Paradigmen theologischen Denkens

Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben. Teil II

Stefan Schütze

Der erkenntnistheoretische „Konstruktivismus“ und die Folgen für die Formulierung religiöser Wahrheitsansprüche in einer pluralistischen, dialogischen und pragmatischen Perspektive

Im dritten Teil dieser Weiterführung meines „Paradigmen“-Artikels denke ich schließlich weiter über Kaufmans Bestimmung der „theological method“ als „imaginary human construction“ nach, und stelle sie in den Zusammenhang anderer „konstruktivistischer“ Wirklichkeitsdeutungen und einer an der Perspektivität aller menschlichen Wirklichkeitserkenntnis orientierten pluralistischen Epistemologie.

Grundbegriffe des erkenntnistheoretischen „Konstruktivismus“ und Konsequenzen für die Formulierung von Wahrheitsansprüchen in Wissenschaft, Ethik und Religion

Lektürebasis:

  • Fritz B. Simon, Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Heidelberg 2009
  • Heinrich Erdmann, Vom Glauben an die Wahrheit und von der Wahrheit des Glaubens. Konstruktivismus und seine Bedeutung für Wissenschaft, Weltbild, Ethik und Religion. Frankfurt a.M. 1999

Wenn Kaufman theologisches Denken nicht mehr als Auslegung eines vorgegebenen, übergeschichtlichen „depositum fidei“ versteht, sondern als „through and through“ kontingente, geschichtliche und perspektivische „imaginary human construction“, dann entspricht er damit theologisch einem Paradigmenwechsel in der allgemeinen wissenschaftlichen Epistemologie, der sich am Ende des 20. Jh. unter dem Namen des „Konstruktivismus“ weltweit vollzogen hat, nach dem menschliche Erkenntnis, auch die naturwissenschaftliche, nicht eine objektive „Abbildung“ der Wirklichkeit an sich ist, sondern das subjektive „Errechnen einer Wirklichkeit“, in der das erkennende Subjekt durch seinen biologisch formatierten Erkenntnisakt das erkannte Objekt vollständig bestimmt und in diesem Sinne „konstruiert“. Das Gehirn repräsentiert nie die externe Realität selbst, sondern immer nur sein eigenes Bild dieser Realität; neuronale Aktivitäten beziehen sich immer auf durch Sinnesreize „perturbierte“ (ausgelöste, nicht verursachte) andere neuronale Aktivitäten, so dass der menschliche Erkenntnisvorgang ein zwar energetisch offenes, aber „operational geschlossenes“ System darstellt.

Wenn aber alles Erkennen Konstruktion ist, dann müssen auch theologische Wahrheitsbehauptungen epistemologisch als menschliche „Konstruktionen“ verstanden werden. Ihre „Wahrheit“ kann nicht objektiv überprüft werden, sondern bewährt sich, wie die Wahrheit jeder Erkenntnis, in ihrer „Viabilität“, ihrer Kraft, menschliches Leben in einer unübersichtlichen Wirklichkeit hilfreich zu orientieren. Dieses pragmatische Wahrheitskriterium entspricht auch dem gerade in der pluralistischen Religionstheologie oft anzutreffenden funktionalen Verständnis religiöser Wahrheit, wie sie z.B. in Hicks Konzept der „mythological truth“ religiöser Wirklichkeitskonstruktionen zu finden ist.

Der Bedeutung des konstruktivistischen Denkansatzes „für Wissenschaft, Weltbild, Ethik und Religion“ geht der deutsche Mediziner Heinrich Erdmann in seiner hier als nächstes vorgestellten fachübergreifenden Monographie aus dem Jahr 1999 nach, ohne sich freilich auf den theologischen Konstruktivismus Kaufmans oder Hicks oder überhaupt auf die internationale theologische Diskussion, die ich hier vorgestellt habe, zu beziehen. Doch ähnlich wie diese setzt er „an die Stelle eines veränderungsresistenten christlichen Dogmatismus eine dialogorientierte, ja fast pragmatische Konzeption von Religiosität, die gesell-schaftliche Veränderungen seismographisch aufspürt und im religiösen Sinne auf ihre Gangbarkeit (Viabilität), also auf ihre Verträglichkeit mit den Bedürfnissen des menschlichen Lebens und Überlebens prüft“[1].

Erdmann selbst beschreibt, dass seine Begegnung mit dem Konstruktivismus zunächst nicht frei von Verunsicherungen war, verbunden mit der „unterschwellige(n) Angst, die man empfindet, wenn alte und liebgewordene Denkgewohnheiten aufgegeben werden müssen“; am Ende war sie für ihn aber ein großer Gewinn: „Inzwischen habe ich gelernt, dass sich die Vorstellung, absolute Wahrheiten erkennen zu können, die unabhängig von uns als Beobachter sind, nicht mehr aufrechterhalten lässt, und dies eröffnet ungeahnte neue Perspektiven und bedeutet in mancher Hinsicht geradezu eine Befreiung des Denkens.“[2]

Zu den „neuen Perspektiven“, die der erkenntnistheoretische Konstruktivismus für die Orientierung menschlichen Lebens und Glaubens bereitstellt, gehören nach Erdmann u.a. folgende:

(1) Der Konstruktivismus sieht in der Behauptung absoluter Gewissheiten „eine der größten und gefährlichsten Versuchungen der Menscheit“[3]. Erdmann führt aus: „Wohl kaum eine andere Versuchung … hat so viel Unheil und Elend über die Menschheit gebracht wie diese …“. Religiöse Fundamentalismen und politische Ideologien, die mit absoluter Wahrheitsgewissheit verbunden sind, setzen „selbst tief verwurzelte ethische Hemmschwellen außer Kraft“ und haben in der Geschichte „viele Millionen Menschenleben … gefordert … und … viele Millionen Menschen … versklavt oder ausgebeutet“ [4].

(2) Für das menschliche Miteinander bedeutet die konstruktuvistische Relativierung der eigenen Wahrheitsgewissheit dagegen, dass wir auch andere „Wahrheiten“ respektieren und gelten lassen werden. Jede Perspektive auf Wahrheit ist individuell und durch unsere eigene Wahrnehmungssituation geformt. „Wenn wir mit anderen Menschen koexistieren wollen, müssen wir auch sehen, dass deren Gewissheiten, so wenig wünschenswert sie uns auch erscheinen mögen, prinzipiell genauso legitim und gültig sind wie unsere eigenen.“[5]

(3) Der Konstruktivismus verändert die traditionell spannungsreiche Verhältnisbestimmung von Natur- und Geisteswissenschaften. Naturwissenschaften können gegenüber den Geisteswissenschaften in konstruktivistischer Perspektive nicht mehr mit dem Anspruch auf größere Objektivität und Wirklichkeitsbezug auftreten. „Konstruktivistisch gesehen gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen naturwissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Erkenntnissen.“[6] Auch der Konstruktivismus selbst beansprucht nicht, objektive Wiklichkeitsabbildung zu sein, sondern „lediglich ein kohärentes Denkmodell“, das uns hilft, „mit der prinzipiell unbegreifbaren Welt unserer Erfahrungen besser fertig zu werden“[7]. Der „beispiellose(n) Erfolg“ naturwissenschaftlicher und technischer Weltgestaltung liegt ebenfalls nicht in der objektiven „Wahrheit“ ihrer Annahmen begründet, sondern in ihrer praktischen Orientierungskraft. Ihre „Viabilität mit dem Milieu bzw. der sog. Realität ist der Viabilität z.B. des magischen Denkens weit überlegen“. Aber der technologische Fortschritt ist heute auch zur Bedrohung der menschlichen Zukunft geworden. Für viele Auswirkungen der naturwissenschaftlich-technischen Weltkonstruktion „müssen wir uns heute nämlich allen Ernstes fragen, ob wirklich noch Viabilität besteht, das heißt also, ob sie in letzter Konequenz noch mit einem Überleben der Menschheit vereinbar sind“[8].

