Aufmerksame Theologie

Theologische Grundentscheidungen. Zugleich eine Kritik der öffentlichen Theologie

Wolfgang Vögele

Man möchte auf Gott ganz einfach zugehen wie ein Kind,
ohne Theologie, ohne Umstände.
Auf Seiten, die von traurigen Gedanken getrübt sind,
trotz allem sich trauen zu schreiben, dass man ihn liebt.

Julien Green

Gliederung

1. Onkel Ernst bescherte einen writer’s block
2. Sinn und Kontingenz
3. Großwetterlagen des Zeitgeistes
4. Kleinwetterlagen der Theologie
5. Theologische Kritik der öffentlichen Theologie
6. Es geht auch anders
         6.1. Differenzen und Pluralismus
         6.2. Theologie in der Nicht-Theologie
         6.3. Narrative Theologie
         6.4. Antiklerikalismus
         6.5. Antimoralismus
         6.6. Kontingenzbearbeitung
7. Anerkennungstheologie
8. Historische Sinnsuche
9. Poetische Sinnsuche
10. Rechtsphilosophische Sinnsuche
11. Aufmerksamkeit

1. Onkel Ernst bescherte einen writer’s block

Der Herausgeber dieser Zeitschrift wird sich gewundert haben, dass ich ihm den folgenden Aufsatz so oft ankündigte, aber die Lieferung wiederholt und mit zunehmend schlechtem Gewissen verschob. Wie bei wenigen anderen Essays saß ich häufiger vor dem weißen Bildschirm, der vergeblich auf schwarze Buchstaben wartete. Dabei handelte es sich um ein Thema, das mich – schon aus beruflichen Gründen – sehr beschäftigt. Eine große Zahl handschriftlicher Notizen lag neben der Tastatur, dazu verstreute Gedanken, nach Spaziergängen und Gesprächen aufgeschrieben. Aber dieses Puzzle wollte sich nicht zu einem Essay fügen. Mich wollte das Gefühl nicht loslassen, dem selbst gestellten Thema nicht zu genügen. Die Blockade schraubte sich immer weiter ins Bewusstsein ein. Man könnte diesen writer’s block nun als intellektuelle Nebenwirkung der Coronapandemie erklären, die mich aus vielen Kontexten theologischer Gespräche zurückkatapultierte in die Einsamkeit einer Mansarde, in der ich nur sehr gelegentlich bei Zoom-Sitzungen die Briefmarkenporträts meiner Gesprächspartner betrachtete. Eigentlich war ich gar nicht in der Lage, ein richtiges Gespräch zu führen.

Es ist schon richtig, dass die Pandemie nicht nur bei mir, sondern durch die Gesellschaft hindurch heftige Nebenwirkungen nach sich zog. Wir beherrschten sie schon deshalb nicht richtig, weil sie uns erst sehr langsam, mit großer Verzögerung bewusst wurden. Aber damit sind die Schwierigkeiten, diesen Essay zu verfassen, noch nicht richtig erklärt. Ich hatte einen solchen Text über das, was ich meine theologische Grundentscheidungen nennen würde, schon in dem Aufsatz „Onkel Ernst und die portugiesischen Revolutionäre“[1] angekündigt. Darin erzählte ich von den lebensgeschichtlichen Randbedingungen des Theologiestudiums in Heidelberg in den achtziger Jahren. Auf nur wenige Essays habe ich so viele Rückmeldungen bekommen wie auf diesen. Dabei lag der Akzent auf personalen, autobiographischen Erfahrungen. Diese führten zu theologischen Grundentscheidungen, die in diesem ersten Essay zu kurz kamen. Deswegen wollte ich in einem zweiten Essay über meine Gedanken zu dem berichten, was ich theologisch für richtig und fundamental halte. Es erschien mir angemessen, diesen zweiten Essay nicht mit der Schilderung autobiographischer Erfahrungen zu verknüpfen[2], sondern eher ideengeschichtlich vorzugehen.

Dass die Entwicklung theologischer Gedanken trotzdem nicht frei ist von Widerständen, biographischen Brüchen, Dissonanzen und Konflikten, zeigt folgende Geschichte. Monate nach meiner Habilitation erhielt ich einen Anruf aus dem Umfeld der Fakultät. Ich erkundigte mich nach Möglichkeiten, im nächsten Semester eine Antrittsvorlesung zu halten. Zu meiner großen Überraschung wurde mir davon dringend abgeraten. Da würde niemand kommen, solche Vorlesungen würden alle Privatdozenten nach ihrer Durchführung enttäuschen. Und überhaupt, man habe an der Fakultät Zweifel, ob ich ein richtiger Theologe sei. Dissertation und genauso Habilitation würden sich nicht theologischen Themen widmen. Das habe doch zu erheblichen Zweifeln daran geführt, ob ich ein richtiger Theologe sei. Nun - dieses Telefongespräch verstörte mich nachhaltig. Ich war schockiert, unabhängig davon, ob die darin kolportierte und nicht überprüfbare Meinung der Ansicht der Fakultät entsprach. Denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass Fachkollegen nun ausgerechnet an meinem Theologe-Sein zweifeln würden. Immerhin hatte ich Vikariat und Pfarrvikariat durchlaufen, hielt Kontakt zur Landeskirche, predigte regelmäßig in der Kapelle der Loccumer Akademie und der Loccumer Klosterkirche. Trotzdem gab es offensichtlich Experten, die nicht zulassen wollten, dass ich im theologischen Feld, geprägt durch Universität, Akademie, Tagungen und Erwachsenenbildung, ankomme. Die Kritik, ich sei gar kein Theologe, hatte selbstverständlich etwas mit Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit und einer kleingeistigen theologischen Grüppchenbildung zu tun, die den Protestantismus seit den binnenlutherischen Streitigkeiten der Orthodoxie nicht verlassen hat. Dennoch lässt sich der Frage ein tieferer Sinn abgewinnen, den ich nun – Jahrzehnte nach dem Telefonat - gerne ernst nehmen möchte.

Es ergeben sich also einige Fragen: Bin ich überhaupt ein Theologe? Wenn ja, was macht diese Theologie aus? Diesen Essay habe ich geschrieben, um diese Fragen zu beantworten. Und ich will gleich zu Anfang sagen, dass sich im Laufe langer Jahre des Nachdenkens über solche Themen meine Schwerpunkte verschoben haben. Als ich promoviert wurde, vertrat ich zusammen mit einer Heidelberger Gruppe theologischer Weggefährten ein Konzept öffentlicher Theologie, das ich verstand als eine pluralistische Weiterentwicklung einer politischen Theologie oder einer Befreiungstheologie. Auf den Punkt gebracht, war diese öffentliche Theologie eine politische Theologie unter demokratischen, rechtsstaatlichen Bedingungen. Mit anderen Akzentsetzungen hat dieses Konzept seitdem in Sozialethik und Kirchentheorie Karriere gemacht.[3] Mit den Jahren störte ich mich immer mehr am Ausdruck öffentlicher Theologie.[4] Mir schien die inhaltliche Ausrichtung oft zu moralistisch, zu bieder, zu bürokratisch verstockt. Ohne es richtig deutlich zu machen, war das Konzept der öffentlichen Theologie viel zu stark auf die Kirchen und ihren klerikalen Apparat gemünzt, im Sinne einer nachgerade sturen Lobbyarbeit, bei der man auf der protestantischen Seite, gemessen an den Möglichkeiten der katholischen Ekklesiologie, immer weit zurückgeblieben war.

Vor allem aber fragte ich mich, wie das Theologische der öffentlichen Theologie zu bestimmen sei. Im Grunde war die öffentliche Theologie ein sozialethisches Konzept, das so tat, als ob alle theologischen Fragen gelöst seien. Das aber ist nicht der Fall. Der Vorwurf geht dahin, diesen fehlenden Zusammenhang verschleiert zu haben. Damit soll keineswegs gesagt sein, eine öffentliche Theologie sei überflüssig. Sie ist nötiger denn je, aber sie braucht eine Verständigung über ihre unaufgedeckten theologischen Grundlagen. Und bei diesem Defizit nimmt der folgende Essay seinen Ausgangspunkt.

Zunächst rekapituliere ich nach dieser Einleitung (1) den Ausgangspunkt meiner Frage, die bestimmt ist durch zufällige autobiographische Erfahrung und die hinausläuft auf eine spezifische Zuordnung von Glaube und Wirklichkeit (2). Zentral ist für mich wie für die öffentlichen Theologen die Bezugnahme auf die Großwetterlage gegenwärtig diskutierter politischer und kultureller Erfahrungen. Sie ist – in theologischer Perspektive – für mich bestimmt durch Stichworte wie Kontingenz, Lebenskunst und Metaphysikkritik (3). Ich gehe davon aus, dass alle Theologie kontextuell ist und Bezug nimmt auf aktuelle Fragestellungen der jeweiligen Zeit, in diesem Fall der Moderne. Insofern ist zu fragen, was die gegenwärtigen Theologien für die Beantwortung der aktuell virulenten Probleme leisten und wie sie – noch immer – gefangen sind in der Rezeption großer Entwürfe deutschsprachiger Nachkriegstheologie (4). Von daher komme ich zu einer Kritik des Konzeptes der öffentlichen Theologie (5). Im nächsten Schritt entwickle ich Grundentscheidungen meiner eigenen Theologie, die mir in den letzten Jahren deutlich geworden sind (6). Und zuletzt will ich zeigen, wie diese – andere? – evangelische Theologie interdisziplinär ins Gespräch kommt mit Entwürfen der Gegenwartsdeutung, die über die Selbstverständigungsprozesse innerprotestantischer Theologiebildung mit ihrer dauernden Wiederholung alter, überholter Muster, Feindschaften und Schlagworte, hinausgehen. Das geschieht am Beispiel der postdogmatischen Anerkennungstheologie des Bochumer katholischen Fundamentaltheologen Markus Knapp (7), der historischen Philosophie Jörn Rüsens (8), der lyrischen Reflexionen des englischen Schriftstellers John Burnside (9) und Ronald Dworkins Essay zur rechtsphilosophischen Religionswissenschaft (10). Dieser Weg führt gleichermaßen hinein ins Zentrum evangelischer Theologie und auch wieder hinaus. Deswegen ist am Schluß ein Fazit (11) zu ziehen und nach den Konsequenzen zu fragen.

2. Sinn und Kontingenz

Das allgemeine Vorurteil lautet: Kein intellektuell aufrichtiger Zeitgenosse denkt noch über Gott, den Glauben und die Religion nach. Ich kann dieses Vorurteil nicht nachvollziehen. Wer die eigenen Suchscheinwerfer aus dem binnenkirchlichen Raum in die Weiten der sozialen Felder der Gesellschaft lenkt, wird auch in der Gegenwart religiöse Bezüge in Hülle und Fülle finden, in der Philosophie, in der Literatur[5], aber eben auch in der Politik. Ich will mich nicht den hilflosen Versuchen anschließen, diese verstreuten Bezugnahmen kirchlich zu vereinnahmen, sondern sie als eigenständige religiöse Äußerungen ernst nehmen. Diese Bezugnahmen lassen sich nach bestimmten Kategorien ordnen. Im Kern geht es um die Frage nach einer religiösen Dimension der Wirklichkeit, die nicht nur auf einem bestimmten Glauben, einer subjektiven Überzeugung oder einem religiösen Gefühl beruht. Es ist die Grundfrage nach der Kontingenz des Lebens, die sich näher bestimmen lässt als die Frage, wie diesem kontingenten Leben Sinn abzugewinnen ist.[6]

Diese Frage fächert sich auf in verschiedene Einzelfragen:

  • die Frage nach der Kontingenz des eigenen Lebens, Handelns und Denkens, näherhin nach Geburt, Zusammenleben mit anderen, nach Gemeinwohl, nach Krankheit, Sterben und Tod;
  • die Frage nach der Art und Weise, wie Gott in dieser Wirklichkeit, in der Gesellschaft wie im Individuum gegenwärtig sein kann. Es ist das die alte Frage nach den metaphysischen Voraussetzungen der Theologie, die seit der Aufklärung einer weitgehenden Dekonstruktion ausgesetzt sind;
  • die Frage nach den theologischen Gründen für die Vielfalt religiöser und theologischer Entwürfe, die – gegen ein verbreitetes Theorem aufgeklärter Philosophie – nicht einfach in Privatheit und Individualität aufgelöst werden kann. Sie kann auch nicht aufgelöst werden in die Selbstbeschränkung auf Dialog.[7]

In vielen Seminaren mit meinem Heidelberger germanistischen Kollegen Burckhard Dücker konnte ich die Erfahrung machen, dass nicht nur Autoren der Gegenwart sich mit Fragen der Religion auseinandersetzen, sondern auch Autoren, die bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert schrieben, ja noch mehr, man konnte in den Texten damaliger Schriftsteller (und auch damaliger Theologen) die Fragestellungen erkennen, die noch heute in theologischer und religiöser Reflexion zu erkennen sind. Es stellt sich die Frage nach dem Wesen religiösen Glaubens, Denkens und Handelns, wenn spätestens mit der Aufklärung und den Kritiken Immanuel Kants sämtliche metaphysischen Voraussetzungen von Theologie und Religion dekonstruiert und unglaubwürdig geworden sind. Daraus ergibt sich eine einfache Folgerung: Wenn der Glaube nicht mehr metaphysisch fundiert werden kann, dann muss er in einer Paradoxie formuliert werden. In ihr ist dann begrifflich ein Geheimnis enthalten, das reflexiv und intellektuell nicht mehr weiter entfaltet werden kann. Es gab viele theologische Versuche, diese Paradoxie einseitig aufzulösen, ich komme darauf im übernächsten Teil zu sprechen.[8]

Es lassen sich also eine ganze Reihe nicht-theologischer, literarischer und anderer Texte finden, die sich mit großem Eifer und stetem Bemühen diesen theologischen Fragen widmen. Das ist eine fundamentale Erkenntnis: Es gibt eine verbreitete Theologie von Nicht-Theologen, oft nur in Fragmenten vorhanden, aber sie lässt sich wahrnehmen und analysieren, während sie von der offiziellen, universitären Theologie oft vernachlässigt wird.

Man kann von Spannung, Paradoxie, Geheimnis sprechen: Jeder dieser Begriffe deutet andere Facetten der Probleme des Verhältnisses von Religion und Kontingenz, Lebenssinn und Glaubensgewissheit an. Leider muss man registrieren, dass in den Kirchen die Aufmerksamkeit für solche religiösen Fragen außerhalb des klerikalen hortus conclusus nicht besonders ausgeprägt ist. Das Gegenteil ist der Fall: Endlose Sitzungen, lähmende Reform- und Strukturprozesse, ausufernde Gottesdienst-, Seelsorge- und Bildungskonzeptionen, mithin Binnendiskussionen, salbungsvolle Sonntagsreden („Hoffnungssturheit“, „verletzliche Kirche“ etc.), klerikale Lagerkämpfe, banale Marketingkonzepte, politischer Moralismus, ein Kirchenrecht, das als ‚Ordnung der Liebe‘ gepredigt und doch nur zur brutalen Machterhaltung ausgenutzt wird, sowie eine wuchernde klerikale Bürokratie verschlingen diejenige Zeit, die für theologische Diskussion und Rezeption nötig wäre.[9] Hier wird ehren- und hauptamtliches Engagement für völlig falsche klerikale Zwecke verbrannt. Wer das kritisiert, wird ignoriert. Zur Begründung heißt es, der klerikale Tanker sei angeblich nicht mehr steuerbar.

