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Magazin für Theologie und Ästhetik


Virtuelle Räume III

Ein Rundblick

Andreas Mertin

Was ist religiöse Erfahrung? Und wann kann in einem qualifizierten Sinne von ihr gesprochen werden? Ist Teilhabe an der Religion eine unabdingbare Voraussetzung oder reicht schon die interessierte und wohlgesinnte Betrachtung? Was aber unterscheidet den Baedecker-Christen, der sich für die kulturellen Gehalte und Objektivationen des Christentums interessiert, vom Gläubigen, der an Gottesdienst und Liturgie teilnimmt? Sind das nur quantitative oder qualitative Differenzen? Diese Fragen bleiben, wie die Reaktionen auf die letzten beiden Teile dieses Rundblicks in virtuelle Räume zeigen, in der Leserschaft des Magazins für Theologie und Ästhetik umstritten.

Wenn religiöse Erfahrung an Teilhabe gebunden ist, so fragte jemand, was leistet dann Religionsunterricht? "Religion zum Sprechen bringen ist mehr als Reden über Religion. Ohne konkrete Wahrnehmungen von Religion, die Bewegung in ihren Räumen und den leiblichen Kontakt mit ihren Formen, ist religiöses Lernen nicht darstellbar. Religion ist immer konkret erfahrene und gelebte Religion."[1] Silke Leonhardt und Thomas Klie, die diese Sätze unter dem Stichwort "Performative Religionspädagogik. Religion leiblich und räumlich in Szene setzen" schreiben, bestehen auf der Differenz von "Reden über .." und "Teilhabe an ..." Religion. Ich würde ihnen aus einer Vielzahl von Gründen darin folgen. Auch wenn Religion ohne ein gehöriges Maß an Virtualität und virtueller Kommunikation nicht funktionieren kann, so ist die technisch simulierte religiöse Welt von dem was Religion substantiell auszeichnet doch um Welten entfernt.

Der virtuelle religiöse Raum ist m.E. gerade kein Simulacrum des religiösen Raumes: Nach Roland Barthes rekonstruiert ein Simulacrum seinen Gegenstand durch Selektion und Neukombination und konstruiert ihn so neu. Es entsteht eine "Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern einsehbar machen will"; das Simulacrum ist ein Merkmal der strukturalistischen Tätigkeit: "Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit besteht darin, ein 'Objekt' derart zu rekonstruieren, dass in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert. Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein Simulacrum des Objekts" [wikipedia]. Genau das wird mit der virtuell rekonstruierten Kirche als Gebäude gerade nicht erreicht. Es ist ein Simulacrum des Kirchengebäudes und mehr nicht und genau darin der Religion äußerlich.

Trotzdem kann die Begegnung mit virtuellen religiösen Räumen ein erster Schritt hin zu einem "realen" Besuch sein oder eine Vergegenwärtigung nach einem Besuch des betreffenden Ortes. Und natürlich kann jeder an sich selbst überprüfen, ob das religiöse Objekt "Kirchenraum" virtuell derart rekonstruiert werden kann, "dass in dieser Rekonstruktion zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert".

Kulturhauptstädte

Im dritten Teil der Reise durch virtuelle Räume geht es dieses Mal um religiöse Räume in drei der Kulturhauptstätten dieser Welt: Paris, Rom und Venedig. Alle drei Städte sind mit mehr oder weniger interessanten QTVR-Beispielen im Netz vertreten.

Paris ...

Bei den vorgestellten Adressen ist ein Quicktime-Player die Voraussetzung, um in den Bildern 'spazieren' zu gehen.

... hat unter der Adresse http://fromparis.com/html/panoramas.php zahlreiche Panoramen zu bieten. Man kann sich dabei zunächst auf einem kleinen Stadtplan das gewünschte virtuelle Projekt aussuchen und es dann ansteuern.