(4) Die konstruktivistische Erkenntnistheorie betrifft selbstverständlich auch die Formulierung „religiöser“ Wahrheiten. Auch „Gott“ ist eine Konstruktion unseres neuralen Netzwerkes, der nicht notwendig eine „objektive oder ontische Realität“ entspricht. „Religion ist, konstruktivistisch gesehen, der Versuch, das prinzipiell Unfassbare unserer Existenz in Bildern zu beschreiben.“[9] Zur Beurteilung ihrer Angemessenheit lässt sich auch hier nur ein pragmatisches, kein absolutes Wahrheitskriterium formulieren: „Wenn wir nämlich das Kriterium der Viabilität auch auf religiöse Erkenntnisse anwenden, bedeutet dies, dass sich auch religiöse Erkenntnisse am Leben bewähren müssen.“[10]

(5) „Beweisen“ lässt sich also weder die von der religiösen Gotteskonstruktion unabhängige ontische Existenz noch die Nichtexistenz einer transzendenten Wirklichkeit. Religiöse Weltdeutung ist aber deshalb genauso wenig sinnlos wie naturwissenschaftliche. Man kann Religiosität vielmehr als eine kulturelle menschliche Begabung, ähnlich der mathematischen oder musikalischen Begabung, verstehen. „Es ist deshalb nicht erstaunlich, sondern sogar zu erwarten, dass religiöse Begabung – wie auch mathematische oder musikalische Begabung – individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt ist“ und bei manchen Menschen sogar weitgehend fehlen kann. „Ich habe den Verdacht, dass bei manchen Atheisten die Ablehnung von Religion wohl schlicht Ausdruck fehlender religiöser Begabung ist und nicht das Ergebnis einer höheren Stufe geistiger Erkenntnis oder Wahrheit. Atheisten müssen sich allerdings in diesem Fall dann mit der Einsicht vertraut machen, dass ihnen möglicherweise eine sehr wichtige kulturelle und für die menschliche Gemeinschaft vielleicht sogar entscheidende Fähigkeit fehlt, oder dass sie zumindest darauf verzichten, sich in dieser Fähigkeit zu üben.“[11]

(6) Dabei wird sich relgiöse Weltorientierung aber nicht nur vom Anspruch eines absoluten Wahrheitsbesitzes verabschieden müssen, sondern sich auch im Gespräch mit anderen Weltorientierungen und in konstruktivem Dialog insbesondere mit den Naturwissenschaften selbst für nötige Transformationen öffnen müssen. Schon Jesus hat „in einer sich wandelnden Zeit“ das traditionelle Paradigma jüdischen Glaubens kreativ weiterentwickelt. „Auch wir Menschen heute sollten deshalb endlich wieder den Mut haben, unsere gewandelte und sich ständig weiter wandelnde Welt religiös neu zu interpretieren.“ Die faktische Transformationsverweigerung weiter Teile unserer Kirchen hat zu einem „fatalen Zustand unserer Theologie“ geführt und „ist Mitursache für die zunehmende religiöse Sprachlosigkeit in unserer Gesellschaft.“[12] So kommt es, dass die religiöse Kommunikation von „Liebe, Hoffnung und Vertrauen“ heute vielfach vom Abbruch bedroht ist.

(7) Die theologische Transformationsarbeit, die die heutige Zeit erforderlich macht, besteht insbesondere in der Aufnahme der ökologischen Vernetzung allen Lebens auf der Erde in die theologischen und religiösen Konstruktionen, die kirchliche Ethik normieren. Der gravierende Mangel an ökologischer Sensibilität in vielen Verlautbarungen der Kirchen und ihrer Theologen ist „das Ergebnis eines immer noch anthropozentrischen und deshalb verhängnisvollen Weltbildes, und …eines anthropozentrischen und deshalb verhängnisvollen Gottesbildes“, das heute „nicht mehr viabel“ ist.[13] Hier ist die vordringliche religiöse Aufgabe unserer Zeit darum, „eine neue Theologie“ zu entwickeln, die den gewandelten Lebensbedingungen („Umwelten“) der heutigen Zeit gerecht wird. „Denn nur, wenn unser Gottesbild und unsere Theologie viabel sind, wird auch unsere Religion und unsere christliche Kirche eine Chance und ein Recht haben, zu überleben.“[14] Das Bemühen um immer neue „Viabilität“ ihrer religiösen Konstruktionen ist darum einer der wichtigsten Impulse, den der erkenntnistheoretische Konstruktivismus für Theologie und Kirche heute geben kann.

(8) Eine so verstandene Religion ist auch unter den Denkvoraussetzungen des Konstruktivismus zukunftsfähig, ja sie gewinnt unter konstruktivistischen Vorzeichen „sogar wesentlich an Gewicht und Bedeutung“, weil konstruktivistisches Denken „die Verantwortung jedes einzelnen“ für die Konstruktion einer tragfähigen ganzheitlichen Weltorientierung „wieder in den Mittelpunkt“ stellt[15]. Religion in diesem Sinne „erwächst aus transzendenten Erfahrungen und der Ahnung sowie der Hoffnung, dass alles Leben und alles Sein einen Sinn hat und dass unsere Existenz und der gesamte Kosmos in einem umfassenden Sein geborgen sind.“[16] Solche religiöse Daseinsgewissheit trägt den Menschen gerade angesichts der Ungewissheiten und Fraglichkeiten seiner gesamten Wirklichkeitskonstruktion, und vermittelt in diesem Sinne eine auch in Zukunft viable Weltorientierung.

Gordon Kaufmans Version eines theologischen „Konstruktivismus“

Lektürebasis:

  • Gordon D. Kaufman, Mystery, God and Constructivism, in: Andrew Moore, Michael Scott (Hg.), Realism and Religion. Philosophical and theological Perspectives, Aldershot , Hampshire, 2007.11-29

Gordon Kaufman variiert in diesem Beitrag zu der Frage eines „realistischen“ oder „anti-realistischen“ Verständnisses theologischer Sprache seine Interpretation religiöser Aussagen als „imaginary human constructions“. Anders als der oben beschriebene allgemeine erkenntnistheoretische „Konstruktivismus“ beginnt er aber nicht mit einer Analyse der „biologischen Wurzeln“ menschlichen Erkennens. Sein theologischer „Konstruktivismus“ ergibt sich vielmehr aus der Unterscheidung theologischer Aussagen als Aussagen über die Dimension des undurchdringlichen und unauflösbaren „mystery“, mit der uns menschliches Leben „at its deepest level“[17] konfrontiert, von vordergründigen Alltagsaussagen, die sich auf „objects“ beziehen, die „directly available to us in our experience“ sind[18]. Auch wenn der letzte Halbsatz so von einem biologischen „Konstruktivisten“ kaum formuliert worden wäre, kommt Kaufmans Konzept insgesamt der allgemeinen konstruktivistischen Erkenntnistheorie doch sehr nahe.

Kaufman variiert auf seine Weise das „pragmatische“ Wahrheitskriterium der „Viabilität“ für den Bereich menschlichen Glaubens: Religiöse „interpretations of the profound mysteries within which (our) lives transpire”[19] haben ihre “Wahrheit” und Bedeutung (“meaning”) in erster Linie pragmatisch bzw. funktional in ihrer Orientierungskraft für menschliches Leben. Sie sind keine (für Menschen unmögliche) direkte Abbildung einer transzendenten Wirklichkeit, sondern als „our own human contrivances“ immer „humanly constructed“[20]. Dieser theologische Konstruktivismus bedeutet nicht, dass „our human beliefs in and about God are necessarily misplaced or false”[21]; auch andere menschliche Meta-Begriffe wie „Selbst“, „Welt“ oder „Wirklichkeit“ sind ja Konstruktionen des menschlichen Denkens und dennoch sinnvoll und heuristisch plausibel. Aber ein mögliches „reality testing“ religiöser Aussagen kann eben nicht in der Bestimmung ihrer vom menschlichen Denken unabhängigen faktischen „Wahrheit“ bestehen, sondern nur in einer Beurteilung „(of) the roles they play in our lives and their importance to us“[22].

Menschliche Gottesaussagen stehen immer in der Gefahr einer „idolatrous“ Bemächtigung einer menschlichem Verstehen fundamental entzogenen transzendenten Wirklichkeit. „To claim we know with certainty who or what is God would be to claim that our concept of God … captures what or who God really is. Such a claim is nothing more than reification of our own ideas” über das Göttliche. “Gott” ist insofern auch nach religiösem Verständnis kein Name für eine dinglich erfassbare “höchste Wirklichkeit”, sondern ein geschichtlich gewachsenes „exceedingly complex and intricate symbol“[23] menschlicher Imagination für die Grunddimension von „mystery“, die unser Dasein umgibt.

Die Probleme und Widersprüche des Gottesbegriffes im Rahmen heutiger Wirklichkeitsdeutung haben viele Menschen dazu veranlasst, dieses Konzept ganz aus ihrer Weltorientierung zu verbannen. Andere Menschen wollen das Wort „Gott“ dennoch weiter benutzen, weil es ein fundamentaler, wenn auch oft missbrauchter, Bestandteil unserer Kultur und Geschichte ist, der weiterhin „important values“ für menschliches Leben vermitteln und es zugleich vor „certain serious dangers[24] bewahren kann.

Kaufman betont in diesem Sinne die unersetzbare Tiefe des Gottesgedankens als eines der „great and comprehensive thoughts“ menschlicher Wirklichkeitskonstruktion, „without which we could not guide or order our lives“. Die menschliche Rede von “Gott” ist „a symbol created over countless generations by humans seeking to bring before their minds, and hold in their hearts, what they regard as the ultimate reality behind all that is, … that ‘ultimate point of reference’, as I like to call it, in terms of which we seek to understand and explain to ourselves all that is and all that occurs”[25].