Dabei hätten die Kirchen über Sinn, Kontingenz und Wirklichkeitsverständnis eine ganze Menge zu sagen, selbst aus ihrer binnentheologischen Diskussion heraus, vor allem beim Thema Abend­mahl. Denn die Inszenierung des Abendmahls als Gottesdienst und Liturgie entscheidet ja genau über die angemessene evangelische Interpretation der Wirklichkeit, insbesondere wenn um die Gegenwart Christi im Vollzug der Mahlfeier, aber auch konkret in Brot und Wein gestritten wird. Man kann den entscheidenden Dokumenten, die diese Diskussion seit dem Zweiten Weltkrieg vorangebracht haben, vorwerfen, sie brächten die eigenen theologischen Stärken nicht auf den Boden aktueller Diskussion[10], und sie seien in einer kruden ökumenischen Fachsprache formuliert, die sich schon den Fachkolleginnen und -kollegen verschließt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass auf diesem Feld eine Reflexion geleistet worden ist, die sich ohne weiteres mit aktuellen literarischen und philosophischen Fragestellungen in fruchtbare Berührung bringen ließe.

Man muss das nur wollen.

3. Großwetterlagen des Zeitgeistes

Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird bald Witwer. Sören Kierkegaard soll das gesagt haben, das ist jedoch nicht sicher. Der Satz ist mittlerweile zum Klischee geronnen, mit dem stets die anderen gemeint sind. Sicher ist doch das andere: Jede Theologie, jeder Roman, jede Christin oder jeder Christ reagiert in irgendeiner Weise auf die Lebenswelt, den Lebenskontext, die ihn umgeben. Dieser verändert sich von Tag zu Tag. Akteure haben nur die Möglichkeit, sich diese Abhängigkeit vom Kontext bewußt zu machen – oder das bleiben zu lassen. Wer meint, er könne unabhängig vom Zeitgeist denken und schreiben, der täuscht seine Leser und Hörer im Versuch, Individualität oder gar Authentizität zu demonstrieren, letzteres ohnehin ein problematischer Begriff.[11]

Zweitens kann dieser Kontext in modernen, westlichen, demokratischen Gesellschaften als unübersichtlich[12] beschrieben werden. Zeitgeist lässt sich nicht auf drei oder vier Stichworte reduzieren, und in pluralistischen Gesellschaften artikuliert er sich – das ist für ihn charakteristisch – in einer unendlichen Vielfalt von Meinungen, Perspektiven, Optionen. Diese Vielfalt berührt auch die Konstitutionsbedingungen der Theologie. In einer ihrer wichtigsten Versionen verlagert sich die gesamte religiöse Kommunikation auf die Diskussion von Meinungen, Gefühlen, subjektiven Perspektiven. Inhaltliche Feststellungen werden weitgehend vermieden. Gesellschaft wird als unendliche Menge von Differenzen beschrieben. Und dasselbe gilt für Religionen: Auch sie werden als Menge von verschiedenen religiösen Meinungen, nicht mehr Überzeugungen, beschrieben, sowohl interreligiös, ökumenisch und binnenkonfessionell. Ich teile diese weite Definition des Pluralismus nicht, denn gesellschaftlich braucht es Kriterien, Weltanschauung und Fakten, fake news und glaubwürdigen Journalismus, Meinungsblasen und öffentlichen Konsensen zu unterscheiden. Pluralismus schließt keineswegs aus, feste Überzeugungen und Gewißheiten zu entwickeln. Und auch Religionen kommen ohne solche Unterscheidungen zwischen – sagen wir – angemessener und unangemessener Religion nicht aus. Es reicht nicht, diese Unterscheidungen im Rahmen einer Singularisierungstheorie nur den Individuen zuzuweisen, sie gelten auch auf institutioneller, im christlichen Fall gemeindlicher und kirchlicher Ebene. We agree to disagree[13]. Das wird zwar im Protestantismus in Momenten der Verzweiflung über endlose Differenzen gerne zitiert, aber zur Fundierung einer Kirche reicht es leider nicht aus. Pluralismus und besonders religiöser Pluralismus zielen auf mehr als allgemeines Disagreement.

Um die beschriebene Kontaktlosigkeit zwischen kirchlicher, werbeorientierter Marketingkommunikation und der Diskussion lebenswichtiger Sinnfragen in Literatur und Theologie zu überwinden, würde es zunächst genügen, innerhalb der unübersichtlichen Strömungen des Zeitgeistes auf diejenigen Momente hinzuweisen, die auf eine bleibende Beschäftigung mit Religion und Theologie hindeuten. Der Hauptstrom dieser inhaltlich religiösen Momente aktueller sozialer Bewusstseinslagen besteht in der These von der anhaltenden Säkularisierung der Gesellschaft Die allgemeine Meinung lautet: Mit dem durch die Aufklärung prominent gewordenen Absterben der Metaphysik werde langfristig auch institutionalisierte und individuelle Religion absterben. Dass diese Gleichung nicht aufgeht, dazu hat in vielen Publikationen der Berliner Soziologe Hans Joas das Nötige gesagt.[14] Menschen überall auf der Welt hegen weiterhin religiöse Gefühle und Gedanken, trotz vermeintlicher Säkularisierung und Metaphysikkritik. Und ich bin als Theologe überzeugt, dass das auch seinen guten Sinn macht. An diesem Punkt fängt für einen christlichen Theologen die Deutung von Gegenwartserfahrungen im Lichte der biblischen Zeugnisse und theologischer Gedanken an.

Genauso finde ich allerdings als Theologe nichts gegen Vernunftorientierung und Pragmatismus zu sagen, die das Handeln der Menschen im Alltagsleben, in der Politik und anderswo nach Kräften bestimmen. Das bedeutet, dass bestimmte früher selbstverständliche biblische Vorentscheidungen obsolet geworden sind. Kaum jemand ist noch der Meinung, dass die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde. Niemand ist der Meinung, von einem oder mehreren Dämonen besessen zu sein, wenn er an Corona, einer Darmgrippe oder an einer Fraktur des Oberschenkels leidet. Gegen Corona lässt er sich impfen, gegen Darmgrippe ißt er Salzstangen und trinkt Coca-Cola. Den Knochenbruch lässt er im Krankenhaus eingipsen und wieder richten. Die Kleingruppen, die trotzdem noch in einem fundamentalistischen Sinn an den Schöpfungsbericht der Bibel glauben, nimmt kaum jemand noch ernst.

Trotzdem erreicht diese Form des Pragmatismus dann ihre Grenzen, wenn er sich in eine Spielart des Fatalismus verwandelt, der da meint, jedes gegebene Schicksal einfach hinnehmen zu müssen, weil sich Kontingenz nicht beeinflussen lässt. Gott ist nicht mit Schicksal oder Kontingenz zu identifizieren, das wäre ein schlecht verstandener Rechtshegelianismus, der das Wirkliche zunächst als Geist und dann als Gottes Willen beschreibt. Das Wirkliche kann in meinen Augen nicht pauschal das von Gott Gewollte sein. Das wahre theologische Problem besteht in der Verbindung von Pragmatismus und religiösen Überzeugungen.

Man kann den Pragmatismus so auflösen, dass man sagt, es mache gar keinen Sinn, über den Sinn des Lebens nachzudenken. In dieser Richtung hat der englische Bestsellerautor Matt Haig in seinem bekannten Buch „The Midnight Library“[15] argumentiert. An die Stelle jeglicher Sinnfindungsstrategien setzt er einen lebensgeschichtlichen Pragmatismus, der vermeintlich alle Gegebenheiten des Lebens, plusminus achtzig Jahre der Lebensdauer, Schicksalsschläge, Krankheit und Alter, Erfolglosigkeit, Bedeutungslosigkeit angesichts der Weiten des Kosmos akzeptiert und nur sagt: Mach etwas aus deinem Leben. Gräme dich nicht über Unglück und Fehlentschei­dun­gen. Beides kannst du nicht vermeiden. Das kulminiert in den Spitzensätzen: „You don’t have to understand life. You just have to live it.”[16] An dieser Stelle setzt mein Einspruch gegen den allzu unbedarften und agnostischen Pragmatismus ein.

Ich bin mittlerweile überzeugt, ich habe Theologie studiert, um Gott, die Welt und mein Leben zu verstehen – und zu verändern. Ich wollte mir die intellektuellen Werkzeuge aneignen, um mir unverhofften Zufälle und das Unglück, die einen im Leben unweigerlich treffen, vom Leib zu halten. Je älter ich werde, desto mehr merke ich: Das kann nicht in dem Maße gelingen, wie ich mir das als Erstsemester, der noch die Bibelkundeprüfung vor sich hatte, vorgestellt habe. Die Reichweiten der theologischen und der intellektuellen Vernunft sind begrenzt. Aber ich meine weiterhin: Der Versuch mit der Theologie lohnt sich. Ohne ein wenig zu verstehen, sagen wir: ohne eine Ahnung dessen zu haben, was im Kosmos vor sich geht, ist Leben nicht richtig möglich. Mit seinem unbedarften Pragmatismus geht Matt Haig in die Irre. Er hat nur darin recht, dass das menschliche Leben sich nicht vollständig in Logik, Vernunft und Intellekt sowie in – wer das gern so möchte – in Demokratie, Deliberation und Anerkennung - auflösen lässt.

Menschen leiden unter Erfahrungen von Kontingenz, angefangen von den Erfahrungen persönlicher Krankheit bis zum Krieg. Solche Erfahrungen müssen - psychologisch, religiös, weisheitlich – verarbeitet werden. Allerdings hat die aufgeklärte Metaphysikkritik und das, was ich ‚Pragmatisierung‘ der Wirklichkeit nennen würde, auch dazu geführt, dass die religiösen ‚Bearbeitungstechniken‘ sich verändert haben. Richtig ist: Das Leben kann nicht an denjenigen Zufällen gemessen werden, die auf einen Menschen im Laufe seines Lebens zukommen, ohne dass er sie selbst durch bewußtes Handeln herbeigeführt hat. Wenn es Gott gibt – und ich bin fest davon überzeugt, dass das der Fall ist -, dann bestimmt er den Sinn des Lebens auf eine Art und Weise, die sich vollständig von dem unterscheidet, wie die Christen das über Jahrhunderte getan haben. Glauben muss in der Konsequenz heißen, von der Illusion Abschied zu nehmen, dass Gott unmittelbar in die Wirklichkeit eingreift, zum Beispiel, dass er die von Menschen im Gebet geäußerten Bitten erfüllt. An Gott glauben, muss etwas ganz Anderes heißen, als einen bärtigen Mann im Himmel anzunehmen, der Blitze schleudert und ausschließlich die Herzen der evangelikalen Glaubenden bekehrt. Das ist der große Fehler der pietistisch-konservativer und evangelikaler Theologen der Gegenwart, dass sie Gott als eine Art Familienvater verstehen, der sich 24/7 ausschließlich um das jeweils individuelle Seelenleben kümmert.

Diesen Übergang von christlichem Glauben zu einem Pragmatismus des Alltags hat schon vor Jahrzehnten André Gide in seinem epochemachenden Roman „Die Falschmünzer“ beschrieben, wobei der titelgebende Begriff der Falschmünzer nicht nur im Sinne von Geldfälschung, sondern auch im Sinne der Anleitung zu einem verfälschten und damit die anderen täuschenden Verständnis der Welt gemeint ist. Nicht zufällig bezieht sich Gide dabei auf die Theologie des Thomas von Aquin, der im Gegensatz dazu versucht hat, Glaube und Vernunft miteinander zu verknüpfen. Der Onkel des Erzählers, der Schriftsteller Édouard, notiert im Roman seine Gedanken in ein Tagebuch. Dabei kommt er auch auf das Verhältnis von Glauben, Frömmigkeit und Wirklichkeit zu sprechen. „Je tiefer ein Mensch in Frömmigkeit versinkt“, notiert er, „desto weniger fühlt, liebt, schmeckt, ja begehrt er noch die Wirklichkeit. (…) Das strahlende Licht des Glaubens macht diese Frommen blind für die Umwelt und für sich selbst. Mir hingegen ist nichts wichtiger als klar zu erkennen, ‚was ist‘, und ich stehe entsetzt vor der Undurchdringlichkeit der Lüge, in der ein Frommer sich wohl fühlen kann.“[17] Édouard kritisiert Glaube und Frömmigkeit als (verkappte) Flucht aus der Welt. Mir ist es genau um den gegenteiligen Weg zu tun: um einen (christlichen) Glauben, der die Zumutungen der Gegenwart aushält und sich nicht auf vermeintliche Interventionen einer metaphysischen Wirklichkeit verlässt. Gide haben diese Überlegungen literarisch zum Nobelpreis und theologisch in den Atheismus geführt. Der letzte Schritt drängt sich jedoch nicht zwingend als Konsequenz auf. Ich denke an eine paradoxe Theologie, die Gottesglaube und Pragmatismus vereint, möglicherweise zu so etwas wie einer Lebenskunst, ein Begriff, den ich von Wilhelm Schmid übernehme.[18] Das soll weiter unten noch entfaltet werden.

Es ist leicht, Glauben und Theologie aus dem eigenen Leben hinauszuwerfen. Aber wer das einmal getan hat, der weiß, in welche gedanklichen Schwierigkeiten er damit gerät. Der konfessionellen Werbung so unverdächtige Intellektuelle wie Roberto Calasso oder Jahre davor der genial-umstrittene Ezra Pound haben deshalb die Notwendigkeit eines Postulats der Religion vertreten. Pound schrieb: „Da sich keine passendere Metapher für bestimmte Gefühlsfarben gefunden hat, behaupte ich, dass die Götter existieren.“[19] Man darf sich nicht irritieren lassen von der polytheistischen Formulierung der Götter im Plural, sie ist eine Reminiszenz an Hölderlin und dessen dunkle, Antike und Christentum verbindende Hymne „Brot und Wein“. Man darf auch nicht gleich vermuten, im Zitat sei wegen der angesprochenen „Gefühlsfarben“ eine Theologie im Gefolge Schleiermachers gemeint. Pound zählt wie sein späterer Interpret Calasso zu denjenigen, die ohne religiöse Bindung nicht auf theologische und religiöse Reflexion verzichten möchten. Und sie können beide gute Gründe dafür anführen.

Diese Behauptung einer Notwendigkeit religiöser und theologischer Reflexion findet sich aktuell auch bei der französisch-marokkanischen Autorin Leila Slimani. In ihrem Essay „Der Duft der Blumen bei Nacht“ schreibt sie von ihrer Sehnsucht nach Gott: „Ich würde gerne glauben, ich würde gerne beten.“ Und im selben Kontext bezieht sie sich auf Roland Barthes‘ Ablehnung des Materialismus als Dummheit.[20] Für Slimani funktionieren weder der Materialismus (der im übrigen etwas anderes ist als der von mir eingeführte Pragmatismus) noch die Religion, wohl aber spürt sie eine gewisse Sehnsucht nach letzterer. Deswegen registriert sie, die Muslimin, sehr wohl das Entsetzen über den Brand an der Pariser Kathedrale Notre Dame und führt es auf einen beklagenswerten Verlust an Religion und Transzendenz zurück.