Warum die Mehrzahl der Panoramen überdramatisiert und damit leicht kitschig beleuchtet in der Abenddämmerung gezeigt werden, ist kaum ersichtlich. Ein klarer Blick bei Tage hätte es auch getan. Aber so wird wohl der heutigen Eventkultur illuminatorisch Tribut gezollt. Nur die letzten drei aufgeführten Adressen bieten mehr als ein virtuell begehbares Bild, sie laden zur näheren Erschließung ein. Ich konzentriere mich im Folgenden auf das Beispiel von Notre Dame.


Notre Dame in Paris ...

... ist unter der Adresse http://fromparis.com/html/virtual_tour.php?title=notre_dame&pano=000086_03 aufrufbar.

Die Kathedrale Notre-Dame de Paris in Paris ist eine der frühesten und größten gotischen Kathedralen Frankreichs. Sie ist Maria, der Mutter Jesu, geweiht (französisch: notre Dame = Unsere Liebe Frau). Da in Frankreich viele Kirchen den Namen Notre Dame tragen, wird sie zur Unterscheidung Notre-Dame de Paris genannt. Der Bau wurde im Jahr 1163 unter Bischof Maurice de Sully begonnen und erst 1345 fertiggestellt. Die beiden Türme sind 69 Meter hoch. Das Kirchenschiff ist im Inneren 130 Meter lang und 48 Meter breit. 9000 Personen finden in der Kirche Platz. Während die französischen Könige traditionell in der Kathedrale Notre-Dame in Reims gekrönt wurden, ließ sich der zehnjährige englische König Heinrich VI. während des Hundertjährigen Krieges 1431 in Notre-Dame de Paris zum König von Frankreich krönen. Napoléon Bonaparte krönte sich am 2. Dezember 1804 in Notre-Dame de Paris in Anwesenheit des Papstes Pius VII. selbst zum Kaiser der Franzosen, seine Frau Joséphine krönte er zur Kaiserin. Im 19. Jahrhundert wurde der Bau - wie viele andere mittelalterliche Kirchen Frankreichs - von Eugène Viollet-le-Duc restauriert. Besonders bekannt wurde die Kathedrale durch den Roman Der Glöckner von Notre-Dame (französisch Notre-Dame de Paris) von Victor Hugo und dessen Verfilmungen. Frankreichs kilomètre zéro (Kilometer Null), der Referenzpunkt für die Entfernungsangaben z. B. der nach Paris führenden Autobahnen, liegt auf dem Platz vor der Kathedrale. Musikgeschichtlich bedeutsam ist die Notre-Dame-Epoche (ca. 1160-1250). Ihr Name leitet sich von der Pariser Kathedralkirche her, an der die beiden Hauptvertreter dieser Kompositionsschule, Léonin und Pérotin als Magister tätig waren. Die drei Titularorganisten der Kathedrale sind derzeit Olivier Latry, Philippe Lefebvre und Jean-Pierre Leguay. [wikipedia]

Der Aufruf der oben angegeben en URL bietet Zugriffsmöglichkeiten und Perspektiven rund um die Kirche, auf die Hauptfassade und auf das Innere der Kirche. Zugleich informiert ein englischsprachiger Text über die Geschichte der Kirche.

Die einzelnen Virtualisierungen sind von unterschiedlicher Qualität. Zum Teil sind es tatsächlich "nur" Panoramen, d.h. Rundblicke vom Turm oder vom Garten der Kirche. Da, wo es dann auch religiös interessant werden könnte, bei der Frontfassade, fehlen gerade jene Einblicke, die die theologische Botschaft der Skulpturen besser lesen lassen würden. Wenn denn ein Tympanon zu den ersten massenmedialen Ereignissen der Menschheitsgeschichte gehört, wäre ein erschließendes Panorama hier sicher sinnvoll gewesen. So aber kann man nur andeutungsweise die Botschaft erschließen [Es gibt freilich so genannte assoziierte Fotos, die hier etwas weiterhelfen].