Die Erkenntnis, dass auch das Gottessymbol (wie alle umfassenden Symbole unserer Wirklichkeitsdeutung) „nur“ eine Konstruktion der menschlichen Imagination ist, tut dessen welt- und lebensorientierender Kraft keinen Abbruch. „Apart from our magnificent imaginative powers, we would have no way of conceiving God at all; this is the only access we have to that reality …, that to which we may seek to give ourselves in faith and hope and love. Whatever we know of God, we know through this image/concept created … by human imagination … and re-created (occasianally in significantly distinctive ways) by each one of us every time we think and utter the word ‘God’”.[26]

Alle diese Überlegungen sagen uns zwar nicht, “whether God really ‚exists’; or whether ‚belief’ in God is foolish or wise, good or bad”.[27] Das gilt aber genauso für alle anderen Konstruktionen unserer Wirklichkeitsorientierung. Wir sind in unserem Leben immer „guided in important respects by imaginative constructs made available to us through our language and traditions”, und auch die naturwissenschaftlichen Weltkonzepte “depend heavily on the constructive work of the human imagination in developing their basic … theories.”[28]

Insofern ist die Einsicht in den konstruktivistischen Charakter theologischer Aussagen nur Teil der Einsicht in den konstruktivistischen Charakter aller menschlichen Wirklichkeitserkenntnis überhaupt. Unsere Weltkonstruktionen insgesamt lassen sich nicht in ihrer „Wahrheit“ beweisen, sondern „are continually tested pragmatically – that is, by what they enable us to do, how they enable life to go forward”. Die experimentellen Testmethoden der Naturwissenschaften führen zu einem sehr hohen Erfolg ihrer pragmatischen Verlässlichkeit. Die pragmatische „Testung“ religiöser Konstruktionen ist dagegen „more general and vague“, aber sie ist möglich und ist ebenfalls „something going on in our cultures more or less continuously“[29].

Die pragmatische Testung eines heute plausiblen God-talk ist nach Kaufman die Frage nach seiner Kraft, „wholeness, meaningfullness, salvation to human life“[30] zu bringen. Dazu schlägt er erneut die „Rekonstruktion“ des Gotteskonzeptes in einer nicht mehr anthropomorphen und anthropozentrischen Weise als die den kosmischen Evolutionsprozess geheimnisvoll tragende und uns Menschen in einem „trajectory“ dieses Prozesses „erschaffende“ und „gracious“ erhaltende „serendipitous creativity“ vor, die die Gottesrede inhaltlich mit den Denkvoraussetzungen und globalen Herausforderungen unserer Zeit in konstitutive Verbindung bringt, zugleich aber die traditionelle Funktion des Gotteskonzeptes der Relativierung und Humanisierung menschlichen Lebens in der Welt bewahrt.

Zusammenfassend hält Kaufman fest: Die menschliche Konstruktion (und heute nötige Rekonstruktion) des Gottessymbols hat die pragmatische „Wahrheit“, to „adequately orient human life“. „In this understanding of constructivism religious symbols (of this sort) are not regarded as mere free-floating fantasies; they are, rather, mediating-vehicles of realities essential to ongoing human being and well-being. Without some symbolic vehicles of this sort, self-conscious, responsible human life could hardly continue.”[31]

Tom Christensons Interpretation von Theologie als einer orientierenden übergreifenden „Sicht-Weise“ auf unsere Welt und uns Menschen in ihr

Lektürebasis:

  • Tom Christenson, The Oddest Word: Paradoxes of theological discourse, in: Numrich, Paul D. (Hg.): The Boundaries of Knowledge in Buddhism, Christianity and Science, Göttingen 2008.

Eine andere Version eines theologischen “Konstruktivismus” vertritt der amerikanische Religionsphilosoph Tom Christenson. Anders als Kaufman, für den „Theologie“ im Wortsinne trotz allen metaphysischen Agnostizismus’ doch immer noch auf die „Rekonstruktion“ eines „realen“ Referenten theologischer Aussagen im Rahmen heutiger kosmologischer und evolutiver Weltsicht, eines „ultimate point of reference“ zielt, plädiert Christenson nicht nur für eine pragmatische bzw. funktionale, sondern auch für eine nicht-referentielle und „anti-realistische“ Interpretation theologischer Aussagen: „God-language is life-constructive, i.e. it’s a language primarily used to construct a world and a human to live in it, but it’s a problematic language if one uses it to focus on God.”[32]

In gewisser Weise erinnert seine These an Bultmanns existentialistische Interpretation, nach der alle Aussagen über Gott in Wahrheit Aussagen über den Menschen sind, nur dass er Bultmanns anthropozentrische Formulierung kosmologisch erweitert. In mancher Hinsicht entspricht seine funktionale Interpretation von „God-language“ auch der funktionalen Deutung von „God-talk“ bei Hefner, der allerdings die Funktion von „Mythos“ und „Ritual“ deutlicher im Blick auf die konkrete biblisch-christliche Tradition und ihren Reichtum entfaltet, und darum das Gottessymbol stärker an die Verankerung der konkreten christlichen „experience of the world“ in „the most fundamental reality or nature of things“[33] bindet, so dass ihm in gewisser Weise doch ein, wenn auch ontisch unbestimmt bleibender, „realer“ Referent, nämlich der „way things really are“, entspricht. Christensons theologischer „Konstruktivismus“ enthält aber m.E. doch eine ganze Menge unabhängiger, weiterführender Gedanken, so dass er als weiteres „proposal to be tested“[34] in diesem dritten Teil der Fortführung meines „Paradigmen“-Artikels seinen guten Platz hat.

Christenson beginnt mit der Bemerkung, dass das Wort „Gott“ wohl „the oddest word“ der menschlichen Sprache sei: Wie die Wörter „Zukunft“, „Stille“ oder „Nichts“ „it’s a word that transcends itself, critiques itself, perhaps even cancels itself. It is at once tempting and disorienting“. Rede von Gott, so Christenson, “is language at the boundaries of sense and nonsense, understanding and foolishness, knowledge and ignorance.”[35] Die Illusion, dass es im Grunde einfach sei, über Gott zu reden, verbindet viele moderne Theisten und Atheisten gleichermaßen. Christenson will diese „temptations“, Rede über Gott unsachgemäß zu simplifizieren, genauer untersuchen, um sie in seiner Vision des „theological discourse“ vermeiden zu können. Er will in Anknüpfung und Unterscheidung religiöser Sprache und wissenschaftlicher Sprache einen Begriff von „dimensions of transcendence“ menschlichen Lebens entwickeln, der sich aus der Berührung unserer Existenz durch „boundary situations“ ergibt. Damit will er einen Weg zeigen, wie „theological discourse“, der „might otherwise be taken as failure(s) (of knowledge, meaning, wisdom)“ statt dessen gesehen werden kann als „practical and perhaps even appropriate“[36].

Die grundlegende Versuchung von „god-talk“ ist nach Christenson „the temptation of supposing that one is saying the last (or the first) word”. Es ist die Versuchung, Grundfragen der menschlichen Wirklichkeitsdeutung für ein für alle Mal beantwortet und ihre Erforschung für „abgeschlossen“ zu halten. Aber theologisches Fragen gehört zu den „kinds of inquiries where even the pretense of closure is a symptom of lack of understanding”. “Understanding comes, if at all, when we realize something arbitrary or even mistaken about the way we have framed the question or framed the inquiry itself, i.e. insight comes when we learn, in our thinking, something about our fallibility as thinkers, and the need to start again.”[37]

Diese religiöse Versuchung der “closure” ihrem Wesen nach eigentlich “offener“ Fragen entfaltet Christenson weiter als:

(1) die Versuchung Macht auszuüben durch die Vermittlung angeblich absoluter Wahrheitserkenntnis;

(2) die Versuchung, „to turn into an answer something that is, if we were very honest with ourselves, a question” und “(a ) name(s) for our ignorance”[38];

(3) die Versuchung, unsere sprachlichen Vorstellungen von Gott mit dem Verständnis der Wirklichkeit Gottes selbst zu verwechseln;

(4) die Versuchung, Rede von Gott für normales referentielles Sprechen zu halten, das Gott zu einem möglichen „Objekt“ menschlichen Verweisens und Begreifens neben anderen macht.

Gegen die Gefahr, theologisch diesen „Versuchungen“ zu erliegen, schlägt Christenson ein Verständnis von „god-language“ als Konstruktion einer bestimmten Welt- und Menschensicht vor. Theologische Aussagen wären dann, nach einem Vorschlag des jüdischen Schriftstellers Harold Kushner nicht „primarily“ zu verstehen als „something to be believed“, sondern „first and foremost“ als „a way of seing“[39]. Das Verständnis der Gottesrede als bestimmter „Sichtweise“ auf die Welt ist vergleichbar mit dem Verständnis der Bedeutung der Planzeichnung eines Architekten, der Sternenkarte eines Astronomen, oder der Deutungsperspektive eines Historikers. Sie sind Metaperspektiven, die aber nötig sind, um überhaupt einen gangbaren Weg der Wirklichkeitsinterpretation und – gestaltung zu ermöglichen. Sie stellen einen grundlegend orientierenden „point of vision“[40] dar, der die konkrete Welterfahrung transzendiert.