Bei Slimani sehe ich eine Bestätigung der Behauptung, dass zwischen Vernunft, Empirie, Pragmatismus auf der einen und einer fundamentalistisch für wahr gehaltenen, auf einer Offenbarung beruhenden Glaubensdoktrin etwas Drittes notwendig ist. Slimani will auch nicht einfach zu ihrer Religion, dem Islam zurück, weil sie die Gefahr sieht, dass autoritäre Religionen, genauer: Fundamentalismen das offene und demokratische Zusammenleben von Gesellschaften bedrohen.[21]

Das ist etwas anderes als das gleichgültige Ertragen einer säkularisierten Welt. Slimani beobachtet islamische Gesellschaften. In ihnen erscheint die Macht der Religion als zu stark und übergriffig. Diese Furcht vor neuem Fundamentalismus übersehen klerikale Institutionen in der Regel. Sie verstehen das nachlassende Interesse an Religion als ‚Schweigen‘ Gottes, und sie interpretieren letzteres als Aufruf zum Wiedererstarken der eigenen religiösen Institutionen. Das ist jedoch erstens keineswegs ausgemacht und zweitens gar nicht so einfach zu haben. Glauben oder sich im Angesicht kontingenter Erfahrungen zu einem Glauben zu bekennen, bedeutet keineswegs die Reklerikalisierung (oder Re-Islamisierung oder Re-Christianisierung) der Welt.

Slimanis Gedanken führen weg vom Fundamentalismus. Sehr genau beobachtet sie, dass der islamische Glaube die Vorläufigkeit, Zerbrechlichkeit, in meinen Worten: die Kontingenz der Welt anerkennt. Und der Islam präsentiert ein Modell, solche Kontingenzen theologisch zu verarbeiten: „Für Muslime ist das Leben hienieden bedeutungslos, und die gängigen Redensarten erinnern uns unablässig daran. Wir sind nichts, und wir sind Allahs Gnade anheimgegeben. Die Würde des Gläubigen liegt in seiner Fähigkeit begründet anzunehmen, dass nichts Bestand hat, dass alles vergeht.“[22] In der christlichen Theologie lassen sich ähnliche Gedanken zur Vorläufigkeit der Welt finden. Es würde nur dieser Sachverhalt unter Rückgriff auf andere Kontexte anders beschrieben, mit Bezug auf die Kreuzestheologie, die Unterscheidung von letzter und vorletzter Welt, möglicherweise mit der Zweireichelehre. Aber es ist nicht die Aufgabe, Christentum und Islam zu vergleichen.

Es geht darum, die lebensweltlichen Fragen zu erkennen, die Religionen, sei es das Christentum, der Islam oder eine andere Religion, bearbeiten. Und genau diesen Weg geht Slimani in ihrer Reflexion. Sie leitet von der Ablehnung des fundamentalistischen Islam auf das Problem der Kontingenz über: „Es ist schwer für die Menschen, die Grausamkeit des Zufalls zu akzeptieren. Man begehrt auf, sucht einen Sinn, ein Zeichen, eine Erklärung. Manchmal bildet man sich ein, es wäre eine Verschwörung oder Gott würde uns eine Warnung senden. Wie Kundera schreibt, ‚der moderne Mensch schummelt‘. Er will dem Tod nicht ins Auge blicken und tut so, als glaube er, dass die Dinge Bestand haben, dass es Raum für die Ewigkeit gibt. Unsere Gesellschaften, die die Prinzipien der Vorsorge und Risikovermeidung anbeten, hassen den Zufall, weil er unsere Illusion, alles unter Kontrolle zu haben, zerstört. Die Literatur hingegen liebt Narben, Spuren des Zufalls, unbegreifliches Pech, ungerechtes Leid.“[23] Dieses halte ich für eine Schlüsselpassage. Slimanis Haltung ist von einem Doppelten gekennzeichnet: Zum einen akzeptiert sie einen nüchternen pragmatischen Wirklichkeitssinn und lehnt alle „Schummelei“ (Kundera) ab. Trotzdem sehnt sie sich – zum anderen - nach Religion, genauer nach einem Islam, der genau diese Paradoxien und Abgründe der Wirklichkeit spirituell bearbeitet. Ich kann sowohl diesen Zwiespalt teilen als auch das Bedürfnis nach einem – in meinem Fall christlichen – Stand- oder Ausgangs­punkt, der theologische und spirituelle Gehalte so formuliert, dass sie glaubwürdig, an die Moderne anschlussfähig sind und ohne sacrificium intellectus auskommen.

Ich interpretiere Slimanis Passage aus meinem Kontext evangelischer Theologie: Menschen geben voller Vertrauen die Kontrolle über ihr Leben aus der Hand, besser: Sie streben nicht mehr nach absoluter Kontrolle über ihre Lebenswelt. Sterben und Tod sind Bestandteil dieser Lebenswelt, und es gilt, sich darauf vorzubereiten. Ich würde diese Haltung einen Glauben nennen, der sich eher mit Weisheit und Modernität als mit den Spielarten des Fundamentalismus verbindet. Wenn die klerikalen Apparate solche Formen des Glaubens nicht mehr unterstützen, weil sie die aufgegebene Kontrolle über den einzelnen selbst übernehmen wollen, betreiben sie das Geschäft autoritärer und damit glaubensfremder Machtausübung und handeln gegen die evangelische Botschaft, der sie sich eigentlich verpflichtet fühlen sollten. Der Grund für diese Fehlentwicklung liegt schlicht in der nackten Angst vor öffentlichem und sozialem Einflussverlust.[24]

Bestimmte Formen herrschender politischer Ethik und Theologie sind ihrerseits Versuche, das Leben moralistisch zu bewältigen, das heißt sich von heteronomen Ansprüchen leiten zu lassen, die – sei es klerikal, sei es parteipolitisch, sei es nur besserwisserisch – von anderen vorgegeben werden. Das Überspringen der individuellen, freien Entfaltung der Persönlichkeit in Sachen des Glaubens und der Theologie wird billigend in Kauf genommen. Glauben kann fremdbestimmt, Glaube kann eigenbestimmt sein.

Mühsam habe ich gelernt, von einem unmoralischen Glauben zu träumen, der noch religiöse Individuen nicht dauernd mit Forderungen und Geboten malträtiert und so bevormundet, als ob sie Untertanen oder Befehlsempfänger wären. Aber das ist im Grunde nur ein Nebenkriegsschauplatz. Die eigentliche theologische Arbeit besteht in einer Kritik des Unglaubens moderner Menschen, im Abarbeiten all der „Schummeleien“ (Kundera/Slimani), mit der sich Menschen das Leben zu sehr vereinfachen. Es ist eine Schummelei, wenn Menschen so tun, als seien sie selbst allmächtig und unverletzbar, als seien sie Freud‘sche Prothesengötter mit Smartphone, Fernbedienungen, Controllern, Tablet und Laptop. Jenseits von solchen Verkleidungen sind Menschen Zufällen, Abgründen und Risiken ausgeliefert.

In der Perspektive einer christlichen Theologie würde ich sagen, dass solche Leiden, Zufälle, Risiken im Verweis und im Licht von Leben, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi bearbeitet werden. In ihm und mit ihm verwandelt sich der unbekannte in einen bekannten, ansprechbaren, aber nicht berechenbaren Gott. Im Moment stehen der theologischen und – altmodisch und alteuropäisch gesprochen – erbaulichen Bearbeitung dieses Beziehungsgeflechts allerdings klerikale Moralisierungsnetzwerke im Weg. Die Theologie müsste aus den Mauern ihrer selbstverschuldeten Gesetzlichkeit befreit werden.

Nicht zuletzt ist Slimanis Hinweis ernst zu nehmen, dass in dieser Hinwendung zum Zufälligen, Tragischen, Gefährlichen, Beschwerlichen, aber auch zum Enthusiastischen, Freundlichen, Humorvollen und Überschwänglichen manchmal nicht die Argumente, sondern das Narrative helfen. Es besteht also offenbar eine intrinsische, mehr als oberflächliche Beziehung zwischen Theologie und Literatur. Diese Frage gilt es ebenso aufzunehmen wie die zweite Frage nach den Positionen und Argumenten, mit denen die evangelische Theologie der Nachkriegszeit auf diese Art von Zeitdiagnose, die keineswegs nur ich selbst teile, reagiert hat.

4. Kleinwetterlagen protestantischer Theologie

Was die evangelische Theologie betrifft, so treffen beide folgenden Diagnosen zu. Auf der einen Seite hat sich seit den sechziger Jahren weniger bewegt als erwartet, auf der anderen Seite haben Beobachter den Eindruck, es habe sich alles grundlegend verändert. Im Grunde war das schon so, als ich zu Onkel-Ernst-Zeiten Theologie studierte.

Um es vorweg zu sagen: Die folgende Skizze der evangelischen Theologie der Nachkriegszeit besitzt den Charakter einer vereinfachten Landkarte: Nicht alle Eremitenhöhlen, Räuberlager, (Universitäts-)Städteverbünde, Ententes cordiales sind berücksichtigt worden. Es geht darum, in einer zerklüfteten Landschaft grob die wichtigsten Täler, Gebirge und Grenzzäune zu skizzieren.

Verschwunden sind seit den sechziger Jahren die großen öffentlichen Auseinandersetzungen. Undenkbar, dass es heute ein systematischer Theologe auf die Titelseite des ‚Spiegel‘ schaffen würde wie Gottes fröhlicher Partisan Karl Barth, und auch nicht gerade in den Weihnachts- oder Osterausgaben, wenn das Wochenblatt die kalendarisch regelmäßig wiederkehrenden religiösen Leseinteressen seiner Käufer bedient. In den Sechzigern und Siebzigern stritt man öffentlichkeitswirksam über Auferstehung, über die Volkskirche, über den historischen Jesus, den feministischen Jesus, über die Theologie der Befreiung und anderes mehr. Heute haben sich solche Kontroversen zurückgezogen in Fachzirkel, Oberseminare und klerikale Kommissionen. Damals schaffte es die Publikation einer Denkschrift auf die ersten Seiten der wichtigen Tageszeitungen, heute ist solch eine Publikation nur noch eine Dreizeilenmeldung auf Seite Sieben wert, noch dazu einfach abgeschrieben von dpa oder epd. In den Sechzigern und Siebzigern war noch eine Lagerbildung zu spüren, die in die Gruppenbildung von Doktoranden mündete (Heidelberg vs. München, Tübingen vs. Göttingen). Heute ist an die Stelle solcher Gruppenbildung eine freundliche Beliebigkeit des Lebens und Lebenlassens getreten. Die meisten Theologen haben es sich in akademischen und universitären Nischen gemütlich gemacht und sehen mit Sorge den zunehmenden Bedeutungsverlust der evangelischen Kirchen, die sich mit Kommissionen und (Marketing-)Konzeptionen gegen diesen unaufhaltsamen und trotz aller Beratungen durch den Kirchen nahestehender Religionssoziologen offensichtlich unbeeinflussbaren Abstieg – oder sogar Niedergang – wehren.

Nicht verändert hat sich in der Systematischen Theologie die Orientierung an einem theologischen Dreigestirn der Gründerväter Luther, Schleiermacher und Karl Barth. Ergänzend wären Dietrich Bonhoeffer und der m.E. unterschätzte Paul Tillich zu nennen, auf die ich später zurückkomme. Mittlerweile haben sich die harten und unnachgiebigen Kontroversen zu Geplänkeln abgeflacht. Und die Gewichte unter diesen drei Gründervätern haben sich verschoben. Während in den Sechzigern und Siebzigern die unmittelbaren Schüler Karl Barths die Szene dominierten, verschob sich später das Gewicht zugunsten der Anhänger Schleiermachers, gegen den Barth zeitlebens heftig polemisiert hatte. In den Kontroversen vor der Jahrtausendwende spiegelten sich die alten Kontroversen und in diesen die noch älteren Kontroversen des 19. und 18.Jahrhunderts: Querelles des anciens et des modernes – das ist die Ewigkeitsklausel der evangelischen Theologie.

Schleiermachers Gefühlstheologie lässt sich historisch als eine Antwort auf die Aufklärung verstehen; er versuchte, durch seine Konzentration auf Gefühle die Metaphysikkritik der aufgeklärten Philosophen aufzunehmen und für Theologie und Religion neuen Raum im Bereich der Emotion zu schaffen. Die bundesrepublikanischen Anhänger des Berliner Theologen aus dem 19. Jahrhundert haben diese Grundentscheidung allerdings in verschiedenen Gewichtungen profiliert. Während sich Karl Barth von diesem Theologie-Modell durch die Brandmarkung der natürlichen Theologie absetzte, prägten die einen – vorwiegend praktische Theologen – die Theologie zu einer Anthropologie religiöser Gefühle um, die damit Nähe zu Kunst, Literatur, Film und anderem gewann, aber durch ihr – sagen wir – Fasten in transzendenten Fragen stets ein wenig luftleer und aseptisch im intellektuellen Diskussionsraum schwebte. Andere nahmen die These von den im Gefühl gewonnenen religiösen Gewissheiten auf und prägten sie – man kann streiten, ob heimlich oder nicht – zu ewigen Wahrheiten des Glaubens um, die nach einem kurzen Schleiermacherschen Präludium dann nicht anders behandelt wurden als die ewigen lutherischen Wahrheiten der Bekenntnisschriften. Plötzlich erschien das lutherische Wahrheitsgebäude im neuen offensiven und affirmativen Gewand, während die tönernen Füße der Erfahrungstheologie Schleiermachers, die dafür das Fundament prägte, sorgfältig verborgen wurden, denn hier lagen ja gefährliche Sollbruchstellen.

Eine dritte Richtung prägte die Schleiermachersche Theologie um in eine Verteidigung des Historismus und fügte seine Theologie dafür zusammen mit Überlegungen von Ernst Troeltsch und Max Weber. In dieser Perspektive kann Religion soziologisch und historisch verstanden werden, aber Wahrheiten, Gewissheiten und feste Überzeugungen geraten in den Mahlstrom eines Pluralismus, der stets von der Auffassung geprägt ist, dass religiöse und spirituelle Überzeugungen dauerhaft gleichrangig mit allen anderen religiösen Überzeugungen stehen. Das ist etwas anderes als das ekklesiale We agree to disagree. Es handelt sich um die Einsicht, dass die eigene Gewissheit nie für andere verbindlich sein kann, sondern in jedem Moment von einer anderen und – das ist entscheidend – genauso gültigen Gewissheit abgelöst, ergänzt oder überboten werden könnte. Es gibt kein Kriterium mehr, religiöse Gewissheiten hierarchisch zu ordnen oder die größere Plausibilität der einen über die andere Gewissheit zu belegen. Am stärksten, obwohl am wenigsten überzeugend, ist gegenwärtig die zweite Gruppe geworden, die aber im Grunde nur eine Reprise der alten Neo-Orthodoxie darstellt, verknüpft mit einem Fundament aus Schleiermachers Theologie, das aber lediglich als Eintrittskarte für moderne Fragestellungen benötigt wird. Ansonsten wird es tunlichst verborgen, um die Entlarvung der eigenen ausufernden, kirchlich verbindlichen Selbstgewissheiten zu verschleiern.

Drüben, auf der anderen, der Barthschen Seite sieht es anders aus. Es machte die sprachliche wie theologische Faszination der Kirchlichen Dogmatik aus, dass sie ein komplexes und differenziertes Denkgebäude bereitstellte, das ihren Lesern und Befürwortern die gute Gelegenheit gab, für alle angesprochenen und zu diskutierenden Probleme eine theologisch angemessene, sprachlich überzeugend artikulierte Antwort zu finden. Das Problem bestand nur darin, dass das nur auf diejenigen überzeugend wirkte, die sowieso schon überzeugt waren. Die wahren Getreuen, die über fünfzig Jahre nach Barths Tod immer noch eine Kleingruppe bilden, haben sich in Barth-Philologen verwandelt, die sich an der kleinteiligen Exegese – genügend Stoff ist ja vorhanden! - von Abschnitten der Kirchlichen Dogmatik abarbeiten. Die anderen haben versucht, aus Barth einen politischen Theologen zu machen, stießen damit aber schon zu Lebzeiten des Meisters auf Probleme, weil er so klug war, sich nicht auf die Verteidigung bestimmter politischer Positionen einzulassen, andererseits – siehe seine Überlegungen zu Christengemeinde und Bürgergemeinde – gelegentlich so schräge Verteidigungen zum Beispiel von Demokratie und Rechtsstaat vorschlug, dass die Integration in neuere theologische oder sozialethische Positionen einiges an Deutungsaufwand und Papier erforderte.

