nötige Hard- und Software im Übermaß zur Verfügung zu stellen und dann weiterzumachen wie bisher. Der Protestantismus stand schon immer in der Gefahr, die eigene klerikale Bürokratie zur Religion innerhalb der Religion zu machen. Er steht auch in der Gefahr, die Freiheitsverheißungen des Evangeliums für billige Rechthaberei preiszugeben, sei es der Wokeness oder der Political Correctness oder der Option für eine bestimmte politische Partei. Und er steht nicht zuletzt in der Gefahr, im Medium der Singularisierung an seiner eigenen Diversität und Pluralität zugrunde zugehen. Und nicht zuletzt mischen sich im Protestantismus konservative Kräfte des Traditionellen mit progressiven, technikaffinen Kräften des Progressiven. Um es auf den Punkt zu bringen: Es wird eine neue Auseinandersetzung um protestantische Identität geführt, bei der die Konfliktgrenzen fließend zwischen Generationen, Milieus und funktionalen Gruppen verlaufen.

Vielleicht hat der Protestantismus Anteil an der großen „Müdigkeit Europas“, von der der verstorbene Philosoph George Steiner gesprochen hat. Vielleicht liegt in der Krise des Protestantismus etwas Tieferes verborgen, Konflikte, Unzulänglichkeiten, Veränderungen, die wir alle noch nicht verstanden haben. Am Ende bleibt, bei allen Versuchen zu verstehen, ein Rest von Melancholie. Ich bin der Überzeugung, dass diese Melancholie vernünftig und fromm ist. Sie hat ihr Recht zwischen all denen, die aus Predigten alberne, kitschige Gedichte machen, den Showmastern und Entertainern des Protestantismus, den polarisierenden Moralisierern und Apokalyptikern, den klerikalen Intriganten und Ordnungsfanatikern, den schwarzen Pädagogen der Spiritualität, den Theologieverweigerern, den traditionsvergessenen protestantischen Vatermördern, den Elfenbeintürmlern, die Digitalisierung und Modernisierung durch Ignorieren aufhalten wollen.

Trotzdem: Es könnte auch sein, dass die Digitalisierung uns allen die Augen öffnet und Entwicklungschancen bereithält für einen Protestantismus, der sich aus den Eierschalen des Banalen und Klerikalen befreit hat.

Wer weiß das schon?

Anmerkungen

[1]    Vgl. zu solchen Symbolen Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Ditzingen 1986.

[2]    Thomas Kaufmann, Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München 2017.

[3]    Wolfgang Vögele, Papierner Glaube? Protestantische Lesekultur inmitten der digitalen Revolution, tà katoptrizómena, Heft 119, Juni 2019, https://www.theomag.de/119/wv52.htm.

[4]    Deutsche Bibelgesellschaft, https://www.die-bibel.de/.

[5]    Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (Wibilex), https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/.

[6]    Wolfgang Vögele, Onkel Ernst und die portugiesischen Revolutionäre. Warum und in welchem Umfeld ich in den achtziger Jahren Theologie studierte, tà katoptrizómena, H. 129, Februar 2021, https://theomag.de/129/wv063.htm.

[7]    Ders., Aufmerksame Theologie. Theologische Grundentscheidungen. Zugleich eine Kritik der öffentlichen Theologie, tà katoptrizómena, H.1, Nr. 141, 2023, https://theomag.de/141/wv77.htm.

[8]    Ders., Auf dem Altar der Algorithmen. Das Heilige, das Schriftliche und das Digitale. Ein Gewebe von Notizen, tà katoptrizómena, Heft 112, April 2018, Teil I https://www.theomag.de/112/wv042.htm; Teil II https://www.theomag.de/112/wv043.htm.

[9]    Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, hg. und mit einem Nachwort versehen von G. Kandzora und Detlef Siegfried, Göttingen 2020; aus theologiehistorischer Perspektive Wolfgang Vögele, Literaturverzeichnisse, Referentenlisten und andere Netzwerke. Rezension von Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, hg. und mit einem Nachwort versehen von G. Kandzora und Detlef Siegfried, Göttingen 2020, tà katoptrizómena, H.2, Nr. 130, 2021, https://www.theomag.de/130/wv068.htm.