Die Frage, mit der wir an theologische Wirklichkeitskonstruktionen herangehen, ist dann nicht: „Do we believe this?“, sondern: „What can we discover by means of such seing?“ Allgemein gilt: „We live in a constructed world. The world is constructed by the languages we speak, by the concepts we use, by the stories we tell, by the institutions and cultures we live in the midth of.”[41] Religionen im Besonderen sind dann orientierende Meta-Weltkonstruktionen „we use to make sense and find our way in the world“[42]. Dabei gibt es nicht die eine religiöse “Welt-Sicht“, die als Essenz allen Religionen gemeinsam wäre. Aber diese Vielfalt religiöser Weltkonstruktionen gilt es als Angebot vielfältiger möglicher Lebensorientierungen zu begreifen. „So probably the most important question one can ask about any religion or sect within a religion is what kind of world does it imagine, what kind of human does it construct? What are we hereby empowered to see?”[43]

Die Rede von “Transzendenz” meint dann nicht den Verweis auf eine supra-naturalistische Über-Wirklichkeit, sondern auf „a new level of seeing, understanding, or being“[44]. „That’s transcendence, when something that does not spring from my own want and fears captures me and stretches me beyond such things, perhaps even beyond my imagining.”[45] Insofern hat Transzendenzerfahrung mit “Grenzerfahrungen” im menschlichen Leben zu tun. Wenn ich an meine Grenzen stoße, die Grenzen meines Könnens, Begreifens, Daseins, werde ich in besonderer Weise offen für die Dimension von Transzendenz und Lebensvertiefung.

Dabei ist es das Wesen von Transzendenz, dass sie auch unser Verstehen transzendiert. „The words we speak about the transcendent are always amendments and/or deconstructions” [46]. Das bedeutet auch, dass wir über Gott, “the ultimate transcendent“ weniger Worte machen sollten, und eher das Schweigen üben, vielmehr als wir es meistens tun. „When we do speak, we must speak mindfully, aware of the temptations and the errors we’re prone to make and aware of the temptations involved in trying to avoid them.”[47]

Bei einer solchen vorsichtigen und tastenden religiösen Redeweise kann das Wort “Gott”, auch wenn es das “oddest word” sein mag, zugleich das wichtigste Wort im menschlichen Leben bleiben, weil es Ausdruck einer „confessed ignorance“ ist, die „reaches beyond itself“, „a suspiciousness surprised by its own grounding in care for truth and goodness“[48]. Der Rede von Gott kann zwar kein realer metaphysischer Referent zugeordnet werden, aber doch eine konstitutive menschliche Suche nach „Transzendenz“, eine skeptische, positiv und negativ niemals „abgeschlossene“ Suche, „aware of the fact that the answers one has are often, in fact, new questions, and the questions are somtimes misleading“[49], und doch zugleich „again and again“ darauf ausgerichtet, „to speak the helpful word“[50], das unser Leben heilsam orientieren, vertiefen und verändern kann.

Dan Cohn-Sherbocks Skizze des Entwurfs eines „Open Judaism“ als Paradigma eines neuen jüdischen Selbstverständnisses für die heutige Zeit

Lektürebasis:

  • Dan Cohn-Sherbock, The future of Judaism, in: The Future of Religion: Postmodern Perspectives, ed. by Christopher Lamb und Dan Cohn-Sherbock, London 1999, 139-155

Der aus Amerika stammende und in Großbritannien lehrende jüdische Gelehrte, Rabbi und „Professor of Judaism“ Dan Cohn-Sherbock hat mit seinem 1999 in einer Festschrift für Ninian Smart erschienenen Aufsatz „The future of Judaism“ einen richtungsweisenden Entwurf einer pluralistischen Rekonstruktion der jüdischen Glaubenshaltung als Baustein für eine zukünftige globale religiöse Perspektive vorgelegt, der in mehrfacher Hinsicht die von mir bisher skizzierten aus christlicher Sicht entworfenen Paradigmen eines zukunftsfähigen theologischen Denkens aus jüdischer Perspektive bereichern, ergänzen und vertiefen kann, und dabei an Denkfiguren der unterschiedlichen bisher dargestellen Theologen anknüpft:

(1) Wie Hodgson für den Bereich christlicher Theologie, so entwirft Cohn-Sherbock für den Bereich jüdischer Theologie einen konsequent „revisionistischen“ Ansatz, bei dem alle Bestandteile der jüdischen theologischen Tradition einer grundlegenden, dem (post)modernen kritischen und globalen Bewusstsein entsprechenden Transformation unterzogen werden: „The aim of this chapter is to propose a new vision of Judaism for the future“[51]; die Veränderungen einzelner Glaubensformulierungen („revised understanding of Jewish doctrine“[52]), die sich daraus ergeben, sind „radical and far-reaching“.[53]

(2) Wie Hick geht er dabei von einem grundsätzlich agnostischen Denkweg im Blick auf das Göttliche „an sich“ aus, für den er sich insbesondere auf die lange Tradition „negativer Theologie“ auch im Judentum[54] bezieht: „In recent years an increasing number of theologicans have called for a Copernican revolution in our understanding of religion“, nach der „Divine Reality-as-it-is-in-itself should be distinguished from Divine Reality as conceived in human thought and experience“.[55]

(3) Wie Kaufman vertritt er zugleich eine „konstruktivistische“, konsequent geschichtliche Sicht der Entwicklung religiöser Orientierungssysteme, nach der alle religiösen Aussagen über „Gott“, „die Seele“, „Unsterblichkeit“ usw. als menschliche „Konstruktionen“ verstanden werden, und nicht als übernatürlich vermitteltes Wissen: „What is now needed is the formulation of a modern conception of Judaism based on the recognition that the Jewish view of divine reality is ultimately a human construction“[56], bestehend aus „human images constructed from within particular social and cultural contexts“[57].

Das gegenwärtige Judentum ist nach Cohn-Sherbock nicht nur „fragmented into a wide variety of subgroups expousing conflicting ideologies“.[58] Obwohl alle sich auf ihre Weise bemühen, „to offer a basis for Jewish existence in the modern world“, bleiben alle von ihnen vorgeschlagenen Lösungen für eine zukunftsfähige jüdische religiöse Orientierung doch „inadequate“. Das gilt für das Orthodoxe Judentum genauso wie für den Chassidismus, das Reformjudentum, das konservative, das „dekonstruktionistische“ (a-theistische), das humanistische und das zionistische Judentum: „Non is able to provide a universally acceptable philosophy for the community as a whole.“[59]

Als neues religiöses Rahmenparadigma, das diese Aporien überwinden und dem Judentum wieder ein zukunftsfähiges „cohesive religious system“ geben kann, schlägt Cohn-Sherbock einen „Open Judaism“ vor, eine jüdische „theology of religious pluralism, in which the Jewish faith is understood simply as one religion among many“[60]. Keine jüdische theologische Konzeption kann in diesem neuen Grundparadigma für sich absolute Wahrheit beanspruchen, sondern alle theologischen Konzepte sind menschliche „lenses through which the Ultimate is conceptualized“[61].

So ist „Open Judaism“ eine neue Sicht aller Richtungen der jüdischen Religion, die durch eine „attitude of openness“ charakterisiert ist, „where all Jews would be free to draw from the past those elements of the tradition which they find spiritually meaningful“.[62]

Im Rahmen des „Open Judaism“ kommt es zur grundlegenden pluralistischen Revision aller religiösen Vorstellungsbereiche jüdischer Religion: Die monotheistische Konzeptualisierung des Göttlichen der Juden ist entstanden „on the basis of their own spiritual apprehension“ und kann nicht mehr mit dem Anspruch vertreten werden, to „possess unique truth about Ultimate reality“[63]. Die Tora kann nicht mehr als die Heilige Schrift verstanden werden, sondern „should be viewed in much the same light as the New Testament, the Qur’an, the Bhagavad Gita, and the Vedas“[64].

Der „sense of spiritual superority“, der sich in der Erwählungslehre ausdrückt, muss aufgegeben werden: „there is simply no way of determining if a single group stands in a unique relationship with God“[65]. Nicht mehr als objektive „certain knowledge“, sondern nur noch als subjektiver „human response to the universe“ betrachtet werden muss in der Folge auch die Vorstellung, dass die Geschichte Israels in besonderer Weise „God’s guiding hand“ zeige[66].