Mit der in Schleiermachers Erfahrungstheologie verkleideten Neo-Orthodoxie habe ich mich schon im Theologiestudium nie anfreunden können. Barths Dogmatik habe ich bei Lothar Steiger studiert, und das genügte als Gegengift, um ihn nicht als den Abt und Großmeister einer neuen theologischen Bruderschaft misszuverstehen. In Steigers Seminaren wurde eine sehr individuelle Barth-Lektüre eingeübt.

Sympathie für die Theologie Schleiermachers habe ich erst durch die Rezeption der soziologisch-theologischen Theorien des Berliner Religionsphilosophen Hans Joas gewonnen. Denn Joas macht einen offenen, demokratischen Erfahrungsbegriff stark, der nicht sofort für die Legitimation lutherischer oder pietistischer oder sonstiger Konfessionalität missbraucht wird. Das hängt auch damit zusammen, dass sich Joas – soweit ich sehe – nicht unmittelbar auf Schleiermacher stützt, sondern auf William James und weitere amerikanische Pragmatisten, die vor dem Hintergrund der amerikanischen Geschichte von Demokratie, Pluralismus und Religionsfreiheit ganz anders über die Parallelität unterschiedlicher religiöser und konfessioneller Gewissheiten in modernen Gesellschaften nachdenken. In der amerikanischen Pluralität der Religionsfreiheit werden – anders als in der Bundesrepublik – keine verkappten Monopolforderungen der christlichen Religionen artikuliert.

Vor dem Hintergrund der hier verhandelten Fragestellungen scheint mir notwendig, kurz auf einen weiteren Versuch der Barth-Rezeption einzugehen. Der Nürnberger Theologe Ralf Frisch hat versucht[25], aus Barths Weigerung, sich mit der Moderne auseinanderzusetzen, einen starken Punkt zu machen. Damit sieht er bei Barth das Feld gewonnen, wieder theologisch über die alten konfessionellen Gewissheiten zu diskutieren. Aber das halte ich für nicht mehr als den Versuch, erstens ein gravierendes Defizit der Barthschen Theologie (man denke an seine merkwürdigen Überlegungen zum Verhältnis von Mann und Frau und zur Homosexualität) zu einem Vorteil hochzujazzen und zweitens die Wärme der barthianischen Bubble zur Heimat eines repristinierten vormodernen theologischen Denkens zu machen. Aus dem Zugehörigkeitsgefühl einer theologischen Kleingruppe lässt sich jedoch keine Theologie entwickeln, die bereit wäre, sich auf Neues und Anderes einzulassen. Gegen Frischs Vorstellungen würde ich einwenden, dass man die Moderne als Grundvoraussetzung der Gegenwart nicht einfach ignorieren kann. Frisch zielt verständlicherweise auf eine Moderne-Kritik – das ist dringend notwendig – aber dieser Kritik kann man nicht eine Form geben, die sich theologischer Auseinandersetzung im Grunde verweigert. Und außerdem schließen sich nach meinem Dafürhalten theologisches Argumentieren und Grüppchen-, Parteien- und Orthodoxiebildung sowieso aus. Der Form halber sollte man noch angeben, dass Frischs Interpretation weder mit Barths Theologie noch mit der der meisten seiner Schüler kompatibel ist.

Meiner Wahrnehmung nach ist die lutherische Theologie im Vergleich zur Strömung Schleiermachers ein wenig ins Hintertreffen geraten, was damit zusammenhängt, dass sie sich stets sehr viel stärker als die beiden anderen an Liturgie, Gottesdienst und kirchliches Leben gebunden hat. Mit dessen Rückgang ist auch der Einfluss dieser Theologie zurückgegangen.[26]

Was die hier gestellte Diagnose von Religion und Wirklichkeit angeht, so hat immer noch Dietrich Bonhoeffer großen Einfluss, der in seiner Brief- und Essaysammlung „Widerstand und Ergebung“[27] zwei wichtige Stichworte prägte: „mündige Welt“ und „Arkandisziplin“. Mit der mündigen Welt meinte Bonhoeffer eine Welt, die Gott als Arbeitshypothese nicht mehr nötig hat. Das entspricht ja dem, was auch Schleiermacher im Gefolge seiner Aufklärungsrezeption behauptete. Gott ist nicht mehr notwendig, um die Verhältnisse der Gegenwart und der Wirklichkeit zu erklären. Das führt Bonhoeffer zu einer Kritik aller Religion, der er den Glauben des Christentums gegenüberstellte. Von Barth setzte sich Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen ab, weil er dessen „Offenbarungspositivismus“ nicht übernehmen wollte. Stattdessen sprach er geheimnisvoll von einer „Arkandisziplin“, also dem Festhalten an den historisch gewachsenen Traditionen des Christentums (Gottesdienst, Abendmahl, Predigt, Nachfolge etc.) gegen den Anschein der Wirklichkeit. Das Problem besteht jedoch darin, wie sich mündige Welt und Arkandisziplin zueinander verhalten. Die Briefe Bonhoeffers aus dem Gefängnis, die aus verständlichen Gründen in Andeutungen und Schlagworten gehalten sind, geben zur Interpretation viel Raum, der dann auch von den Rezipienten leidlich genutzt wurde. Zum Beispiel diente das Stichwort der Arkandisziplin dazu, das Fortbestehen des klerikal-bürokratischen Apparats zu legitimieren. Genauso wenig lässt sich Bonhoeffer zum impliziten politischen Theologen stilisieren. Mit beiden Methoden aber lässt sich die von Bonhoeffer hellsichtig angesprochene Paradoxie nicht auflösen.

Paul Tillichs Theologie wurde von deutschsprachigen Theologen sträflich vernachlässigt und spielte – im Gegensatz zu seiner breiten Rezeption in den Vereinigten Staaten – stets nur eine beklagenswerte Nebenrolle. Dabei ist Tillichs Theologie, wie er sie in seiner Systematischen Theologie[28] entfaltet, in ihren Thesen des Gegenübers von Frage und Antwort, der damit verbundenen Korrelationen und der These von Gott als der Tiefe des Seins, der mehr als spannende Versuch, die hier aufgeworfenen Fragen einer Beantwortung zu unterziehen, auch wenn das oft in einer Sprache geschieht, die man wegen ihrer Anleihen bei Ontologie und Religionsphilosophie heute nicht mehr gebrauchen würde. Ich meine jedenfalls, aus dem Begriff der Grenze[29] und ihrer Überschreitung bei Tillich erheblich gelernt zu haben. Bei ihm findet sich dreierlei, zunächst eine Gegenwartsbeschreibung der Moderne, die konsequent auf klerikale Engführungen verzichtet und die demokratischen Weiten der Kultur sucht, dann der Versuch, die impliziten theologischen Dimensionen dieser modernen Situation herauszuarbeiten, und schließlich der Versuch, auf diese Analyse eine genuin theologische Antwort zu geben.

Auf seine Weise hat das auch Wolfhart Pannenberg unternommen, als spiritus rector der 1962 gegründeten Theologengruppe „Offenbarung als Geschichte“[30]. Seine Anthropologie in theologischer Perspektive versucht eine notwendig anthropologische Begründung der religiösen Dimension des Menschen, die er im Doppel von Selbstüberschreitung und Selbstbeschränkung findet. Darauf gibt dann die Systematische Theologie, die Pannenberg seiner Anthropologie folgen ließ, die notwendigen Antworten mit einer proleptisch verstandenen Eschatologie, die in der Auferstehung Christi ihren Anfang nimmt und in der Hoffnung auf die Auferstehung aller Toten ihre Gegenwart findet. Pannenberg folgten eine große Zahl von Mitstreitern und Schülern, auch wenn Pannenberg selbst Tillichs pluralistische Offenheit und Großmut fehlte. Je älter Pannenberg wurde, desto mehr wurde deutlich, dass seine Anthropologie allzu schnell auf die Antwort der christlichen Theologie fixiert war, was ihn zum Beispiel dazu verleitete, sein Bundesverdienstkreuz zurückzugeben, weil er der Meinung war, in der Bibel sei die Ablehnung der Homosexualität quasi ontologisch festgelegt und darum dürfe auch eine demokratische Legislative die Trauung gleichgeschlechtlicher Paare nicht zulassen.

Eberhard Jüngel schließlich nahm in seinem großen Werk „Gott als Geheimnis der Welt“[31] die Stichworte der Aufklärung, Hegels und Bonhoeffers auf und sprach davon, Gott sei für diese Welt mehr als notwendig. Wie Bonhoeffer akzeptierte er die mündige Welt, die Nicht-Notwendigkeit Gottes, aber das hinderte ihn nicht daran, von der Theologie zu fordern, sie solle trotzdem von Gott reden. Bonhoeffers Arkandisziplin verwandelte sich hier in die öffentliche Rede von dem Gott, der Mensch wurde, am Kreuz gestorben ist und wieder auferstand. Jüngel gab der Theologie damit eine sozusagen sprachtheoretische Wendung, die Begriffe wie Metapher und Analogie in den Vordergrund stellte. Im Grunde aber bleibt die Rede, Gott sei mehr als notwendig, dunkle Metapher. Kann man von Gott reden, ohne ihm das Prädikat der Existenz zuzuweisen? Wer Jüngel predigen und vortragen hörte, war fasziniert von seiner literarisch-theologischen Brillanz[32], aber es waren eben auch viele abgeschreckt, die von den komplexen Sprachspielen seiner Sätze überfordert waren, wenn er auf der Kanzel oder am Rednerpult der Universität stand. Und das markiert ein Problem aller Varianten wort- und sprachorientierter Theologie.

Es sollte hier eine Skizze evangelischer Theologie der Nachkriegszeit vorgelegt werden. Das bedingt die Konzentration auf wirklich zentrale Positionen. Selbstverständlich tummeln sich in der Theologie weiterhin neopietistische, quasi-fundamentalistische Gruppen, die so tun, als habe es Aufklärung und Moderne nie gegeben. Man kann im Moment beobachten, dass so genannte post-evangelikale Positionen sich zähflüssig und langsam an Fragen wie der Neubewertung von Gleichgeschlechtlichkeit und Ehe, Familie abarbeiten. Gelegentlich muss man schmunzeln, wie die Anerkennung des Selbstverständlichen (zum Beispiel der gleichgeschlechtlichen Ehe oder der Evolutionstheorie) als epochemachende Umwälzung gefeiert wird. Das ist selbstverständlich nicht der Fall, solche längst fälligen Angleichungen begradigen einfach nur die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Es tummeln sich auch versprengte Gruppen politischer Theologen in Kleingruppen, Landakademien, winzigen Stiftungen, beim Kirchentag und in Jugendwerken oder in Ökumenischen Arbeitsstellen, wo versprengte Pseudo-Apokalyptiker seit Jahrzehnten verbalradikal gegen den Kapitalismus wettern, ohne dass diese Stimmen gehört oder ernst genommen würden. Es gibt weiter eine unendlich langweilige kirchentreue protestantische Theologie, deren Vertreter sich als theologische Türsteher vor den bürokratisch-klerikalen Pforten aufspielen. Ich will ehrlich sein: Große Bedeutung hat das alles nicht. Daneben könnte man weitere marginale Formen der Theologie nennen: die ökumenische Theologie, die pluralistische Theologie der Religionen, die feministische Theologie und andere mehr. Ich sehe nicht richtig, wo diese Positionen größere öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen würden, außer bei ihren eigenen Anhängern. Für mich selbst sehe ich nicht, wie aus diesen Theologien Positionen hervortreten, die den Streit lohnen. Einschränkend sei gesagt: Bestimmt ist es so, dass ich nicht alle diese Positionen in ihrer Fülle und im Detail wahrnehme.

Anderes fasziniert mich aus der Distanz. Das gilt zum Beispiel für die Kombination aus biblischer Theologie und Pneumatologie, an der Michael Welker[33] seit Jahren arbeitet und deren Entwicklung ich sehr aufmerksam verfolge. In meiner Wahrnehmung gehört er zu denen, die die Verbindung von Gegenwartsdiagnose und theologisch-biblischem Ausgangspunkt konsequent so verfolgen, dass sie stets mit dem zweiten genannten Punkt beginnen. Zum Beispiel gilt das auch für den Würzburger Systematiker Klaas Huizing[34], der als der einer von sehr wenigen zugleich literarisch und theologisch publiziert und seine Theologie sehr konsequent in Abweichung von den bisher vorgestellten mainstreams entwickelt. Und es gilt zum Beispiel für die theologische Kommunikationstheorie, die der emeritierte Münsteraner Praktische Theologe Christian Grethlein[35] vorgelegt hat, obwohl ich an seine Theologie eine Reihe von Anfragen habe. Zwischen den drei Genannten scheinen wenige Berührungspunkte zu bestehen, aber ich bin überzeugt, es würde sich lohnen, mit dem Vergleichen und Verknüpfen endlich einmal zu beginnen.

Wenn ich diese Wetterlage der evangelischen Theologie in den letzten sechzig Jahre beurteilen sollte, so würde ich im Ergebnis sagen:

  • Es leben die alten Positionen in neuer Verkleidung und teilweise in neuer Kombination weiter. Aber: Wer alte Positionen einnimmt, führt auch alte Streitigkeiten weiter.
  • Die Theologie ist dabei, das Interesse für die intellektuellen Diskussionen, die in der Öffentlichkeit geführt werden, zu verlieren.
  • Umgekehrt interessiert sich die kulturelle, philosophische und soziologische Öffentlichkeit nicht mehr für das, was in der Theologie geschieht. Der Kontakthof ist geschlossen. Kommunikation ist verloren gegangen. Was könnte in einer solchen Situation der zunehmenden Sprachlosigkeit eigentlich nötiger sein als eine öffentliche Theologie?

5. Theologische Kritik der öffentlichen Theologie

Mein Unbehagen am Begriff der öffentlichen Theologie habe ich schon im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes artikuliert. Es soll ein wenig weiter entfaltet werden. Richtig ist, dass der Begriff der öffentlichen Theologie mittlerweile zu einem umbrella term geworden ist, unter dem sich ganz heterogene theologische Strömungen versammeln, die aus ganz unterschiedlichen Gründen darunter Zuflucht fanden[36]. So firmieren unter dieser Adresse Vertreter klerikal-politischer Lobbyarbeit, Anhänger der politischen Theologie, die an demokratische Verhältnisse angepasst werden soll, emeritierte Anhänger der Befreiungstheologie, die der nicht stattgefundenen Revolution nachtrauern. Manche Theologen haben angefangen, den Begriff interreligiös zu erweitern und sprechen von einer öffentlichen Theologie des Judentums oder des Islam. In dieser Pluriformität gewinnt der öffentlichen Theologie etwas Unscharfes, er verliert von den Konturen, die er noch besaß, als er entwickelt wurde. Ich spreche im Folgenden von der evangelischen Variante öffentlicher Theologie.

Nach meiner Ansicht zielt sie auf Öffentlichkeit(en), also auf ein wesentliches Strukturmerkmal moderner, demokratischer Gesellschaften. Das schließt aus, sie zu einem inhaltlichen Programmbegriff zu machen, wie es für die ältere politische Theologie typisch war. Eine Option für öffentliche Theologie darf nicht bedeuten, dass Theologen, die sich zu ihr bekennen, mit bestimmten politischen Forderungen identifiziert werden. Damit würde öffentliche Theologie in einen christlichen Moralismus[37] umgeprägt, der intellektuell schwer zu ertragen ist, auch wenn er als Bischofswort oder -predigt daherkommt. Gerade in Baden konnte man dazu über Jahre schwer zu ertragende Rezeptionserfahrungen machen.