Begibt man sich in das Innere der Kirche, so bieten acht unterschiedliche Standorte Einblicke in das Kirchengebäude. Hier stellt sich spontan vor allem das von der gotischen Konstruktion provozierte Blickgefühl nach oben ein. Der Betrachter wird geradezu verführt, nach oben zu schauen. Von der Kirche selbst - abseits vom bloßen Raumeindruck - erfährt man freilich zu wenig, man kann kaum Einblick in die liturgische Struktur des Raumes nehmen. Dazu müssten Panoramabilder etwa auch auf halber Höhe des Kirchenraumes angeboten werden.


Kirchen von Rom ...

... findet man u.a. unter der Adresse http://www.fullscreenqtvr.com/minavaticano01-10.html im Netz. In einem gewissen Sinne synästhetisch sind diese virtuellen Rundgänge allein schon dadurch, dass sie mit Musik verbunden sind. Darüber hinaus sind die einzelnen Ansichten einer Kirche durch Hotspots verbunden. Angeboten werden unter dieser Adresse

  • Basilica Santa Maria Maggiore
  • Basilica Santa Maria Maggiore - Cappella Sistina
  • Basilica San Giovanni in Laterano
  • Basilica San Paolo fuori le Mura

Santa Maria Maggiore ist eine der vier Patriarchalbasiliken Roms. "Die heutige Kirche wurde unter Papst Sixtus III. errichtet, nachdem 431 das Konzil von Ephesus Maria, die Mutter Jesu, als Gottesgebärerin verkündet hatte. Dies führte zu einem Aufblühen des Marienkultes. Der Bau wurde von 432 bis 440 errichtet und ist bis heute im Wesentlichen erhalten. Es handelt sich um eine flachgedeckte, dreischiffige Säulenbasilika, die mit zahlreichen Anbauten versehen ist. Das Querschiff wurde im 13. Jahrhundert errichtet, wie auch die heutige Apsis der Kirche. Im Jahr 1377 wurde die 75 m hohe Campanile (Glockenturm) im Stil der Romanik fertiggestellt. Sie gilt als der höchste Turm im Stil der Romanik in Rom." [wikipedia] Der virtuelle Zugriff geschieht zum einen mit Blicken von außen, zum anderen durch einen beeindruckenden Blick in das Kirchenschiff.

Ebenfalls virtuell betrachtet werden kann die in den Jahren 1584-1590 von Sixtus V. gestiftete und von Domenico Fontana entworfene Cappella Sistina. Allerdings gilt auch hier, dass der Betrachter so gut wie nichts von den bedeutenden Kunstwerken der Kirche mitbekommt. Lediglich die Statue Pius XI. (jener Papst, der das Dogma der Unfehlbarkeit verkündete) kann man detaillierter betrachten.

San Giovanni in Laterano ist die nächste Station. "Die Lateranbasilika ist eine fünfschiffige Säulenbasilika. Der heutige Grundriss geht noch auf die Gründung Konstantins im 4. Jh. zurück, allerdings wurde die Kirche vom 16. bis zum 18. Jh. barockisiert. Insbesondere die monumentale Fassade stammt aus dieser Zeit. Die Türen des Hauptportals stammen von der antiken Kurie auf dem Forum Romanum. Über dem Hauptaltar erhebt sich ein Ziborium von 1367 mit den mutmaßlichen Häuptern von Petrus und Paulus. Diese wurden von Urban V. aus ihrer ursprünglichen Ruhestätte, der Sancta Sanctorum entfernt und in das neuerrichtet Ciborium versetzt. In der Kirche befinden sich zahlreiche Papstgrabmäler, in der Confessio ruht Papst Martin V.. Durch diese Grablege demonstriert der erste unumstrittene Papst nach dem Großen Abendländischen Schisma die Kontinuität des Papsttums in seiner römischen Bischofskirche; zu seiner Zeit war die eigentlich Grablege der Päpste die vatikanischen Basilika." [wikipedia] Virtuell betrachten kann man zum einen die Außenfassade, sowie zwei Blicke ins Innere der Kirche, darunter ein etwas genauerer Blick auf die Apsis.