Auch die Messiaserwartung muss konsequent geschichtlich als „pious hope based on both personal and communal expectations“[67] und nicht als gesicherte Offenbarung betrachtet werden. Ebenso kann die eschalogische Erwartung von Gottes Gericht und persönlichem „Ewigen Leben“ nur als menschliche Hoffnung Israels, nicht als gesicherte Wahrheit betrachtet werden: „In our finite world, imited by space and time, certain knowledge about such issues is unobtainable.“[68]

Auf dem Hintergrund dieser „radical and far reaching“ Revision jüdischer Glaubenslehren kommt es nun aber nicht, so Cohn-Sherbock, zu einem Abbruch und einer atheistischen Selbstaufhebung jüdischen Glaubenslebens. Vielmehr kann das System des „Open Judaism“, gerade wegen seiner konsequent „agnostic interpretation of the Jewish faith“ die Vielfalt heutiger jüdischer Orientierungswege in neuer Weise integrieren und über ihre bisherigen Aporien hinausführen: „For those who subscribe to this new philosophy of Judaism, there is a broad range of options.“[69]

Insofern begründet die agnostische Grundhaltung dieses „Open Judaism“ auch keine Vereinheitlichung aller bisherigen jüdischen Glaubensoptionen unter ein einziges für alle verbindliches theologisches Grundschema, sondern kann vielmehr in neuer Weise die Vielfalt jüdischen Glaubenslebens als Reichtum entfalten. Im Rahmen des „Open Judaism“ kann weiterhin ein klassisch theistisches Konzept der Letzten Wirklichkeit vertreten werden, freilich nicht mehr verbunden mit dem Anspruch auf Vermittlung absoluter Wahrheit, sondern „conceived as tentative hypothesis“[70] menschlicher Wirklichkeitskonstruktion.

Genauso können Juden im Rahmen eines „Open Judaism“ aber auch einen in verschiedenen Bereichen modifizierten und rekonstruierten Theismus vertreten. Schließlich können im Rahmen eines „Open Judaism“ auch die Ansätze einer „even more radical reconsideration of Jewish belief“ integriert werden, die supranaturalistische Anschauungen konsequent verwerfen und zu einer „explicit rejection of theism“[71] führen.

Es ist die Stärke des von Cohn-Sherbock vorgeschlagenen neuen jüdischen religiösen Grundparadigmas, in dieser Weise ganz unterschiedliche und scheinbar gegensätzliche „religious options“ „from traditional belief to atheistic naturalism“ als bereichernde und diversifizierende jüdische religiöse „Hypothesen“ für den andauernden globalen religiösen Diskurs der Menschheit integrieren und verbinden zu können, und in dieser Weise ein „new framework for dealing with the realities of modern life“ zu ermöglichen, das auf der grundlegenden Bejahung menschlicher Entscheidungsfreiheit und Autonomie aufgebaut ist, wie sie dem „spirit“ unseres postmodernen Zeitalters entspricht[72].

Ich denke, es wäre reizvoll, in entsprechender Weise für den christlich-religiösen Bereich das Konzept eines „Open Christianism“ zu entwerfen, die nötigen Revisionsaufgaben für grundlegende christlicher Vorstellungsbereiche im Rahmen eines solchen Konzepts zu skizzieren, und die Vielfalt heutiger christlicher theologischer Denk- und Glaubensrichtungen in gleicher Weise positiv in ein solches neues christlich-religlöses Gesamtschema zu integrieren, das, wie Kaufman es formuliert, bestimmt ist von einem „empowerment for radical inclusiveness rather than exclusiveness“[73], und darum eben keine neue „Gleichschaltung“ allen religiösen Denkens unter ein einziges übergeordnetes Prinzip, sondern ein echtes fruchtbares „Operieren von Differenzen her“ bewirkt und befördert.

„Konstruktive Theologie“ und „polydoxe“ Hermeneutik

Lektürebasis:

  • Serene Jones and Paul Lakeland (Hg.), Constructive Theology. A Contempory Approach to Classical Themes. A Project of the Workgroup on Constructive Christian Theology, Minneapolis 2005
  • Peter C. Hodgson, Revisioning the Constructive Task of Theology. In: Peter C. Hodgson, Winds of the Spirit: A constructive Christian Theology, Louisville Kentucky 1994, 37-50
  • Catherine Keller and Laurel C. Schneider (Hg.), Polydoxy. Theology of multiplicity and relation, London /New York 2011
    Darin besonders: John Thatamanil, God as ground, contingency and relation. Trinitarian polydoxy and religious diversity, 238-257

(1) Einem solchen Konzept einer am „Profil der Vielfalt“ orientierten „Open Christianity“ sehr nahe ist das Theologieverständnis der nordamerikanischen „workgroup on constructive theology“, der u.a. auch Peter Hodgson und Catherine Keller angehören. Mit ihrer programmatischen Kennzeichnung gegenwärtigen theologischen Nachdenkens als „constructive“ nehmen Sie nicht nur theologisch Einsichten des erkenntnistheoretischen „Konstruktivismus“ auf. Zugleich geht es ihnen um eine präzisere Neubestimmung dessen, was man bisher „Dogmatik“ oder „Systematische Theologie“ genannt hat.

„Dogmatik“ ist ein für heutige Menschen meistens eher negativ konnotierter Begriff: „Through the abuse of the church’s teaching authority, the term ‚dogmatics’ became discredited and gained a pejorative connotation – meaning opinionated, authoritarian, inflexible. Moreover, the notion of revelation as containing propositional truths to be exactly formulated in theological dogmas seems highly questionable today.“[74]

„Systematische Theologie“ ist ein weniger belasteter Begriff und entspricht einer Grundstruktur unserer Wirklichkeit: „System-building seems to be an intrinsic part of the universe in which we live. Everything is a system because everything is relative.“ Nicht zufällig steht ja der konstruktivistische Denkansatz in enger Verbindung mit „Systemtheorie“ und „systemischem Denken. „Yet we can get carried away with intellectual systems, forgetting their limited, fragmentary, situation-dependent , heuristic character.“ Darum hat das dem Wort „sys-tematisch“ etymologisch verwandte Wort „kon-struktiv“ „certain advantages“ für die Bezeichnung der theologisch gemeinten Sache.[75] Es trägt dem fragmentarischen und suchenden Charakter theologischen Denkens stärker Rechnung, ebenso der mit der Aufgabe der „Konstruktion“ immer auch verbundenen „de-konstruktiven“ Komponente und dem Prozesscharakter theologischer Sprechversuche als je in ihrer Zeit und für ihre Zeit formulierte, auf weiteren Diskurs zielende „constructive proposals“.

„Doctrines“ sind nach dem Verständnis der „workgroup for constructive theology“ zu verstehen als „Landkarten“: „A helpful metaphor we have used for this particular understanding of doctrines is that of theological geographies. According to this image, doctrines are like maps – they are theological geographies drawn to guide Christians as they struggle to understand their faith“, oder anders gesagt, „they are collectively rendered maps that Christians have drawn over the years in order to help them find their way around this complex terrain of faith“.[76]

Diese Charakterisierung theologischer Konstruktionen als „Landkarten“ entspricht ziemlich genau dem Erkenntnisbegriff im konstruktuvistischen Denkansatz überhaupt und seinem pragmatischen Wahrheitsbegriff der „Viabilität“ als der „’Passung’ zwischen Landschaft und Landkarte“[77] Erkenntnis insgesamt hat die Aufgabe, menschlichem Leben „Orientierung“ zu ermöglichen im Gesamtgeflecht seiner Wirklichkeit. „Landkarten“ der Erkenntnis sind immer Hilfen zur zielgerichteten und „unfallfreien“ Bewegung in der durch sie „erkannten“ Wirklichkeit, niemals „ikonische Abbildungen“ dieser Wirklichkeit an sich[78]. Auch theologisches „mapmaking“ im Rahmen der Aufgabe einer „constructive theology“ hat in diesem Sinne immer „pragmatic aims“: „The way we choose to color in the lines of a doctrine and to shape the language through which it is presented affects people’s decisions not only about its truth but about the way they choose to live in light of it.“[79] Theologische „constructive proposals“ in diesem Sinne „suggest a way of travelling through the terrain of faith in a manner that facilitates communal conversation and proves both illuminating and liberating.[80]

(2) Den „offenen“ theologischen Ansatz „konstruktiver Theologie“ haben einige Theolog/inn/en im Umfeld der „workgroup“ noch weiter geführt zum theologischen Leitbegriff einer „polydoxen“ Hermeneutik. Das Konzept einer konstitutiv zur Religion und zum christlichen Glauben gehörigen „polydoxy“ unterschiedlicher legitimer Glaubensentwürfe zielt erneut auf die Überwindung des unfruchtbaren Gegensatzes von vermeintlich „orthodoxem“ theologischem Absolutismus und vermeintlich „heterodoxen“ Abweichungen oder dissoluten Relativismen. Zugleich zielt er auf eine Neubestimmung der Gestalt eines religiösen und theologischen „Pluralismus“, der den (immer auch problematischen) Vereinheitlichungstendenzen mancher klassischer „essentialistischer“ Religionstheorien das Modell einer wirklich „offenen“ religiösen Landschaft „of multiplicity and relation” entgegenstellt, in der Vielfalt und Differenz nicht nivelliert, sondern als der selbst vielfältigen und vielgestaltigen Gesamtwirklichkeit entsprechender Reichtum betrachtet werden.