Noch schwieriger wird es, wenn öffentliche Theologie als Prägebegriff für die politisierten Teile der evangelischen Landeskirchen verstanden wird. Diese innerkirchlichen Gruppen mit außerkirchlichem Anspruch zeichnen sich durch das aus, was man mit dem Begriff der vernetzten Versäulung beschreiben könnte. Heterogene Gruppen innerhalb der Kirchen versuchen, auf ihr politisches Handeln Einfluss zu nehmen. Sie umfassen politische Aktivisten, vom Umweltschutz über Feminismus und Flüchtlingsfragen bis zur Kapitalismuskritik, dazu ökumenische Apoka­lyp­tiker, pensionierte Pfarrer, die zum verbalen Radikalismus neigen, die Kirchentagsbewegung („Gottes geliebte Gurkentruppe“), ehemalige Bürgerrechtler aus der DDR, die von der Demokratie enttäuscht sind, schließlich klerikale Lobbyisten, die sich in der Hauptstadt herumdrücken. Diese verschiedenen Gruppen eint eigentlich wenig, sie bewegen sich um das Zentrum ihrer eigenen differenten Interessen. Wenn sie nicht kooperieren, so sind sie doch mindestens vernetzt. Einig sind sie sich in der Zielsetzung der Politisierung der Kirche. Nicht ohne Grund besteht ein fließender Übergang zu den Gruppen der Zivilgesellschaft. Die politkirchlichen pressure groups stimmen überein in der offenen oder verborgenen Funktionalisierung der Kirche für ihr fremde Zwecke. Und um das noch zu verschärfen: Die politische Funktionalisierung dient als billiges Surrogat für die Behandlung der eigentlichen theologischen Fragen, denen man sich nicht stellen will oder vor denen man resigniert hat. Für mich war der Ausgangspunkt, über den Begriff öffentliche Theologie nochmals nachzudenken, als ich erkannte, dass diejenigen auf der linken Seite des Protestantismus das, was sie auf seiner rechten Seite kritisierten, mit gleichem Eifer und gleicher Skrupellosigkeit praktizierten.

Leider ist der Gedanke der öffentlichen Theologie besonders affin für bestimmte Formen symbolischer Politik. Das gilt für das von der Synode der EKD verordnete Tempolimit für die Dienstwagen klerikaler Funktionäre, das gilt für das völlig misslungene Dialogpapier der Badischen Landeskirche zum interreligiösen Dialog zwischen Christen und Muslimen. Das gilt – ein zweites badisches Beispiel – für das Selbstverständnis der Badischen Kirche als Kirche des gerechten Friedens, das im Realitätstest nach dem Beginn des Ukraine-Krieges völligen Schiffbruch erlitten hat.[38] Das gilt für bestimmte Formen der Kritik an Israel durch apokalyptische Kleingruppen sowie auch für die Einschätzung der ökumenischen Bemühungen nach der Vollversammlung des Ökumenischen Rates 2022 in Karlsruhe.

Je weiter sich der Begriff der öffentlichen Theologie auf solche positionellen Gruppen erstreckt, desto weniger macht er Sinn, desto mehr verliert er von seiner analytischen Trennschärfe. Er verkommt vom notwendigen Strukturbegriff zur Kennzeichnung einer starren, politisierten, aber vor allen positionellen Theologie – wenn denn der Begriff der Theologie überhaupt angemessen ist.

Die Schwierigkeiten mit der theologischen Dimension der öffentlichen Theologie sehen auch andere Forscher, deswegen hat man vorgeschlagen, statt von öffentlicher Theologie von öffentlichem Protestantismus zu reden. Ich halte das mindestens für den ehrlicheren Begriff, wenn er auch nicht von der Notwendigkeit enthebt, innerhalb eines öffentlichen Protestantismus zwischen den notwendigen Formen der Pflege des Verhältnisses von Kirchen und Demokratie und halböffentlichen, halbkirchlichen pressure groups innerhalb des klerikal-politischen Komplexes zu unterscheiden. Das aber ist innerhalb der notorisch pluralen – die einen sagen: zerstrittenen, die anderen sagen: diversen – evangelischen Kirchen eine gefährliche Aufgabe, die viele Sympathien aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich kosten könnte. Die kirchenpolitische Tendenz im Übrigen zeigt in die entgegengesetzte Richtung, zum Beispiel wenn Bischöfinnen das Stichwort von der „verletzlichen Kirche“ einführen, um mit diesem ‚berührenden‘ Wort die zivilgesellschaftlichen und politisch differenten Teile der kirchlichen Anhängerschaft auf einen Begriff zu bringen und verloren gegangene Kohärenzen und Allianzen zu beschwören.[39] Man begibt sich hier in eine Falle, in die Großinstitutionen in der singularisierten Gesellschaft nur allzu leicht tappen: Je mehr unterschiedliche Positionen – politische, fromme, theologische, diakonische etc. – akzeptiert werden, desto schwieriger wird es, noch ein Bewusstsein der eigenen Gruppenzugehörigkeit zu erschaffen und zu gewährleisten.[40]

Insofern meine ich, dass gewisse Präzisierungen des Begriffs öffentlicher Theologie in den Fokus gerückt werden müssen. Annehmbar ist er als sozialethischer Strukturierungsbegriff, der die Beziehungen zwischen kirchlichem, zivilgesellschaftlichem und staatlichem Handeln untersucht. In diese Richtung interpretiere ich Äußerungen des Berliner Sozialethikers Torsten Meireis: „Öffentliche Theologie, public theology, ist so gesehen weder eine bestimmte theologische Position noch gar eine theologische Disziplin, weder ein exklusiv protestantisches oder christliches Unterfangen noch eine nur auf westliche Kontexte bezogene Vorgehensweise, sondern eine global anschlussfähige und plurale Diskursformation, die den friedlichen Streit um ihre Auslegung aushält und dazu einlädt, die Öffentlichkeit aber stets die öffentliche Dimension religiöser Diskurse und die religiöse Dimension öffentlicher Diskurse als bedeutsam beleuchtet, kritisch zur Geltung bringt und wissenschaftlich reflektiert.“[41] Meireis nennt dieses Unternehmen eine kritische öffentliche Theologie. Ich lasse die globale, interreligiöse Dimension, die der Autor einführt, einmal unberücksichtigt. Ob man dieses Unternehmen klischeehaft ein kritisches nennen sollte, sei dahingestellt. Aber ich zweifle doch sehr, ob man von einer öffentlichen Theologie sprechen sollte. Nochmals: Ich bestreite nicht, dass die von Meireis angesprochenen öffentlichen Dimensionen religiösen Handelns angesprochen werden sollten. Sie zielen auf den Ort religiöser Institutionen in pluralen Gesellschaften. Aber ich würde den Begriff der öffentlichen Theologie dafür reservieren, die öffentliche Relevanz wie auch immer zur Sprache gebrachter theologischer Fragen analytisch anzugehen.

In vielen Fällen hängt um den Hals der öffentlichen Theologie (auch der ‚kritischen‘) der Mühlstein der klerikalen Bürokratie. Dort, wo diese Theologie in Positionalität und Moralismus linker oder rechter Provenienz regrediert, ist der Begriff fehl am Platz, gleichgültig ob diese Positionalität aus dem institutionell-klerikalen oder dem freien, assoziierten Raum des Protestantismus kommt. Der Bruch, der in dieser Hinsicht durch die evangelischen Kirchen geht, darf nicht durch die Forderung nach Treue zur Kirche übertüncht werden. Treue zur Kirche bedeutet ja nicht Treue zur klerikalen Bürokratie und genauso wenig Treue zu bestimmten (kirchen-)politischen Positionen.

6. Es geht auch anders

Meine Bedenken und Zweifel am Konzept einer öffentlichen Theologie haben mich dazu bewegt, einen anderen theologischen Weg einzuschlagen. Er ist von zwei Prinzipien bestimmt:

  • Es ist nötig, einen Weg heraus aus der Eigenrotation der klerikalen Bubble zu finden.
  • Es ist nötig, in den verschiedenen Öffentlichkeiten die Foren und Medien aufzusuchen, wo außerhalb der kirchlichen Zusammenhänge noch genuin theologische Fragen diskutiert werden. Meine Erfahrung zeigt: Dort kann man fündig werden.

Ich möchte eine Theologie entwickeln, die nicht von der Alternative Erfahrungsanthropologie vs. Offenbarungspositivismus bestimmt ist. Denn ich sehe in beiden Alternativen Momente, die mir theologisch unverzichtbar erscheinen. Am besten scheint mir das schon im 17. Jahrhundert beim spanischen Jesuiten Baltasar Gracián auf den Punkt gebracht. In seinem „Handorakel“ zitierte er seinen Ordensgründer Ignatius von Loyola: „Man wende die menschlichen Mittel an, als ob es keine göttlichen, und die göttlichen, als ob es keine menschlichen gäbe.“[42] Gracián rechnet mit beidem, göttlichem und menschlichem Handeln. Aber genauso entdecke ich in diesem Satz ein Bewusstsein davon, wie schwer göttliches und menschliches Handeln voneinander zu unterscheiden sind.

Mein Zögern, an diesen Aufsatz zu gehen, habe ich bereits artikuliert. Es ist begründet in meinen Schwierigkeiten, genau sagen zu können, was unter Theologie im eigentlichen Sinn des Wortes zu verstehen ist. Und das ist für mich ein – zugegeben unangenehmes – Problem. Ich möchte mich nicht mehr kompensatorisch in einen prämodernen Biblizismus, schon gar nicht in einen Fundamentalismus flüchten. Auch eine eskapistische politisierende Theologie halte ich für keinen Ausweg. Ich will eine Dogmatik betreiben, die sich nicht am überkommenen Schema der altprotestantischen Orthodoxie orientiert und dann Locus für Locus nur noch feststellen kann, dass diese je für sich nur in die theologische Irre führen. Ich finde, Theologie kann auch nicht darin aufgehen, ein Wächteramt über Staat und Kirche einschließlich der verrosteten klerikalen Bürokratie auszuüben. Es hat sich in einigen Bereichen der evangelischen Theologie eine Mischung aus Eskapismus, Konvention und Wiederholung von bereits Gedachtem breitgemacht, die auf mich langweilig wirkt, zumal sie sich sehr oft mit einer unangenehmen Rechthaberei verbindet. Originelles oder Überraschendes ist nicht einmal dann sichtbar, wenn man ausnahmsweise auf einen theologischen Aussichts- oder Glockenturm steigt.

Mir geht es um eine offene, aufmerksame Theologie, die dazu befähigt, ungeahnte theologische Zusammenhänge zu entdecken. Die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens will ich nicht kleinreden. Ich merke regelmäßig, wie ich mich sehr gerne vor den Fragen drücke, die viele Menschen bewegen, wenn sie über Glauben, Vertrauen und Gott nachdenken. Wie kann man von Gott reden, wenn die alte, voraufgeklärte Rede vom ‚eingreifenden‘ Gott unglaubwürdig geworden ist? In vielen meiner bisherigen Essays habe ich sorgfältig vermieden, mich in dieser Frage zu entscheiden. In meinen Predigten – ein anderes literarisches Genre - bin ich offensiver vorgegangen, habe aber auch dort, was die Schöpfung der Welt durch einen personalen Gott oder die Auferstehung oder die Wundertätigkeit Jesu angeht, häufig substantialistische Aussagen vermieden. Ich denke beides: Wenn ein Theologe nicht von Gott redet und sich stattdessen in Politik, Moral oder kitschige Lyrik flüchtet, dann hat er seinen Beruf verfehlt. Wenn er umgekehrt nur die alten Klischees der Gottesrede bedient, dann macht er sich zum Fundamentalisten und bedient letztlich nur das evangelikale Lager. Dazwischen besteht ein schmaler Grat, auf den ich mich immer wieder hinausgewagt habe, mit wechselndem Erfolg. Dort warten diejenigen, die von Atheismus wie Fundamentalismus gleichermaßen abgeschreckt sind. Mit ihnen würde ich gerne ins Gespräch kommen. Ich versuche, ein Theologe des vorsichtigen, tastenden, aber eben auch aufmerksamen Glaubens zu sein.

Man kann diesen, hier entfalteten Gedanken entgegenhalten, das sei die Wiederbelebung einer Auseinandersetzung, die schon seit dem 18. Jahrhundert geführt werde. Wieder und wieder sind in Philosophie, Literatur, Theologie Lösungen vorgeschlagen worden, keine hat letztendlich befriedigen können. Vielleicht ist es so, dass man einfach im Sinne des zitierten Satzes von Gracián mit dieser Paradoxie leben muss. Der Begriff der Paradoxie deutet darauf hin, dass zwei Perspektiven wichtig werden, die nicht ineinander aufgelöst werden können. Und er deutet auf ein Geheimnis, das sich in dieser Welt nicht lösen lässt.

Damit stellen sich zwei Fragen.

  • Die erste Frage zielt auf die definitorischen Bedingungen des Menschseins, wie sie in den vergangenen drei Jahrhunderten durch die philosophische Anthropologie, die Theorie der Menschenrechte, die Milieu- und Habitustheorie sowie durch andere anthropologische Konzepte ausgearbeitet worden sind. Das schließt ein die Frage nach der notwendigen religiösen Dimension des Menschseins.
  • Die zweite Frage zielt auf die Plausibilität spezifischer religiöser Offenbarungen wie der christlichen.

Das in diesem Essay schon mehrfach angesprochene Paradox zwischen Wirklichkeitserfahrung und Glaube aus moderner Perspektive gründlich bearbeitet zu haben, ist das Verdienst des in Deutschland weithin unterschätzten Theologen Paul Tillich. Sein essayistischer Stil ist bemängelt worden, die mangelnde Trennschärfe seiner Begriffe, dazu die angeblichen Simplifizierungen seines Korrelationsmodells, vor allem die vorschnelle Vermischung von dem, was er in Fragen aus dem Raum der Kultur und Antworten aus dem Evangelium zusammenbringt. Mag sein, dass es sich Tillich in manchem zu einfach gemacht hat. Das kann aber kein Grund sein, gleich das gesamte hermeneutische Modell aufzugeben. Nach meiner Einschätzung liefert gerade Paul Tillich eine bleibende Basis für die Entwicklung einer Theologie, die sich weder in den Fundamentalismus einer erfahrungslos metaphysisch unterfütterten Glaubenslehre flüchtet und sich auf theologische und kirchliche Binnendiskurse beschränkt noch sich auf eine reine anthropologische Erfahrungstheorie beschränkt und die transzendentalen Fragen leugnet oder überspielt.

Auf dieser Basis sind für mein theologisches Denken sechs Grundentscheidungen wichtig geworden, die ich kurz entfalten will.