[10]   Vgl. dazu Vögele, a.a.O., Anm. 3 und 8 sowie ders., Nimm und lies! Lektüre, Konversion und Hermeneutik, tà katoptrizómena, H.98, 2016, https://www.theomag.de/99/wv23.htm.

[11]   Vgl. Joh 1,18: „Niemand hat Gott je gesehen.“

[12]   John Eliot Gardiner, Bach. Musik für die Himmelsburg, München 2016.

[13]   Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2002.

[14]   Schon die Tatsache, dass dieser Satz heute nicht mehr gilt, würde einen Essay über den Verfall protestantischer Lese- und Schreibkultur rechtfertigen.

[15]   Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik, Zürich 1932-1967.

[16]   Michael Welker, Jetzt rede ich: Eilert Herms‘ Theorie der Religiosität, EvTh 77, 2017, 306-312, hier 306: „Das Werk ist ein anhaltender Monolog – ohne Personenregister, ohne Bibelstellenregister – und entspricht damit nicht den Erwartungen an eine der Lehre dienende Systematische Theologie.“

[17]   Wolfgang Vögele, Öffentlichkeit in der Abgeschiedenheit. Zum theologischen Auftrag evangelischer Akademien, Informationes Theologiae Europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie 12, 2003, 149-160.

[18]   Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017.

[19]   Dass das nicht notwendig so sein muss, zeigt die Situation in Frankreich, wo die Leser weiterhin sehr große Buchhandlungen mit umfassenden Sortimenten, dazu ausführliche Rezensionen in den Zeitungen und eine Reihe sehr populärer Büchersendungen im Fernsehen vorfinden.

[20]   Vgl. dazu Sabina Paries, Das Buch im bestmöglichen Licht erscheinen lassen, FAZ 18.4.2023, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/bookstagram-warum-das-teilen-der-leseeindruecke-so-erfolgreich-ist-18827199.html.

[21]   Nur der Vollständigkeit sei vermerkt, dass dieses Aussterben nicht nur für Verlagshäuser gilt, sondern auch für die Hersteller digitaler Kameras. Auch in diesem Bereich frisst die digitale Revolution ihre Kinder: Weil die meisten User mit ihrem Smartphone eine erstaunlich leistungsfähige Kamera zur Verfügung haben, kaufen sich viele keine teure, schwere und umständlicher zu bedienende spiegellose oder Bridge-Kamera mehr.

[22]   S.o. Abschnitt 1.

[23]   Vgl. dazu Andreas Mertin, Im Gespräch mit einem KI-Bot, tà katoptrizómena, H.141, 2023, https://www.theomag.de/141/am776a.htm.

[24]   Vgl. dazu auch Thomas Schlag et al., Digitalisierung in der Kirche. Aktivitäten, Potenziale, Chancen – und was jetzt fehlt, DtPfBl 123, 2023, 203-207. In diesem Artikel werden die Ergebnisse der sog. CONTOC²-Studie vorgestellt, welche demoskopisch die Selbsteinschätzung kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angesichts der digitalen Veränderungen insbesondere nach der COVID-Pandemie abfragt. Allerdings – so ist einschränkend zu sagen – liegen die endgültigen Auswertungen dieser Studie noch nicht vor. Und demoskopisch lassen sich zwar Selbsteinschätzungen von Beteiligten erheben, diese Einschätzungen müssen allerdings nicht notwendig die realen Veränderungen abdecken. Und sie müssen nicht notwendig kompatibel sein mit den Veränderungen im Bereich von Werten, Orientierungen und Handlungsempfehlungen, die sich theologisch, sozialethisch oder soziologisch erheben.

[25]   Philipp David et al., Eröffnungseditorial, Streit-Kultur. Journal für Theologie, Nr. 1, 2023, https://streit-kultur-journal.de/ojs/index.php/skjst/article/view/1084/890. Die Website der Zeitschrift findet sich unter https://streit-kultur-journal.de/ojs/index.php/skjst.

[26]   Theologische Literaturzeitung, www.thlz.com.