Die Grundhorizonte eines „polydoxen“ theologischen Ansatzes - Vielfalt („the daunting differences of multiplicity“), Unsicherheit („the evolutionary uncertainty it unfolds“) und Beziehung (“relationality“) sind nach den Herausgebern des Buches „polydoxy“ keine zu überwindenden Probleme für einen lebendigen Glauben, sondern machen gerade seine Vitalität aus. Sie sind für heutiges theologisches Fragen konstitutiv: „A responsible pluralism of interdependence and uncertainty now seems to facilitate deeper attention to ancient religious traditions as well as more robust engagement with serious critiques of religion.“[81]

Dabei ist dieser polydoxe Dreiklang keine Erfindung der Moderne oder Postmoderne: Wie andere große Religionen der Menschheit auch, „’Christianity’ was never merely One to begin with“, sondern immer schon konstitutiv „multiple and complex“. „From the start, the plurality of the canonized gospels accompanied by the ancestral Hebrew library and the shadows of the excluded gospels made multiplicity manifest.“ So verstanden ist jeder Ausschluss von vermeintlichen „Ketzern“ aus dem christlich-theologischen Diskurs Zeichen einer „repressive evasion of evident Christian complexity“. Die Unsicherheit einer polydoxen Vielfalt von Glaubensstimmen muss vielmehr verstanden werden als „source of richness and revelatory possibility for supple theologies that remain open to the ongoing participation of divinity in the world“[82].

Dabei ist für eine polydoxe Hermeneutik die Vielfalt, die es zu entfalten gibt, „not a mere many, a plurality of seperate ones“; sie setzt vielmehr „a deep interconnection, a constitutive relationality“ voraus „between every one and its others“[83]. Relationalität „is the connective tissue that makes multiplicity coherent“[84]. Leben entfaltet sich immer in Beziehung, von Anfang an. „The mystery of relationality lies, in part, in its inexhaustible depth and openness to emergence, its stubborn resistance to unification under one point of view“; es hat unvermeidbar eine apophatische Grunddimension: Die unsystematisierbare Vielfalt des Lebens erfordert eine „developping attention to the edges of the known“[85]. Für eine polydoxe Hermeneutik ist dieses beziehungsreiche Nichtwissen „an energy of epistemological and theological integrity, as the disparate apophatic thinkers of the Christian tradition from Justin Martyr, through Nicholas of Cusa, to Sallie McFague have always insisted.[86]

Die Schöpfung selbst, von ihren „bottomless beginnings“ an, verläuft nicht statisch und vorhersagbar; der apophatischen Ausrichtung polydoxer Theologie entspricht „the glorious and unnerving openness of all of reality to its future“. Auch Gott weiß nach polydoxem Verständnis die Zukunft nicht vorher: „Many Christians find comfort in such providential remedies for human uncertainty. We do not however find it reassuring to rob God of the new. If … uncertainty goes all the way down – as quantum theories indicate – we suspect it goes ‚up’ as well.“[87] Die polydoxe Betonung der Unsicherheit auch in religiösen Fragen „makes possible … a greater responsiveness to the world and to the intimate unfolding of its stories“.[88]

In der offenen Geschichte des Kosmos gehören Vielfalt und Beziehung von Anfang an zum religiösen Leben der Menschheit. „Polydoxy foregrounds the context of vibrant and enduring religious and spiritual diversity in the world.“ Sie schließt „any claims of orthodox exclusivity“ aus genauso wie jeden ethischen oder kulturellen Imperialismus. Sie verbindet sich mit den zunehmenden „transdisciplinary clues among philosophers and poets“ im postmodernen Diskurs, „who pit the multiple against the logic of the One“; sie widersetzt sich aber jener destruktiven Scheinpluralität des globalen Kapitalismus, der, indem er „cultural difference and old growth forests“ einebnet, gerade „the very diversity“ vernichtet, die er nach außen auf seine Fahnen schreibt.[89]

Polydoxe Hermeneutik ermöglicht so nicht nur eine neue Würdigung des innerchristlichen Pluralismus, sondern auch der Vielfalt und Verwobenheit des gesamten religiösen Lebens der Menschheit. Die „exogenous plurality of traditions has never not exercised a shaping effect on Christian thought. Other traditions have always exerted a pressure and influence on Christianity, the recognition of which serves to improve the clarity with which we think about the distinctiveness of our claims.“[90] Interreligiöse Offenheit ist darum ein Grundkennzeichen polydoxer Hermeneutik, das besonders John Thatamanil in seinem Beitrag zum Sammelband „polydoxy“ näher entfaltet.

(3) Der triadischen Grundstruktur polydoxer Hermeneutik um die Begriffe multiciplicity, uncertainty und relation entspricht eine „triune intuition“[91], die Thatamanil in seinem abschließenden Beitrag zur Konzeptskizze einer polydox akzentuierten trinitarischen Theologie der Religionen weiter entfaltet.

Thatamanil geht von der Beobachtung aus, dass „from the first, trinitarian considerations were never far removed from reflection on religious diversity“[92], was er besonders an der Trinitätstheologie Gregor von Nyssas festmacht. Heute liegt in dieser Verbindung von trinitarischem und interreligiösem Fragen eine neue Chance für ein fruchtbares Miteinander der Religionen: „A variety of Christian theologians now assert that trinitarism is the distinctively Christian way of offering a positive resolution to the problem of religious diversity: by acknowledging distinction within the divine life.“ Religiöser Pluralismus ist in dieser Perspektive kein Ausdruck von „illusion“ oder „error“ im menschlichen Fragen nach Gott, sondern „a natural expression of human encounter with divine multiplicity“.[93]

Dabei muss eine polydoxe trinitarische Hermeneutik sich sehr deutlich unterscheiden von inklusivistischen trinitarischen Konzepten, wie sie von christlicher Seite heute oft vertreten werden: Es geht nicht um eine einseitige Begegnung, in der die christliche Trinitätslehre unberührt bleibt vom Gespräch mit anderen Gotteskonzepten, sondern um eine „mutual transformation“, bei der trinitarisches Denken keine „prefabricated“ christliche „solution“ ist „to the problem of religious diversity“, sondern ein offener Prozess, bei dem Christen von anderen Religionen viel zu lernen haben, sogar „how to think … about trinity“ selbst.[94] Auch im Christentum werden unterschiedliche Konzepte der Trinität ja von Anfang an bis heute höchst kontrovers diskutiert; darum schlägt Thatamanil vor, „that trinity is better understood as a question and a problem rather than as a … final Christian answer“; in diesem Sinne wäre das trinitätstheologische Nachdenken „itself a locus for interreligious conversation and exchange“[95] und „we would be better advised to begin by treating trinity as a question for comparative theology“[96].

Ist das Göttliche „einfach“ oder „vielfach“? Trinitarisches Denken in interreligiöser Perspektive legt Gott nicht auf eine Zahl fest, auch nicht auf die Zahl drei. Trinitarisches Denken bestätigt die polydoxe Betonung der Vielfalt gegen jeden monarchischen Einheitsbegriff, aber bewahrt sie vor der Diffusion einer „vision of the many as sheer, arbitrary difference without relation“[97]. Eine polydoxe, komparative Trinitätstheologie bringt interreligiöse Vielfalt in Beziehung. In diesem Sinne schlägt Thatamanil vor, drei bestimmte Einsichten aus dem Bereich des „Hinduismus“, des Juden- und Christentums, sowie des Buddhismus trinitarisch konkret zusammenzubinden: „From Advaita Vedãnta, I draw an account of ultimate reality as ground. From Christian resources, I offer an account of ultimate reality as contingency, and from Buddhist traditions (specially Madhyamaka), I draw an account of ultimate reality as relation.“ Ein solcher „trinitarism … by way of comparative theology“ bleibt in enger Korrelation zu den klassischen christlichen trinitarischen Konzepten von „Vater, Sohn und Heiligem Geist“, überschreitet sie aber bewusst in Richtung eines Experiments „in formulating Christian doctrine in conversation with other traditions“. Dabei überführt sie den immer schon latenten Synkretismus der christlichen Trinitätslehre in einen offenen Prozess des Gebens und des Nehmens: „Only now such construction can take on the charakter of collaborative conversation rather than apologetic contestation.“[98]