6.1. Differenzen und Pluralismus

Theologie lässt sich nicht auf ein einziges Modell zur Darstellung der Wahrheit Gottes reduzieren. Gerade das Nebeneinander unterschiedlicher theologischer Modelle zeigt die menschliche und historische Bedingtheit solcher Modelle, ihre Vorläufigkeit und Überholbarkeit. Das Bestehen auf der eigenen – was sonst? - Wahrheit hat, gerade in den Abendmahlsauseinandersetzungen des Protestantismus des 17. und 19. Jahrhunderts, ganz furchtbare Auswüchse der Rechthaberei erzeugt, die teilweise auch in der Gegenwart noch nicht völlig abgeklungen sind. Es ist zum Kennzeichen der Moderne geworden, dass sich Wahrheitsansprüche singularisiert und differenziert haben. Der Soziologe Andreas Reckwitz, der die Singularisierung von Wahrheitsansprüchen genau untersucht, hat sehr gut herausgearbeitet, dass für diesen Pluralismus auf gesellschaftlicher Ebene ein Preis gezahlt werden muss. Und dieser wird auch im Raum der evangelischen Theologie auf kleinerer Ebene bezahlt werden müssen. Die Konturen des Wahren oder des Evangeliums verschwimmen, akzeptable Argumente vermischen sich bis zur Ununterscheidbarkeit mit inakzeptablen, harmlosen oder banalen.

Einige Theologen haben aus der Pluralisierung von theologischen Wahrheitsansprüchen die Konsequenz gezogen, eine – ich meine: problematische - Theologie der Religionen zu entwickeln, andere haben versucht, die Aufgabe der Theologie von der Behauptung substantieller Wahrheiten auf Moderation[43] oder Kommunikation[44] umzustellen. Ich halte die letzten beiden Wege für problematisch, denn in beiden Fällen werden die Inhalte der Theologie zum Substrat, die auf dem Wege der Kommunikation oder der Moderation, das heißt der Suche nach – je nachdem – Ausgleich oder Konflikt, bearbeitet werden. In beiden Fällen handelt es sich also um Theologien zweiter Potenz, die sich, was Theologie ist, einfach vom allgemeinen, vom religiösen oder vom binnenkirchlichen Diskurs vorgeben lassen. Alle drei Diskurse können selbstverständlich eine Fülle von Material bereitstellen, das ändert aber nichts daran, dass eine evangelische Theologie nicht darauf verzichten darf, selbst inhaltlich anspruchsvolle Inhalte (der Dogmatik, der Exegese, der Ethik etc.) zu entwickeln und zur reflektierten Diskussion zu stellen.

Ich habe bisher den Differenzbegriff vor allem auf binnen-theologische Diskussionen bezogen. Es kommt noch ein zweites hinzu: Differenz und Pluralismus gelten auch aus theologischer Perspektive für Positionen, die sich ausdrücklich als nicht-theologisch oder nicht-religiös verstehen, aber eben religiöse Themen behandeln. Und drittens gilt: Wer sich der Anerkennung anderer theologischer, religiöser und philosophischer Kulturen verpflichtet fühlt, der braucht auf Argumente, Streit, ja sogar Polemik nicht zu verzichten. In pluralistischen Situationen müssen unterschiedliche Positionen miteinander abgeglichen werden. Das Gegenteil wäre das Nebeneinanderherexistieren in unterschiedlichen bubbles, die nichts miteinander zu tun haben. Und das ist genau die Gefahr, auf die Andreas Reckwitz stets so eindringlich hinweist.

6.2. Theologie in der Nicht-Theologie

Seit einigen Jahren bin ich weniger an einer evangelischen Theologie interessiert, die sich an der weiteren differenzierenden Auslegung der Gründungsväter (Luther, Schleiermacher, Barth, die Bekenntnisschriften) abarbeitet. Stattdessen gilt es für mich, Schneisen zu schlagen in die unkirchlichen, nicht von klerikalen Binnendiskursen geprägte Welt. Irgendwo bei Paul Ricoeur findet sich der schlichte Satz: „Philosophie hat immer mit Nicht-Philosophie zu tun.“ Und das sollte auf die Theologie übertragen werden. Theologie hat stets mit Nicht-Theologie zu tun. Theologie findet da auf ihr genuines Feld, wo sie sich wieder auf Nicht-Theologie einlässt. Die Qualität einer Theologie bemisst sich daran, inwieweit sie sich dem Nicht-Theologischen stellt. Sie muss in der Lage sein, das Irrationale, Kontingente, Unausweichliche des Lebens und der Welt zu bearbeiten. Wenn sich Theologie zu einem System von Argumenten und Begriffen versteift, dann greift sie über Individuen und Lebenswelt hinweg und lässt diese in der Eiswüste der Kontingenz zurück. Es ist einfach eine Täuschung zu meinen, es würden in der vermeintlichen säkularen Welt keine theologischen Fragen verhandelt. Es war schon eine Entdeckung, dass sich viele Juristen bei ihrer Explikation des Begriffs der Menschenwürde von theologischen Argumenten leiten ließen.[45] Und das war nur der Anfang.

Danach habe ich zwei weitere Schneisen in den nicht-kirchlichen Bereich geschlagen. Die eine Schneise zielt auf den Begriff der Lebenskunst, ausgehend von der Beobachtung, dass der protestantische Glaube sich sehr lange sehr spröde dabei verhalten hat, wenn es darum ging, bestimmte Formen der Lebensführung und des guten Lebens mit theologischen Inhalten in Beziehung zu bringen. Um den völlig diskreditierten, alteuropäischen Begriff zu brauchen: Es fehlt eine Theologie protestantischer Frömmigkeit. Dem protestantischen Glauben fehlte es stets an einer bestimmten Gestalt. Aber wer in den Öffentlichkeiten der Gesellschaft keine Habitus-Formen und Lebensstilgewohnheiten ausprägt, der wird auch in dieser genuin religiösen Orientierung als Protestant nicht mehr wahrgenommen. Erfreulicherweise hat diese Diskussion um Lebenskunst in den letzten drei Jahrzehnten erheblich an Schwung aufgenommen, in der Systematischen wie in der Praktischen Theologie.

Die zweite Schneise zielt hinein in die Literatur, Kunst und Musik. Schriftsteller stellen in ihren Werken tiefgehende theologische Fragen. Künstler beschäftigen sich mit religiösen Themen, und das beschränkt sich keineswegs nur auf den Neo-Renaissance-Maler Michael Triegel. Es war für mich faszinierend zu sehen, wie der Maler Henri Matisse, trotz seines erklärten Agnostizismus, in Vence eine Kapelle gestaltete, in der er im Medium seiner Malerei, seiner Gestaltungskunst eine neue Form performativer Theologie entwickelte.[46] Musiker wie John Eliot Gardiner stellen sich die Frage, ob sie in ihren Konzerten der Werke Johann Sebastian Bachs weiterhin die Theologie des 18.Jahrhunderts, wie sie Bach geläufig war und wie er sie verinnerlicht hatte, weiter transportieren können.[47] Die Zahl der Beispiele für den Zusammenhang von Theologie und Kultur könnte beliebig verlängert werden.

6.3. Narrative Theologie

Ermutigt durch die Erfahrungen, die ich mit der Literatur gemacht habe, finde ich den Gedanken attraktiv, die theologische Reflexion von System, Argumenten und Begriffen auf Erzählung umzustellen. Dabei denke ich nicht an Alternativen. Aber es wäre zu fragen, ob nicht allein schon die Nutzung argumentativ-begrifflicher Sprache zu einer Form von Formelhaftigkeit führt, die zum einen die erwähnte Rechthaberei nach sich zieht, zum anderen eigentlich wenig lebensdienlich ist. Das gilt vor allem für Formen der Theologie, die sich darauf kapriziert haben, in akademischen Qualifikationsarbeiten und Fachaufsätzen bestimmte Sprachregelungen zu verkünden, die in die Wirklichkeit der Gesellschaft nicht mehr vermittelbar sind. Narrativ lässt sich viel besser als argumentativ über die unvermeidlichen Widersprüche, Inkonsequenzen und Paradoxien des Lebens reden. Das gilt komplementär auch für das Vorläufige und Fragmentarische anstelle des Systematischen und allzu schubladenhaft Geordneten. Und – ein letztes Argument für das Narrative – es wäre damit eine Brücke zu Predigten und Homiletik gebaut. Denn auf diesem Feld drohen im Moment Banalität, Harmlosigkeit und Schlichtheit die Oberhand zu gewinnen.[48]

6.4. Antiklerikalismus

Dieser Punkt kann hier kurz abgehandelt werden, denn ich habe mich an anderer Stelle ausführlich damit beschäftigt[49]. Es geht nicht darum, den Kirchen in den Rücken zu fallen, es geht um eine Kritik der klerikalen Bürokratie, die sich vor die theologische Reflexion und damit auch vor den kirchlichen Auftrag schiebt, als sei das eine vom anderen nicht zu unterscheiden. Dieser Prozeß ist nach meiner Analyse seinerseits Ausdruck einer Hilflosigkeit angesichts schwindender Mitgliederzahlen und schwindenden Einflusses, die darin gefährliche Wirkungen zeigt, dass die Kirchen, statt sich auf die alten theologischen Stärken zurückzubesinnen, Zuflucht bei Marketingtheorien, Beratungsagenturen und einer ökonomistisch verbrämten Kundensprache suchen.

6.5. Antimoralismus

Auch dieser Punkt ist im Grunde schon angesprochen worden. Ich habe in einer längeren Arbeit, die der Fernsehserie „House of Cards“ und den Tudor-Romanen Hilary Mantels galt, versucht, einen Politikbegriff zu entwickeln, der sich stärker an den binnenpolitischen Eigenlogiken als an moralistischen Forderungen, gerade aus den Kirchen und den mit ihr zivilgesellschaftlich assoziierten Gruppen orientiert. Es ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass der kirchliche Moralismus kompensatorisch vorgeschoben wird, um jene theologischen Narrationen und Predigten zu vermeiden, die das eigentliche Geschäft der Kirchen wären. Wer solche moralistischen kirchlichen Stellungnahmen liest, wird oft über deren außerordentliche Banalität erschrecken. Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie eine Kirche der Freiheit, die auf die Befähigung der Getauften zum freien Handeln und Denken zielt, stets von Neuem zurückfällt in Bevormundung, Prinzipienreiterei und Autoritarismus. Auch Hans Joas hat auf die Differenz zwischen Kirche als Moralagentur und ihrer freien, gemeindlichen Verfassung hingewiesen.[50]

6.6. Kontingenzbearbeitung

Moralisierende Theologen sind stets terribles simplificateurs. Sie vereinfachen die Wahrheit, auch die theologische, und bieten Erfolgserlebnisse an, die sich so nicht einlösen lassen. Deswegen muss sich das Feld theologischer Reflexion von der binnenkirchlichen Selbstbestätigung und der politisch-oberlehrerhaften Belehrung verlagern zu dem, was die Situation des Menschen in der religiösen Perspektive wirklich ausmacht. Im Gegensatz zum Optimismus der Aufklärung haben sich trotz allen Fortschritts die Menschen nicht wirklich zu Herren ihrer selbst oder ihrer Umwelt machen können. Die Handlungsreichweiten der politischen und sozialen Vernunft sind – sei es beim einzelnen, sei es beim institutionellen oder kollektiven Handeln - begrenzt. Lebenskunst in einem christlichen Sinn bedeutet, sich dieser eigenen Selbstbegrenzungen bewußt zu werden. Sie bedeutet aber zweitens auch, Erfahrungen jenes anderen Transzendenten zu suchen, die Christen das Wirken des Heiligen Geistes nennen. Christlicher Glaube ist nicht anders zu bestimmen als eine Entmächtigung der sich selbst überschätzenden Menschen. Komplementär kommt eine Sehnsucht nach der Erfahrung einer Transzendenz hinzu, die diesen nicht nur abstrakt, sondern als Schöpfer, Erhalter und Erlöser dieser Welt bestimmt, auch wenn es wenig wahrscheinlich ist, dass diese Transzendenz sich an konkreten, realen Gotteserfahrungen festmachen lässt. Es gibt Gott nur als geglaubten Gott. Theologie verfolgt reflektierend und narrativ, wie sich diese paradoxe Beziehung zwischen Gott und den Menschen beschreiben lässt.

Eine solchermaßen neu formierte Theologie sollte das Gespräch mit anderen Partnern suchen, die nicht unbedingt Theologen sein müssen. Der theologische und vor allem binnenkirchliche Diskurs, der den Dialog zwischen Liberalen und Evangelikalen suchte, ist an ein gewisses Ende gekommen. An seine Stelle sollte der Diskurs zwischen theologischen und nicht-theologischen Entwürfen treten. Deswegen suche ich in den folgenden vier Abschnitten den Dialog

  • mit einem katholischen Fundamentaltheologen, der sich um die Ablösung der Theologie von lehramtlicher Bevormundung bemüht;
  • mit einem historischen Philosophen, der die Religion in unterschiedliche Konzepte von Sinnsuche einordnet;
  • mit einem Schriftsteller, der eine „Dogmatik“ auf der Grundlage seiner Lyriklektüren entwickelt;
  • mit einem Rechtsphilosophen, der sich am Unterschied zwischen Menschen, die an Gott glauben, und solchen, die das nicht tun, abarbeitet.

Diese vier Abschnitte ersetzen nicht die ausführliche Auseinandersetzung mit diesen Positionen, aber sie zeigen mindestens die Richtung auf, in der sich ein Dialog bewegen müßte und benennen wichtige Themenfelder.

7. Anerkennungstheologie

Wenn man öffentliche Theologie in einer strukturellen Perspektive begreift[51], so lässt sich diese auch auf die katholische Kirche und Theologie anwenden, und man sieht leider in den anhalten­den Bemühungen, das Thema sexuellen Missbrauchs durch katholische Priester aus der Öffentlichkeit mindestens herunterzuspielen, wenn nicht zu verschleiern, eine Tendenz in der katholischen Hierarchie, die den Grundsätzen von Transparenz, Offenheit und Gleichheit stracks entgegengesetzt ist. Ein zweites Hindernis für eine stärkere Rezeption der öffentlichen Theologie besteht in der Unterscheidung von geweihten und nicht-geweihten Personen, den theologischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sowie in der daraus folgenden Nichtzulassung von Menschen anderer Kirchen zum Abendmahl sowie in der Nichtanerkennung der Abendmahlsfeiern anderer Kirchen, die nur als kirchenähnliche Gemeinschaften betrachtet werden. Man fragt sich danach, inwiefern eigentlich eine Theologie, in die die folgenreiche Unterscheidung von Menschen in Priester und Laien sowie der dogmatische Entscheidungsprimat des Papstes konstitutionell eingebaut ist, eigentlich als Befürworterin einer demokratischen Verfassung noch glaubwürdig agieren kann. Man fragt sich auch, ob das weitgehende Schweigen der evangelischen Kirchen und Theologie zu diesen Themen um der minimalen Fortschritte eines ökumenischen Dialogs willen weiterhin angemessen sein kann.[52]

Selbst innerhalb der katholischen Theologie gehen manche Vertreter inzwischen neue Wege. Dazu zählen insbesondere die Fundamentaltheologen Magnus Striet[53] und Markus Knapp[54]. Letzterer ist im Jahr 2020 mit einem eigenen fundamentaltheologischen Entwurf hervorgetreten, der auf der Anerkennungstheorie Axel Honneths aufruht. Knapp geht aus von der bündig formulierten These: „Gott kommt in modernen Lebens- und Reflexionszusammenhängen nicht mehr zur Sprache.“ (13) Religion habe ihre „Weltbildfunktion“ verloren, in der Postmoderne seien die ‚großen Erzählungen‘ nicht mehr glaubwürdig. Knapp beruft sich dabei auf die auch hier schon erwähnte Religionstheologie des späten Bonhoeffer. Trotzdem postuliert Knapp weiterhin die Notwendigkeit der Sinnperspektive einer Religion, zur Orientierung und Deutung von Welt und eigenem Leben. Religion und die Ausgangsbedingungen moderner Gesellschaften können aber nicht unverbunden nebeneinanderstehen, sie müssen aufeinander bezogen werden, und das geschieht über die Brücke der Anerkennungstheorie, in Knapps Worten durch eine „anerkennungstheoretische Hermeneutik eines theologischen Wirklichkeitsverständnisses“ (42). ‚Anerkannt‘ werden bei Honneth Setzungen wie Menschenrechte, Solidarität und Menschenwürde, die rein rational oder diskurstheoretisch nicht bewiesen werden können. Das erinnert an Jürgen Habermas‘ These von religiösen Gehalten, die sich nicht in den Diskurs der Rationalität auflösen lassen. Zur Disposition stehen die Fragen nach dem guten Leben von einzelnen und der Gesellschaft als ganzer: „Die Anerkennungstheorie eröffnet (…) die Perspektive eines guten Lebens, in dessen Zentrum der ethische Wert freier Selbstbestimmung im Sinne einer möglichst unbeeinträchtigten Ausbildung der persönlichen Identität steht.“ (113)

In der nicht-theologischen Theorie der Anerkennung findet Knapp ein Kompensat für das, was die Theologie vorher Glauben oder Vertrauen genannt hat. Auch der Glaube ist rational nicht beweisbar. Innerhalb der Kirche und der Theologie wird er anerkannt und in biblische wie postbiblische Narrationen eingeordnet. Diese Theologie der Anerkennung kommt aber, und das ist in modernen, säkularen Gesellschaften entscheidend, ohne metaphysische Setzungen aus. „Gott lässt sich konsistent denken als das je neue Ereignis unbedingter Anerkennung eines von ihm Unterschiedenen, wobei sich in diesem Anerkennungsakt sein Sein und Wesen als unbedingte Liebe Ausdruck verschafft.“ (121; vgl. 379) Zum Gegenstand der Anerkennung wird damit eine Sinnstruktur, die Gott der Schöpfung einschreibt, damit sie, im Rahmen der Freiheit und Unabhängigkeit der Personalität des Menschen, entdeckt werden kann. Das nennt Knapp eine „anerkennungstheoretische Glaubenshermeneutik“ (369). Gott erkennt danach die Welt als „eigenständige Wirklichkeit“ (379) an, in die er nicht eingreift. Das hat Konsequenzen für die These von Gottes Allmacht.