[27]   Eine Ausnahme bilden zum einen die sozialethischen und theologischen Podcasts des früheren Marburger, jetzt Zürcher Theologen Thorsten Dietz (https://karte-und-gebiet.de/, zusammen mit Tobias Faix) der sich unter dem Stichwort des Post-Evangelikalen um eine Annäherung zwischen universitärer und evangelikaler Theologie bemüht, zum anderen die auf dem Forum Worthaus (www.worthaus.org) verfügbare Sammlung theologischer Vorträge. Das Worthaus-Forum verfolgt eine ähnliche theologische Ausrichtung wie Dietz in seinen Podcasts. Beide Beispiele zeigen jedoch auch gelegentlich, wie langsam und zäh die Anpassung evangelikaler Theologie an die Bedingungen der Moderne manchmal verlaufen kann.

[28]   Zeitzeichen, Bildung, Bach und Bürgertum. Die evangelische Kirche und ihr Klassismus, Mai 2023, https://zeitzeichen.net/node/10418.

[29]   Göttinger Predigtmeditationen, Göttingen 1946ff.; Predigtstudien, Stuttgart 1969ff..

[30]   Göttinger Predigten im Internet: https://www.theologie.uzh.ch/predigten/; Heidelberger Predigtforum, https://predigtforum.de/; Predigten: https://predigten.evangelisch.de/.

[31]   Sabrina Müller, Predigen im Kontext digitaler Dynamiken, Cursor, Januar 2023, https://cursor.pubpub.org/pub/q3xk9013/release/1.

[32]   Beispiele für Kalender neben den klassischen Herrnhuter Losungen, die mittlerweile auch als App (https://www.losungen.de/digital/) oder in einer Version für junge Leute erhältlich sind (https://www.losungen.de/die-losungen/ausgaben), sind die Kalender Sonne und Schild (https://www.eva-leipzig.de/product_info.php?info=p5297_Sonne-und-Schild-2023---Buchkalender.html) oder der Neukirchener Kalender (https://www.neukirchener.de/der-erziehungsverein/kalender/neukirchener-kalender), kirchenjahreszeitlich beschränkt der Kalender „Der andere Advent“ (https://www.anderezeiten.de/initiativen-publikationen/advent/der-andere-advent).

[33]   Auf der Webseite dieser Plattform heißt es: „Ein wertschätzender Blick von außen hilft, die Stärken einer Predigt zu stärken. Deswegen tauschen sich die Autor*innen von predigten.evangelisch.de während der Entstehung ihrer Predigten mit einem ausgebildeten Predigtcoach aus.“ (https://predigten.evangelisch.de/) Es ist schon sprachlicher Unsinn vom Stärken der Stärken einer Predigt zu reden. Schwächen dürfen solche Predigten offensichtlich nicht haben. Zum Klischee der Wertschätzung vgl. unten Abschnitt 10.

[34]   Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Kirchenkritik. Beiträge zu Kirchentheorie, praktischer und ökumenischer Theologie, KirchenZukunft konkret 12, Münster u.a. 2019.

[35]   Die Produktion von Denkschriften haben die Kammern auch selbstreferentiell kommentiert und eingenordet: vgl. Das rechte Wort zur rechten Zeit. Eine Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Gütersloh 2008.

[36]   Das gilt, in diesem Falle: leider auch für die Digitalisierungsdenkschrift: Freiheit digital. Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels. Eine Denkschrift der EKD, Gütersloh 2021. An dieser Denkschrift fällt auf, dass die sozialpolitischen und -ethischen Konsequenzen der Digitalisierung ohne richtige Notwendigkeit weiterhin in das überkommene Schema der Zehnzahl des Dekalogs gepresst werden. Theologisch und sozialethisch notwendig scheint das keineswegs, der Bezug auf die Zehn Gebote bleibt also rein formal.

[37]   Trotzdem theologische Überlegungen dazu: Wolfgang Vögele, Lichtblicke. Mutmaßungen über die Ontologie der Oberflächen. Reflexionen über das Verhältnis von Fotografie und Theologie, tà katoptrizómena, H.6, Nr. 134, 2021, https://www.theomag.de/134/wv074.htm.

[38]   Theologisch m.E. zu optimistische Gedanken dazu bei Sabrina Müller, Öffentliche Kommunikation christlicher Sinnfluencer:innen, PTh 111, 2022, 203-218.

[39]   Vgl. dazu meine ersten Versuche in dem unter Anm. 7 genannten Aufsatz.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/143/wv082.htm
© Wolfgang Vögele, 2023