Bevor Thatamanil diese interreligiös verbindende Trinitätslehre weiter ausführt, markiert er zunächst noch wichtige Unterschiede zwischen seinem religionspluralistischen Modell und v.a. dem John Hicks. Thatamanil erkennt die Pionierleistung Hicks für eine pluralistische Theologie der Religionen an, hält aber zu ihrer konkreten Ausführung kritisch fest: „The problem with Hick’s proposal is that he fails to offer a religiously deep motivation for interreligious discourse. Religious traditions have nothing to learn about God, humanity, or soteriology in and through dialogue. If every account of the Real is equally true and equally false because none are adequate to the nature of the Real-an-sich, then the only reason for dialogue is neighborliness. … It is not as though a cumulative reading of the world’s religious traditions might teach us more than we know within our traditions already.“[99]

In dieser Kritik an Hicks Pluralismus trifft er sich mit Wards Kritik, Hicks These lasse keine Raum für echten interreligiösen Fortschritt in der Wahrheitsfrage, und Kaufmans Kritik, Hick nehme durch die Verwendung statischer statt dynamischer Kategorien die tatsächliche Offenheit in der kulturellen Evolution der Menschheit nicht genügend Ernst. Gegen Hicks als statisch empfundene Gleichstellung aller Religionen fragt Thatamanil: „Might the concrete spiritual disciplines of another tradition (not) offer access to dimensions of ultimate reality that are not well accessed in our home tradition?“[100] Nach Thatamanils Verständnis erklären sich die Unterschiede der verschiedenen Religionen nicht nur aus den verschiedenen kulturellen Rezeptionsperspektiven, mit denen die eine Letzte Wirklichkeit konzeptualisiert wird. Auch die „totality of reality“ selbst hat vielmehr „a diversity of aspects“, von denen jede Tradition nur einen Teil erschließt: „Different soteriological trajectories engage different dimensions of the divine life.“[101]

Die christliche Tradition hat in der Trinitätslehre einen Weg gefunden, eine solche Vielfalt und Differenziertheit im Göttlichen selbst auszusagen. Aber die Gefahr der bisherigen Konzepte einer „trinitarischen“ Theologie der Religionen ist, unverändert die bestehende christliche Trinitätslehre, „formulated prior to dialogue with other religious traditions“[102], als „Rahmen“ zu nehmen, in die dann geignete Elemente aus anderen Traditionen „eingefügt“ werden. Dabei wird meist auch die kontroverse und vielfältige Diskussionslage in der christlichen Konzeptualisierung der Letzten Wirklichkeit und der anderer Religionen verschleiert, so als gäbe es die christliche Trinitätslehre oder die „impersonal conception(s) of ultimate reality“ im „Hinduismus“ oder Buddhismus. Thatamanil will dagegen einen neuen Vorschlag einer Trinitätstheologie entwickeln, in der die „insights of other traditions“ von vornherein Ernst genommen werden „in helping us to revise and deepen our understanding of the trinity“.[103]

„Ground“, „cotingency“ und „relation“ bezeichnen nach Thatamanils Entwurf „three dimensions of the divine life“, denen „three dimensions of experience“ entsprechen, die „intraworldly signals of transcendence“ sind „pointing to the divine life“[104]. Diese drei „signals of transcendence“ in der menschlichen Erfahrungswelt sind das Staunen darüber, „dass überhaupt etwas ist und nicht nichts“, das Staunen darüber, dass alles, was ist, nicht notwendig, aber gerade darum wunderbar und einzigartig ist, und das Staunen darüber, dass alles, was ist, miteinander vernetzt und eben in seiner Einzigartigkeit nur möglich ist, indem es konstitutiv in Beziehung existiert. Ein auf diesen drei grundlegenden Erfahrungsdimensionen aufbauendes trinitarisches Verständnis des Göttlichen „is richly resonant“ mit den traditionellen christlichen Formulierungen der Trinitätslehre, entspricht aber auch „core themes and motifs to be found within a variety of religious traditions“[105]. Alle drei Dimensionen des Göttlichen werden in den meisten Religionen in unterschiedlicher Weise thematisiert; meistens ist es aber besonders eine dieser drei Dimensionen, die in bestimmten Richtungen einer Religion besonders herausgearbeitet werden.

Christlich wurde der Gedanke von Gott als Macht des Seins selbst, als „Grund“ (und „Abgrund“) alles Seienden v.a. von Paul Tillich herausgearbeitet. Er findet sich aber in besonders deutlicher Ausprägung zuerst im „Hinduismus“, etwa im klassischen Kommentar Śaňkaras zu den Upanishaden. Śaňkara gewinnt seinen Begriff des Seins durch die Beobachtung einfacher Gegenstände: Z.B., „if one sees a pot and affirms that ‚the pot is’, Śaňkara would point out that whereas the pot comes and goes, the sense of being persists. One is never without the sense of being. This sense of being which is given everywhere points to the world ground that abides, whereas the particulars come and go.“[106] Diesen Weltgrund arbeitet Śaňkara zum Gedanken von „Brahman“ aus: Brahman als die Tiefe allen Seins „is immanent as ground but transcends as mytery. … Though designated provisionally as being, it exceeds all name and form.“ Menschliches Leben ist Teil einer Welt, deren „sheer being … is mystery“. Brahman, dieses alles Sein begründende Geheimnis, „which shines in everything whatsoever – actually for the Advaitin underneath everything – is holy mystery.“[107]

Die Erfahrung der Einzigartigkeit und Besonderheit alles Geschaffenen hat seinen stärksten Ausdruck gefunden in der jüdisch-christlichen Tradition der Gottesrede. „Gott sah an alles, was er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut.“ (Gen 1, 31) „Contrary to the Advaita impulse to look past and underneath name and form, contingency speaks to the conviction that every particular is what is it is and has an intensity and singularity of value“. Der „Hinduismus“ betont stärker die Vergänglichkeit alles Geschaffenen: „The focus of our attention is called away from our particular and contingent being to the sheer fact of being. When one has realized the nonduality of self and Brahman and so is no longer captive to the narrow and constricted ego, a universal compassion takes its place.“[108] Auch die jüdisch-christliche Tradition kennt die Bewegung weg von der egoistischen Verhaftung an die Welt der Dinge, und zur mystischen „Verschmelzung“ mit Gott. Aber die Kontingenz alles Geschaffenen wird dabei anders gedeutet und wertgeschätzt: „The vocation is not to give up on particular loves but to expand one’s range of particular loves without surrendering the call toward intensity which can only be fulfilled when we limit ourselves for the sake of reverence and piety to loving just this particular person or partner.“ Diese Wertschätzung des Besonderen prägt auch die jüdisch-christliche Konzeptualisierung des Göttlichen selbst: „In this sense, the divine life is really enriched by the distinct but not separate life of the world.“[109]

Die Erfahrung der grundlegenden Relationalität und Beziehungshaftigkeit alles Seienden findet „exemplary expression“ in „the Madhyamaka truth of emptiness“, wie sie in „the Gelukpa reading“ des Madhyamaka-Buddhismus entfaltet wird[110]. Nach diesem Verständnis der buddhistischen „Leerheit“ negiert sie die isolierte Selbst-Existenz der Dinge, betont aber positiv ihre Co-Existenz: „Indeed to be is to be no thing at all, if to be a thing is to have some own-being or self-existence (svabhãva) that an entity posseses apart from relationship. Nothing whatsoever exists outside of relation. More rigorously still, no being whatsoever has an essence or core that is non-relationally derived, not even God. On this reading, emptiness is just another way of designating that all of reality is pratĩtyasamutpãda, dependent co-arising.“ Menschliches Leben verfehlt seinen Sinn, wenn es der falschen Idee eines „disconnected and non-relational“ Selbst anhängt, das in Begierde das Andere an sich bringen will, mit dem es doch eigentlich immer schon verbunden ist. Erlösung ist dann die Befreiung von dieser Illusion. Für die trinitarische Gotteslehre wichtig ist die Konsequenz, dass auch das Göttliche nicht dualistisch als von der Welt unterschiedenes, rein selbst-relationales Sein gedacht werden kann. „Against this dualistic vision stands a depiction of God as Spirit-relation who is the Love with which I love God, the one who prays within me with sighs and groans too deep for words.“[111]

Jede dieser Grunddimensionen der Wirklichkeitserfahrung und Gottesrede steht für sich betrachtet auch in einer deutlichen Spannung zu den anderen, wie schon die Kontroversen um die dargelegten Deutungen der Wirklichkeit in den einzelnen Traditionen selbst beweisen. In der Betonung der grundlegenden Relationalität allen Seins droht die individuelle Einzigartigkeit jedes einzelnen Seienden zu diffundieren. In der Betonung der Besonderheit aller Geschöpfe und Unterschiedenheit von Gott und Welt droht die Vorstellung des Göttlichen in einen dualistischen Selbstwiderspruch zu geraten, die die „ontologische Differenz“ zwischen Gott und dem Seienden nicht wahrt. In der Betonung der der „hyperreality of the transpersonal ground-abyss“ droht die Gefahr einer „world-negation“.[112]