Die Theologie stellt nun ein Modell guten, gelungenen Lebens zur Verfügung innerhalb des rationalistischen Kontextes moderner Weltbilder zur Verfügung. Dieses ist im Wesentlichen relational (410) bestimmt. „Die mit dem Glauben verbundene Erfahrung unbedingten Anerkanntseins macht das Glaubenssubjekt selbst der Existenz Gottes gewiss. Diese subjektive Glaubensgewissheit bildet die Grundlage der anderen gegenüber geäußerten Behauptung, dass Gott existiert.“ (420) Daraus folgt eine Reihe von Konsequenzen für die Theologie, die in diesem Kontext nicht erläutert werden sollen. In jedem Fall aber kritisiert Knapp den Antimodernismus der katholischen Hierarchie, die modernen Prinzip der Autonomie des Individuums widerspreche (454). Das Ergebnis lautet für ihn: „Gott ist nicht notwendig zur Erklärung innerweltlicher Sachverhalte und Zusammenhänge. Aber nach der Überzeugung religiöser Menschen bleibt er dennoch in höchstem Maße relevant.“ (475)

In der Konsequenz aus diesen Gedanken fordert Knapp ein „nachkonstantinisches“ Christentum (488), das ja zunächst in nichts anderem bestehen kann als einer durchgreifenden Selbstkritik und Reform der katholischen Hierarchie und ihres Lehramts, auch wenn ich meine, dass der Bochumer Fundamentaltheologe mit eigenen Reformvorschlägen noch etwas zögerlich bleibt. Aber daran muss sich die evangelische Theologie auch nicht unbedingt beteiligen. Aber sehr wohl sollte sie sich beteiligen an dem, was Knapp dann als die entscheidende Alternative der Moderne ansieht, nämlich der Alternative zwischen einer anerkennungstheoretischen Theologie guten Lebens unter Akzeptanz der säkularen Bedingungen moderner Gesellschaften und auf der anderen Seite einem „säkularistischen“ (488; vgl. 490) Wirklichkeitsverständnis, das den Rückgriff auf Religion nicht mehr zulässt. Und darin kommt Knapps Fundamentaltheologie mit dem zusammen, was ich hier als Reformulierung der öffentlichen Theologie bestimmt habe.

8. Historische Sinnsuche

Markus Knapp sprach von einem Gegeneinander zwischen theologischen und säkularistischen Orientierungs- und Weltdeutungsversuchen. Vielleicht ist das etwas zu sehr aus der Notwendigkeit heraus formuliert, eine theologische Orientierung in der modernen Welt zu begründen. Der Essener Historiker Jörn Rüsen hat es sich zum Anliegen gemacht, religiöse und nicht-religiöse Orientierungsleistungen miteinander zu vermitteln.[55] Dabei teilt er Knapps Einschätzung, Religion sei als „kulturelle Leistung der Weltdeutung und Selbstverständigung des Menschen“ (3) problematisch geworden. Das allerdings entlastet die Individuen und Gesellschaften nicht von der Aufgabe, an Sinnfragen, Weltdeutungen und Orientierungen zu arbeiten. Es ist das Besondere von Rüsens Ansatz, dass seine Arbeit an Sinnfragen grundsätzlich auf das Historische bezogen ist. Der Unterschied ergibt sich schnell, wenn man dieses Konzept mit dem hier vorgestellten Konzept der Lebenskunst vergleicht. Lebenskunst arbeitet an autobiographischen Orientierungsprozessen, es besteht die Gefahr, dass die soziale Dimension in den Hintergrund rückt. Zweitens ist durch die Konzentration auf das Historische stets ein Moment der Zeitdeutung mitgegeben. Lebenskunst steht in der Gefahr, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, während in Rüsens Konzept stets Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges miteinander verschränkt sind. Die Orientierungsleistungen, an die Rüsen denkt, sind stets zeitbezogen.

Im Mittelpunkt steht für Rüsen die Frage nach dem Sinn: „Sinn ist die Fähigkeit des Menschen, seine äußere und innere Welt wahrzunehmen, zu verstehen und zu behandeln.“ (7) Solcher Sinn wird entfaltet in den Dimensionen von Raum, Zeit und Selbst (5). Religion bestimmt Rüsen innerhalb dieses Kontextes als ein „Sinnkonzept, das Fragilität, Fallibilität, Vulnerabilität und Inhumanität als Grundbestimmtheiten des Menschseins nicht einfach als anthropologisch fundamentale Tatsachen hinnimmt, sondern sie als herausfordernde Problemlage des Menschseins ansieht und Lösungen entwickelt und lebenspraktisch realisiert.“ (21) Ich bin mir nicht sicher, ob diese Religionsdefinition nicht schon zu lutherisch oder mindestens augustinisch daherkommt. Das ist jedoch nicht der entscheidende Punkt. Es ist mit unterschiedlichen religiösen Sinnkonzeptionen zu rechnen. Religiöse Orientierungen sind erstens von Moral zu unterscheiden (92) und zweitens mit der nicht-religiösen, historischen Sinnbildung ins Gespräch zu bringen (z.B. 25): Historische wie religiöse Sinnbildung bearbeitet Kontingenzen (63-65), und zwar sowohl ganz alltägliche als auch kritische und katastrophische Ereignisse. Dieser Dialog macht geradezu die Pointe der Sache aus, denn Rüsen unterscheidet gesprächsbereite Formen von Religion von Fundamentalismen, Klerikalismen und Evangelikalismen, die sich alle durch ihre fehlende Bereitschaft zum Dialog mit den Bedingungen modernen Lebens und moderner Gesellschaften auszeichnen.

Rüsen konzediert religiöser Sinndeutung Referenzen auf das Transzendente und absolute Wahrheiten, warnt aber gleichzeitig vor deren Petrifizierung: „Kehrt sich diese numinose Transzendenz freilich gegen ihr innerweltliches Pendant und ignoriert ihre Komplementarität zu ihm, dann schlägt sie in ihr Gegenteil um und wird inhuman: Soziale Anerkennung wird zum Konformitätszwang religiöser Verhaltensweisen, Wahrheit wird zum Dogma der Unfehlbarkeit mit einem grundsätzlichen Allgemeinheitsanspruch, Unverletzlichkeit zur zwanghaften Zurichtungspraxis und moralische Ambivalenz zur Herrschaft des Über-Ich über den Kern der menschlichen Subjektivität, das Ich.“ (92)

Damit ist der entscheidende Punkt erreicht, der in der Perspektive dieses Essays entscheidende Bedeutung gewinnt: Es ist nicht mehr möglich, Religion und Theologie in der Moderne und unter der Akzeptanz der durch sie vorgegebenen Bedingungen als Fundamentalismus, als abgeschlossenes, nicht-dialogisches Teilsystem der Gesellschaft zu gestalten. Rüsen sucht den Dialog zwischen religiöser und säkularer Sinndeutung ebenso wie das Knapp getan hat, auch wenn bei Knapp aus bestimmten Gründen die Akzente anders gesetzt sind. Entscheidend ist die gemeinsame Arbeit an Orientierung und Deutung, an der Verarbeitung von Erfahrungen und der Anerkennung von Gegebenheiten, die sich nicht metaphysisch begründen lassen, aber trotzdem für Orientierung und Handeln von unverzichtbarer Bedeutung sind.

9. Poetische Sinnsuche

Es wäre fatal, die hier beschriebenen theologischen und nicht-theologischen Versuche der Systematisierung von Lebensdeutungen und Orientierung nur auf den Bereich der Kulturwissenschaften zu beschränken. Der schottische Schriftsteller John Burnside hat Vorlesungen über Lyrik und Poetik im 20. Jahrhundert vorgelegt[56]. Dabei geht er nicht chronologisch vor. Im Zusammenhang dieser Überlegungen ist interessant, dass er sich an wichtigen anthropologischen Themen wie Frieden, Krieg, Liebe, Erotik, Politik, Trauer, Sterben, Tod, Kosmologie abarbeitet. Stets erläutert er diese Themen mit Beispielen aus der (zumeist) englischsprachigen Lyrik. Burnside hat sozusagen eine lyrische Anthropologie (oder Dogmatik?) geschrieben.

Dabei nimmt der Autor eine Reihe von Grundentscheidungen vor, die seine Reflexionen zwar nicht in der Nähe der Theologie, wohl aber in die Nähe der hier verhandelten Orientierungsleistungen und Anstrengungen zur Sinnsuche bringen. Im Anschluß an Randall Jarrell bestimmt er sein Thema als „the dailiness of life“ (I), was sofort einen unmittelbaren Anschluß an das Thema der Lebenskunst bietet. Er bestimmt seine Aufgabe als das, „what might be described as a science of belonging” (II). Orientierung wird bestimmt als Verortung, als ein Sinn für Zugehörigkeit, aber nicht im bürokratischen Sinne der Mitgliedschaft der Beitragszahler, sondern des vertrauensvollen Miteinanders.

Es ist hier nicht der Ort, die einzelnen Thesen hervorzuheben, die Burnside im Durchgang seiner Poetik entwickelt. Es ist leider schade, dass sich Burnside in keinem seiner Kapitel so richtig auf Religion und Theologie einlässt, obwohl die Religion in einigen seiner Romane eine sehr bedeutende Rolle spielt[57]. Entscheidend ist, dass er nicht Argumente positioniert, sondern seine Beispiele aus der Lyrik entnimmt und damit der Methode von Orientierung und Deutung eine neue Dimension gibt. Das Thema allerdings, das er verhandelt, ist dasselbe wie bei Knapp, bei Rüsen und auch in der Philosophie der Lebenskunst.

Das wird aus der Schlusspassage deutlich: „However, this book is a plea not for passive acceptance of whatever goes on (…) as inherently interesting for its own sake but for a live critical culture in which poets and readers from many backgrounds might engage with one another, on as equal a basis as political systems and commercial-cultural trends allow. This requires us to remember what we mean by a ‘world culture’ in the first place and to work together to sustain it. It will call, no doubt, for love without forgiveness. It will call for improbable feats of memory and reconstruction. More than anything else, however, it will call for la razón poética to be placed on its proper footing as a method for investigating the given world as an equal and fully respected partner with logical method, so that human beings come to see that, in the overall scheme of things, the music of what happens is all one fabric, and that we think of as noise is part of that fabric’s warp and weft. The obligation we have, as observers and venerators, is to become more attentive to that fabric and so learn how to stay attuned to the music we have been given, rather than trying to create a perfect harmony that can never exist.” (460f.; Hervorhebungen wv)

Dazu einige interpretatorische Bemerkungen: Man sollte sich vom leichten Pathos dieser Sprache, auch im nüchternen Englisch zu spüren, nicht täuschen lassen. Auch Burnside geht es um Fragen der Orientierung, Sinnfindung und Lebensdeutung, die über das bloß Faktische hinausweisen. Darin kommt er überein mit den beiden vorher diskutierten Entwürfen Rüsens und Knapps. Burnside liegt an einer Bestimmung des Individuums oder des Subjekts, das seine Abhängigkeit von der es umgebenden Welt entdeckt. Das ist für ihn das entscheidend wichtige Thema des Orientierungsdiskurses. Er vertraut darauf, dass in poetischer Sprache Dinge besser, angemessener, tiefer zum Ausdruck kommen können als in argumentierender Wissenschaftssprache.

10. Rechtsphilosophische Sinnsuche

Der 2013 verstorbene Rechtsphilosoph Ronald Dworkin hat das Nachdenken über Religionsfreiheit und über das Zusammenleben religiöser wie nichtreligiöser Menschen und Gruppen zu einem Grundthema seiner lebenslangen Reflexionen gemacht. Das geschah schon in dem Band „Life’s Dominion“[58], der sich auf die Frage nach der Begründung des Verbots oder der Erlaubnis der Abtreibung konzentrierte, im Kontext des Supreme Court Urteils Roe v. Wade. Vor seinem Tod legte er nochmals Vorlesungen über Religion und Theologie vor[59], die hier interessieren, weil Dworkin darin über den Unterschied zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen reflektiert.

Dworkin erkennt zwischen beiden Gruppen gar keinen so großen Unterschied (11). Er meint, dass die Berufung auf absolute Werte nicht von der Berufung auf einen theistischen Gott abhängig sei. Das heißt: Auch Atheisten können sich auf Werte berufen, obwohl sie die Existenz Gottes leugnen. „Ich behaupte lediglich, dass es für die Wahrheit religiöser Werturteile irrelevant ist, ob es einen solchen Gott gibt.“ (32) Damit aber wäre das, was bisher als die religiöse Dimension der Sinnfrage vorgestellt wurde, gar nicht auf Anhänger von Religion oder religiöse Individualisten beschränkt, sondern es wäre Sache aller gesellschaftlichen Diskursteilnehmer, über den Sinn des Lebens und die Orientierung in der Lebenswelt zu diskutieren.

Nicht umsonst nimmt Dworkin auf den hier schon erwähnten Paul Tillich Bezug, der ein symbolisches Verständnis des Begriffs des personalen Gottes vorgelegt habe (39ff.). Dem folgen Überlegungen zur intrinsischen Schönheit von Natur und Kosmos (47ff.), zur Religionsfreiheit (95ff.) und zu Sterben und Tod.