San Paolo fuori le Mura ist die dritte Patriarchalbasilika im Angebot. "Die heutige Basilika, die nach einem Entwurf von L. Poletti entstanden ist, hält sich in den Dimensionen an das Vorbild der alten Kirche und wurde 1854 von Papst Pius IX. eingeweiht. Der Innenraum lässt trotz reicher Marmor- und Alabasterarbeiten die Feinheit der ursprünglichen Ausstattung vermissen. Beim Neubau wurde beispielsweise die Kannelierung der Säulen unterlassen. Dennoch spiegelt der Säulenwald, der die Basilika in fünf Schiffe unterteilt, die ursprüngliche Raumwirkung wider und lässt damit auch die Wirkung der ähnlich dimensionierten und konstruierten Basilika Ulpia auf dem Trajansforum erahnen. Der Baldachin, der sich über dem Apostelgrab erhebt, stammt aus dem 13. Jahrhundert. Auf dem Hauptaltar darunter, unter dem nach dem Brand Reste des antiken Paulusgrabes aufgespürt wurden, feiert wie auch im Petersdom traditionellerweise nur der Papst die Messe. Das Grab wurde seit über 150 Jahren keiner weiteren Untersuchung unterzogen. Darüber steht der Triumphbogen, der ein Geschenk der Kaiserin Galla Placidia aus dem 5. Jahrhundert ist. Der Bogen, der Baldachin und die Apsis mit den Mosaiken aus dem 13. Jahrhundert sind die einzigen Ausstattungsstücke aus alter Zeit. Über den Säulen zieht sich ein langes Band von 265 Medaillons mit den Porträts der Päpste hin." [wikipedia] In der Panoramadarstellung kann man hier die Anfang des 20. Jahrhunderts gebaute viereckige Säulenhalle betrachten sowie natürlich das Kircheninnere. Auch das ist insgesamt ein beeindruckender Anblick und man wünscht sich Virtualisierungen herbei, die es einem wirklich erlauben würden, durch die Kirche zu gehen und die einzelnen Gegenstände genauer zu betrachten.

Zu wünschen wäre schließlich, dass auch die vierte Patriachalbasilika Roms, der Petersdom, entsprechend virtuell erschlossen wird. Das wäre wahrscheinlich die "Krönung" der virtuellen Erschließung.





Venedig

... ist unter der Adresse http://www.compart-multimedia.com/virtuale/us/venice_italy/venice_travel.htm zumindest ansatzweise virtuell begehbar. Nun sollte man meinen, dass gerade Venedig sich für derartige Präsentationen eignen würde, aber fündig geworden bin ich - abgesehen von der jetzt vorgestellten Adresse - nicht. Venedig ist eines der beliebtesten touristischen Ziele in Europa und liegt auf der UNESCO-Liste der schützenswerten Kulturdenkmäler des Kontinents auf Platz 1.

Das Multimedia-Angebot beschränkt sich hier auf einige Panorama-Bilder im schmalen Format, vor allem zum Dogenpalast, der Seufzer- und der Rialtobrücke, dem Campanile etc. Von St. Marco gibt es nur einen spärlichen Außenanblick, keine der zahlreichen Kirchen Venedigs wird von innen vorgestellt. Das ist natürlich schade, denn gerade St. Marco wäre natürlich interessant für eine 360°-Fullscreen-Darstellung gewesen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Nachtrag: Wenigstens ein Fullscreen-Angebot habe ich doch noch gefunden, wenn es auch kein besonders aussagekräftiges ist. Die Gondeln am Markusplatz.


Der Artikel wird fortgesetzt ...

Der erste Teil des Artikel findet sich unter der Adresse https://www.theomag.de/36/am157.htm, der zweite unter https://www.theomag.de/37/am163.htm.

Wer zwischenzeitlich selbst in der Welt der Full Screen Quicktime-Bilder stöbern will, kann dies unter folgenden miteinander verbundenen Adressen tun:


Anmerkungen
  1. Silke Leonhard / Thomas Klie (Hg.), Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik, Leipzig 2003, S. 7.

© Mertin 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 38/2005
https://www.theomag.de/38/am165.htm