Diese Spannungen zwischen den einzelnen Wirklichkeitskonstruktionen und den Gefahren ihrer Verabsolutierung versucht eine polydoxe Trinitätslehre fruchtbar zu bearbeiten. „Comparative theology is a necessary discipline precisely because traditions tend to settle such questions about the nature of ultimate reality in a dominant inflection or style leaving other options inadequately considered at best. At worst, minority voices are dismissed as heretics for refusing the dominant account.“[113] Diesen „orthodoxen“ Engführungen in den einzelnen Religionen setzt Thatamanil die Überzeugung entgegen, dass Spannungen nicht als unvereinbare Widersprüche und Inkommensurabilitäten, sondern als „positive resources“ verstanden werden sollten, die menschlichen Glauben bereichern und vertiefen. Theologische Reflexion solchen vielfältigen und spannungsreichen Glaubens der Menschheit hat dann die Aufgabe, einen reflektierten „account of the perichoresis of these three mysteries“ zu geben. „If reality and divinity bear this trinitarian structure – if ground, contingency and relation are distinct, but not separate – then one would expect that any robust and historically deep tradition can find resources to orient persons to these three dimensions of the Real even if any given strand of a religious tradition typically errs in one direction or the other.“[114]

In jeder der großen Traditionen dominieren einseitige Betonungen nur einer dieser drei trinitarischen Dimensionen der Letzten Wirklichkeit. Das gilt auch für das Christentum. „Christian traditions have a long history of erring on the side of personalism under the weight of contingency … The characteristic spiritual distortion that comes from to narrow a focus on God as contingency, uncorrected by understandings of God as ground and relation, has been to figure God as a transcendent person (or worse still, three such persons)“, was zu inquisitorischen Denkverboten, Verketzerungen Andersdenkender, und eigener geistlicher Verarmung geführt hat. Dagegen plädiert Thatamanil mit seinem polydoxen „trinitarianism of ground, contingency and relation“ dafür, „that differences between and within religious traditions are vital“ für eine Vertiefung und Klärung der religiösen Wirklichkeitsorientierung aller Menschen in allen Religionen.[115]

Gegen Hicks Form des religiösen Pluralismus betont Thatamanil nochmals, dass nicht alle soteriologischen Konzeptionen gleich wahr und gleich falsch seien: „Christian agape is not the same as Buddhist karunã“; aber beide Konzepte sind wichtige Bausteine für ein interreligiöses Gespräch über das menschliche „Heil“. „Only by more deeply appreciating the distinctive goods of other religious traditions can we move more deeply into the divine life. There is no movement into depth of divine life without a movement toward our neighbors, and this is why religious diversity is not a problem but instead a source of profound promise for our collective well-being.“[116]

Die trinitarische Vision, die Thatamanil entwickelt, entspricht damit der für polydoxe Hermeneutik prägenden Suche nach einem „dritten Weg“ jenseits einer monistischen „rejection of diversity“ und einer dissoluten „celebration of sheer profusion“. „Inasmuch as polydoxy is a vision of the many-in-relation (multiplicity), a many that does not negate the one, this specific trinitarianism is most assuredly polydoxic“, indem er „celebrates and cherishes differences within and between traditions for the sake of mutual transformation.“[117]

Anmerkungen

[1] S.J. Schmidt im Geleitwort zu Erdmanns Buch, Erdmann, Wahrheit, 10

[2] Erdmann, Wahrheit, 11

[3] so formuliert von dem chilenischen Biologen und Hauptvertreter des biologischen Kostruktivismus H. Maturana, zitiert bei Erdmann, Wahrheit, 21

[4] Erdmann, Wahrheit, 21

[5] Erdmann, Wahrheit, 84

[6] Erdmann, Wahrheit, 78

[7] Erdmann, Wahrheit, 83

[8] Erdmann, Wahrheit, 79

[9] Erdmann, Wahrheit, 86

[10] Erdmann, Wahrheit, 87

[11] Erdmann, Wahrheit, 88f.

[12] Erdmann, Wahrheit, 93

[13] Erdmann, Wahrheit, 94f.

[14] Erdmann, Wahrheit, 106

[15] Erdmann, Wahrheit, 100

[16] Erdmann, Wahrheit, 103

[17] Kaufman, Constructivism, 11

[18] Kaufman, Constructivism, 13

[19] Kaufman, Constructivism, 11

[20] Kaufman, Constructivism, 12f.

[21] Kaufman, Constructivism, 13

[22] Kaufman, Constructivism, 13

[23] Kaufman, Constructivism, 15

[24] Kaufman, Constructivism, 15

[25] Kaufman, Constructivism, 17

[26] Kaufman, Constructivism, 17

[27] Kaufman, Constructivism, 18

[28] Kaufman, Constructivism, 18

[29] Kaufman, Constructivism, 18

[30] Kaufman, Constructivism, 22

[31] Kaufman, Constructivism, 29

[32] Christenson, Oddest Word, 180

[33] vgl. Hefner, Human Project, 287

[34] Hefner, Human Project, 91

[35] Christenson, Oddest Word, 164

[36] Christenson, Oddest Word, 165

[37] Christenson, Oddest Word, 165

[38] Christenson, Oddest Word, 170

[39] zitiert in Christenson, Oddest Word, 176

[40] Christenson, Oddest Word, 177

[41] Christenson, Oddest Word, 177

[42] Christenson, Oddest Word, 177

[43] Christenson, Oddest Word, 178

[44] Christenson, Oddest Word, 179

[45] Christenson, Oddest Word, 180

[46] Christenson, Oddest Word, 181

[47] Christenson, Oddest Word, 182

[48] Christenson, Oddest Word, 181

[49] Christenson, Oddest Word, 181

[50] Christenson, Oddest Word, 182

[51] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 139

[52] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 146

[53] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 146

[54] zum detaillierten Aufweis dieser Denkfigur im Judentum s. Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 143-145

[55] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 143

[56] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 139

[57] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 145

[58] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 140

[59] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 140

[60] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 139

[61] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 146

[62] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 139

[63] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 146

[64] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 147

[65] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 147

[66] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 147

[67] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 147

[68] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 148

[69] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 148

[70] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 148

[71] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 149

[72] Cohn-Sherbock, The future of Judaism, 149

[73] Kaufman, Mystery, xiii

[74] Hodgson, Winds, 37

[75] Hodgson, Winds, 39

[76] Constructive Theology, 9; vgl. hierzu auch nochmals John Hicks Verwendung der Metapher der „Landkarte“ zur Deutung theologischer „projections“ als „conceptual maps drawn by the great traditions, … for guiding us on our journey through life“, in „The rainbow of faiths“, 27

[77] Simon, Einführung, 68

[78] vgl. insgesamt die Deutung von „Wirklichkeitskonstruktionen“ als „Landkarten“ im Konstruktivismus im Zusammenhang, Simon 68ff.

[79] Constructive Theology, 10

[80] Constructive Theology, 12

[81] Keller/Schneider, polydoxy, 1

[82] Keller/Schneider, polydoxy, 2

[83] Keller/Schneider, polydoxy, 2

[84] Keller/Schneider, polydoxy, 12

[85] Keller/Schneider, polydoxy, 2f.

[86] Keller/Schneider, polydoxy, 3

[87] Keller/Schneider, polydoxy, 7

[88] Keller/Schneider, polydoxy, 8

[89] Keller/Schneider, polydoxy, 5

[90] Keller/Schneider, polydoxy, 13

[91] Keller/Schneider, polydoxy, 1

[92] Thatamanil, God as ground, 238

[93] Thatamanil, God as ground, 239

[94] Thatamanil, God as ground, 239

[95] Thatamanil, God as ground, 239

[96] Thatamanil, God as ground, 240

[97] Thatamanil, God as ground, 240

[98] Thatamanil, God as ground, 240

[99] Thatamanil, God as ground, 242

[100] Thatamanil, God as ground, 242

[101] Thatamanil, God as ground, 244

[102] Thatamanil, God as ground, 244

[103] Thatamanil, God as ground, 245

[104] Thatamanil, God as ground, 245

[105] Thatamanil, God as ground, 246

[106] Thatamanil, God as ground, 247

[107] Thatamanil, God as ground, 248

[108] Thatamanil, God as ground, 249

[109] Thatamanil, God as ground, 250

[110] Thatamanil, God as ground, 250

[111] Thatamanil, God as ground, 251

[112] Thatamanil, God as ground, 253

[113] Thatamanil, God as ground, 252

[114] Thatamanil, God as ground, 253

[115] Thatamanil, God as ground, 254

[116] Thatamanil, God as ground, 255

[117] Thatamanil, God as ground, 255

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/69/sts3d.htm
© Stefan Schütze, 2011