Am Ende kommt Dworkin zu dem Ergebnis, er wolle die These vertreten, dass „Menschen einen tiefen religiösen Impuls teilen, der sich in diversen Überzeugungen und Emotionen manifestiert hat. Über lange Strecken der Geschichte hat dieser Impuls zwei Arten von Überzeugungen hervorgebracht: einen Glauben an eine intelligente übernatürliche Macht – einen Gott – und einen Strauß tiefgründiger ethischer und moralischer Überzeugungen. Beide Überzeugungsarten entstammen also der gleichen Quelle, aber sie sind voneinander unabhängig. Atheisten können Theisten daher im Hinblick auf ihre tiefsten religiösen Bestrebungen im vollen Sinn als Partner akzeptieren. Theisten können anerkennen, dass die moralischen und politischen Überzeugungen der Atheisten auf derselben Grundlage fußen wie die ihren.“ (130f.) Dieses Argument verstärkt noch einmal die Forderung Rüsens nach einer Diskussion über Sinnfragen, an der sich nicht nur Glaubende und religiöse Menschen, sondern alle Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihrer philosophischen Tradition oder ihrer religiösen Überzeugung beteiligen.[60] Das könnte im übrigen der alten Diskussion um Zivilreligion neuen Auftrieb geben.[61] Aber das soll nicht mehr sein als der Hinweis auf eines meiner alten Lieblingsthemen.

11. Aufmerksamkeit         

Ein langer Aufsatz, ein weites Feld. Es ist Zeit, die Theologie neu zu definieren, als gemeinsame Arbeit an Sinnsuche und Orientierung, unter Rückgriff auf die theologischen Traditionen, welche Gemeinde und Glaubende seit Jahrhunderten begleiten. Diese gemeinsame Anstrengung besitzt eine individuelle und eine öffentliche Seite. Letztere darf nicht zu Moralismus, Fundamentalismus oder Positionalismus verdünnt werden. Schon gar nicht darf dieser Diskurs binnenkirchlich oder politisierend verkürzt werden. Mit dieser Neuorientierung öffnen sich für die Theologie eine ganze Reihe von neuen Feldern. Die Gesprächspartner, um diese neuen Felder gemeinsam zu bestellen, stehen in Theologie und Gemeinde, aber auch in Kunst und Literatur längst in der Startposition.


Anmerkungen

[1]    Wolfgang Vögele, Onkel Ernst und die portugiesischen Revolutionäre. Warum und in welchem Umfeld ich in den achtziger Jahren Theologie studierte, tà katoptrizómena, H. 129, Februar 2021, https://theomag.de/129/wv063.htm.

[2]    Wobei zu konstatieren ist, dass die Fortsetzung meines theologischen Bildungsweges von der Dissertation bis zur ersten richtigen Stelle als Studienleiter an der Evangelischen Akademie Loccum nicht weniger von Zufällen, Hindernissen und bereichernden Begegnungen mit Theologen wie Nicht-Theologen bestimmt war als der erste Teil. Aber die Fortsetzung dieser Erzählung in einem weiteren personal essay muss noch warten, bis mir der Ruhestand dafür die Zeit gibt.

[3]    Vgl. dazu Florian Höhne, Öffentliche Theologie. Begriffsgeschichte und Grundlagen, Öffentliche Theologie 31, Leipzig 2015; Torsten Meireis, Rolf Schieder (Hg.), Religion and Democracy. Studies in Public Theology, Baden-Baden 2017.

[4]    Vgl. dazu erste Überlegungen in Wolfgang Vögele, Schach in Gelee. Fallstudien zur öffentlichen Theologie, Theologische Orientierungen 50, Münster u.a. 2022.

[5]    In den vergangenen Jahren habe ich für tà katoptrizómena eine Fülle von Rezensionen geschrieben, in denen jedes Mal im Mittelpunkt die Frage stand, wie der Autor oder die Autorin mit den Themen Religion und Theologie umgeht. Zu diesen Autoren gehörten, in alphabetischer Reihenfolge: Edoardo Albinati, Emmanuel Carrère, Leonard Cohen, Mathias Énard, Péter Ésterhazy, Michael Hampe, Michel Houellebecq, Daniel Kehlmann, Fernando Pessoa, Stephan Thome und andere. Die Texte lassen sich im Aufsatzverzeichnis dieser Zeitschrift leicht recherchieren.

[6]    Die Theologie vergisst im Moment, dass diese Frage schon der späte Helmut Gollwitzer, ausgewiesener lutherischer Barthianer, Mitglied der Bekennenden Kirche, und aktiver politischer Theologe der Friedensbewegung und des Studentenprotests der sechziger Jahre, in seinem Buch „Krummes Holz, aufrechter Gang“ nachgegangen ist: Helmut Gollwitzer, Krummes Holz, aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1972.

[7]    Es ist eine gefährliche Entwicklung, wenn Fakultäten die Aufgabe der Theologie auf Moderationstätigkeit zwischen religiösen Optionen beschränken. Dazu Mark Oppenheimer, Theology Schools, Facing Lean Times, Look to one Another and the Web, New York Times 18.3.2016, https://www.nytimes.com/2016/03/19/us/theology-schools-facing-lean-times-look-to-one-another-and-the-web.html.

[8]    S.u. Abschnitt 4.

[9]    Dazu Wolfgang Vögele, Kirchenkritik. Beiträge zu Kirchentheorie, praktischer und ökumenischer Theologie, KirchenZukunft konkret 12, Münster u.a. 2019.

[10]   Dazu Wolfgang Vögele, Brot und Wein. Gegenwärtige Abendmahlspraxis und ihre theologische Deutung, tà katoptrizómena, Heft 109, Oktober 2017, https://theomag.de/109/wv036.htm.

[11]   Dazu die Reflexionen über Ambiguitätstoleranz von Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, Ditzingen 2017.

[12]   Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985.

[13]   In der prominenten Singularisierungstheorie von Andreas Reckwitz tauchen die institutionell verfassten Kirchen als Verlierer der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung gar nicht mehr auf. Das sollte der ekklesiologischen und religionssoziologischen Diskussion zu denken geben. Vgl. dazu Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017; zur religionssoziologischen Deutung des Befundes Wolfgang Vögele, Singularisierung, Säkularisierung oder sichere Schrumpfung. Eine Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz‘ These von der Singularisierung unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage in Religionssoziologie und Kirchentheorie, tà katoptrizómena, Heft 125, Juni 2020, https://theomag.de/125/wv059.htm.

[14]   Vgl. dazu stellvertretend für andere Publikationen Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg Basel Wien 2004; ders., Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg Basel Wien 2012.

[15]   Matt Haig, The Midnight Library, London 2021.

[16]   A.a.O., 283.

[17]   André Gide, Die Falschmünzer, München 1981 (1925), 94.

[18]   Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt 1998; Wolfgang Vögele, Weltgestaltung und Gewißheit. Alltagsethik und theologische Anthropologie, Protestantische Impulse für Gesellschaft und Kirche 4, Münster 2007.

[19]   Das Zitat von Ezra Pound findet sich, ausdrücklich zustimmend zitiert, bei Roberto Calasso, Die Literatur und die Götter, München 2003 (italien. 2001), 36.

[20]   Leila Slimani, Der Duft der Blumen bei Nacht, München 2022, 90.

[21]   A.a.O., 98.

[22]   A.a.O., 101.

[23]   A.a.O., 102.

[24]   Diesen Zusammenhang habe ich ausführlich behandelt in meinem Band Kirchenkritik, a.a.O., Anm. 9.

[25]   Ralf Frisch, Eine kurze Geschichte der Gottvergessenheit. Einige Gedanken zum Zustand der evangelischen Kirche einhundert Jahre nach Karl Barths Revolution der Theologie, Theologische Beiträge 51, 2020, 424-439.

[26]   Eine scharfsinnige Ausnahme bilden die Arbeiten des Berliner Theologen Notger Slenczka, dessen umstrittene Plädoyers für eine Neubewertung des Alten Testaments im Licht des Evangeliums auf Missverständnisse und Widerspruch gestoßen sind. Vgl. Notger Slenczka, Theologie der reformatorischen Bekenntnisschriften. Einheit und Anspruch, Leipzig 2020; zur Interpretation von Slenczkas Bekenntnistheologie Wolfgang Vögele, Eisern Union? Evangelische Bekenntnisse und Glaubenswahrheiten unter den Bedingungen des Pluralismus, tà katoptrizómena, H.4, Nr. 132, 2021, https://theomag.de/132/wv071.htm.

[27]   Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, Gütersloh 1998.

[28]   Paul Tillich, Systematische Theologie. Bd. 1 +2., Darmstadt 1984 (1958).

[29]   Wolfgang Vögele, Grenzgänge. Paul Tillichs Emigration in die Vereinigten Staaten und sein theologisches Reden über die Grenze, in: D.Schößler, M.Plathow (Hg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen. Politische, theologische und weltanschauliche Aspekte transatlantischer Beziehungen, Transatlantische Beziehungen 2, Wiesbaden 2019, 175-203.

[30]   Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983; ders., Systematische Theologie, Bd.1-3, Göttingen 1988-1993.

[31]   Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977, 7. Aufl. 2001.

[32]   Dazu Vögele, a.a.O., Anm. 1.

[33]   Michael Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992; ders., Was geht vor beim Abendmahl?, Stuttgart 1999.

[34]   Klaas Huizing, Ästhetische Theologie, Bd. 1-3, Stuttgart 2000-2004; ders., Lebenslehre – Eine Theologie für das 21. Jahrhundert, Gütersloh 2022.

[35]   Christian Grethlein, Kommunikation des Evangeliums in der Mediengesellschaft, Leipzig 2003; ders., Abendmahl feiern in Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Leipzig 2015.

[36]   Ein Überblick findet sich bei Ulrich Körtner et al. (Hg.), Konzepte und Räume Öffentlicher Theologie. Wissenschaft – Diakonie – Kirche, Öffentliche Theologie 39, Leipzig 2020.

[37]   Zum Versuch eine nicht-moralistische evangelische Ethik zu formulieren: Vögele, a.a.O., Anm. 4.

[38]   Insbesondere wäre anzugehen gegen die einseitige Interpretation der ‚Kirche des gerechten Friedens‘ in ihrer pazifistischen Engführung. Bei der letzten Synode der Badischen Landeskirche im Oktober 2022 hat der Heidelberger Kirchenhistoriker Christoph Strohm auch dringend zu erweiternde Kritik am ‚Friedensinstitut‘ an der Ev. Fachhochschule Freiburg geübt. Im Übrigen würde gelten: Man müsste den Anspruch, ‚Kirche des gerechten Friedens‘ zu sein, einmal am kirchlichen Verwaltungshandeln messen. Dann würden Differenzen zwischen naiven Wünschen und Wirklichkeit deutlich, welche die Inanspruchnahmen des Schlagworts als ungedeckte Schecks entlarven, die ein ohnehin überschuldetes Konto noch weiter strapazieren.

[39]   Im übrigen ist es zynisch, wie es im Moment Mode zu werden scheint, von ‚verletzlicher‘ Kirche zu reden, wenn Kirche im Dienstrecht, in der klerikalen Verwaltung und im praktisch-theologischen Handeln selbst mehr als genug andere, nicht nur eigene Mitarbeiter, verletzt.

[40]   Vgl. dazu Reckwitz, a.a.O., Anm. 13.

[41]   Torsten Meireis, Öffentlichkeit – eine kritische Revision. Zur Grundlegung öffentlicher als kritischer Theologie, in: M.Becka et al. (Hg.), Sozialethik als Kritik, Baden-Baden 2020, 125-158, hier: 152-153.

[42]   Zit.n. Hans-Peter Balmer, Condicio humana oder Was Menschsein besage. Moralistische Perspektiven praktischer Philosophie, München 2018, 123. Vgl. dazu Vögele, a.a.O., Anm. 4.

[43]   S.o. Anm. 7.

[44]   Zu Grethlein, a.a.O., Anm. 34.

[45]   Wolfgang Vögele, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie, Öffentliche Theologie 14, Gütersloh 2000.

[46]   Wolfgang Vögele, Raum in der kleinsten Kapelle. Über den Maler Henri Matisse, seine ungläubige Theologie und die Ästhetik der Vereinfachung, tà katoptrizómena, Heft 121, Dezember 2019, https://theomag.de/122/wv056.htm.

[47]   Die entsprechenden Beispiele und Analysen sind in dieser Zeitschrift vielfältig nachzulesen.

[48]   Das sei hier nur als These in den Raum gestellt. Ich hoffe, dazu in naher Zukunft einen eigenen Essay vorlegen zu können.

[49]   Vgl. Vögele, a.a.O., Anm. 9.

[50]   Zu Joas, a.a.O., Anm. 14.

[51]   S.o. Abschnitt 5.

[52]   Dieses spannungsreiche Problemfeld sei hier nur angedeutet; es bedürfte einer eigenen theologischen Auseinandersetzung.

[53]   Über Magnus Striets Theologie: Wolfgang Vögele, Obertöne des Schweigens. Über Magnus Striet, Gottes Schweigen, tà katoptrizómena, Heft 107, Juni 2017, https://www.theomag.de/107/wv034.htm.

[54]   Markus Knapp, Weltbeziehung und Gottesbeziehung. Das Christentum in der säkularen Moderne – eine anerkennungstheoretische Erschließung, Freiburg Basel Wien 2020. Die Seitenangaben im folgenden Abschnitt beziehen sich auf dieses Werk.

[55]   Jörn Rüsen, Historische Sinnbildung. Grundlagen, Formen, Entwicklungen, Wiesbaden 2020. Alle folgenden Seitenangaben des Abschnitts beziehen sich auf dieses Buch. Vgl. auch Martin Klüners, ders., Religion und Sinn, Philosophie und Psychologie im Dialog 2020.

[56]   John Burnside, The Music of Time. Poetry in the Twentieth Century, Oxford Princeton 2020. Alle folgenden Seitenangaben in diesem Abschnitt stammen aus diesem Band.

[57]   Zum Beispiel in John Burnside, Glister, München 2009 (engl. 2008); ders., In hellen Sommernächten, München 2012 (engl. 2011).

[58]   Auf deutsch erschienen als Ronald Dworkin, Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit, Reinbek 1994.

[59]   Ronald Dworkin, Religion ohne Gott, Berlin 2014 (engl. 2013). Alle folgenden Seitenangaben in diesem Abschnitt beziehen sich auf dieses Buch.

[60]   Ich teile nicht die Kritik, die Johannes Fischer an Dworkin geübt hat. Sie besteht vor allem darin, ihm ein wissenschaftlich verengtes Verständnis von Wirklichkeit vorzuwerfen, das darin bestehe, nicht die unterschiedlichen Ebenen von „Wirklichkeitspräsenzen“ oder „Präsenzräumen“ zu erfassen. Fischer sieht den Gottesdienst als einen solchen Präsenzraum: „Oder vollzieht sich ein Gottesdienst nicht in einem gänzlich anderen Raum, nämlich dem der Präsenz des Heiligen, das in Gebet und Fürbitte angerufen wird, und müsste nicht alles, was im Gottesdienst geschieht, bis hin zu Schweigen und Stille, durch diesen Raum bestimmt sein, in dem die Lebenswirklichkeit im Spiegel biblischer Texte noch einmal eine andere Artikulation und Symbolisierung erfährt, als sie sie außerhalb dieses Raumes hat?“ Das mag ja richtig sein, aber solche Präsenzräume gewinnen ja keine Objektivität, sondern sie sind durch theologische, liturgische, allgemein gesprochen ritualhafte Planung performativ hergestellt – und nicht als sei es mystischer, sei es sozial-spiritueller Beleg für die Wirklichkeit anzusehen. Vgl. Johannes Fischer, Der Verlust der Wirklichkeitspräsenz. Zu Ronald Dworkins ‚Religion ohne Gott‘, EvTh 75, 2015, 120-135.

[61]   Dazu Wolfgang Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, Öffentliche Theologie Bd. 5, Gütersloh 1994.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/141/wv77.htm
© Wolfgang Vögele, 2023