Paradigmen theologischen Denkens


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Paradigmen theologischen Denkens

Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben. Teil III

Stefan Schütze

3. Anatheismus und Kant. Vier immer noch höchst aktuelle Beiträge Kants für eine Reformulierung des Gottesglaubens auch in der Post-Moderne

Bei den verschiedenen Denkansätzen und Konstruktionsvorschlägen für einen „für mich heute trag- und sagfähigen Glauben“, die ich in den drei Teilen meiner „Paradigmen“-Artikel zusammengestellt und reflektiert habe, ist direkt und indirekt immer wieder ein konstitutiver Bezug auf die epochale Denkleistung Immanuel Kants deutlich geworden.

Nicht nur John Hick[1] und Gordon Kaufman[2] beziehen sich für zentrale Weichenstellungen ihres theologischen Denkens in je unterschiedlicher Weise explizit auf grundlegende epistemologische Einsichten Kants; nicht nur „Systemtheorie“ und „Konstruktivismus“ können als evolutionsbiologische Modernisierung und Weiterführung des Kant’schen Ansatzes verstanden werden; nicht nur Jacques Derridas dekonstruktivistishes Denken bezieht sich immer wieder auch auf Impulse Kants und versteht sich bewusst als „new enlightenment“[3] und postmoderne Fortführung von Kants Begrenzung menschlicher Erkenntnis auf „Erscheinungen“ (Derridas These vom niemals präsent werdenden transzendentalen Signifikat von Texten [„Ein Textäußeres gibt es nicht“] entspricht hier Kants These vom niemals erkennbaren „Ding an sich selbst“).

Kants kritische Philosophie kann als „Vollendung der Aufklärung“ verstanden werden, und zugleich auch schon als Eröffnung einer Perspektive über den „modernen“ Glauben an die Allmacht der Vernunft hinaus, die in ihrer Weise schon die Wendung zur „Post-Moderne“ vorweg nimmt. Kant hat nicht nur eine Wende zu einer aufgeklärten, rationalen Religion „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ gefordert und vollzogen; er hat zugleich auch eben die „Grenzen“ möglicher Vernunfterkenntnis betont und damit (zumindest implizit) auch die Möglichkeit der Begründung religiöser Aussagen in intuitiven und ästhetischen Dimensionen der menschlichen Wirklichkeitserfahrung[4] ermöglicht, die „höher sind als alle Vernunft“ (Phil 4,7), ohne dadurch widervernünftig zu sein oder „der Vernunft unbedenklich den Krieg“ anzukündigen[5].

Natürlich muss man heute philosophisch und erkenntnistheoretisch in vieler Hinsicht auch über Kant hinausgehen – z.B. wird man die allgemeinen Prinzipien menschlicher Erkenntnis nicht mehr einfach als jenseits aller Geschichte und Entwicklung „apriorisch gegeben“ interpetieren, sondern die Einsicht in ihre biologische, evolutionäre und soziokulturelle Genese, Vielfalt und Veränderbarkeit betonen: „The mind’s categories“ sind nach unserem heutigen Verständnis der Welt „not strictly a priori, but are constructed over a long history of experience, which is sedimented in language. A particular language is prior to and formative of individuals’ experiences, but its categories are themselves formed in cumulative response to historical and cultural contingencies.“[6] Entsprechend sind sie auch nicht so symmetrisch und mathematisch in 2er-, 3er, 4er- und 12er-Reihen geordnet, wie Kant das noch dachte, sondern eher unscharf, evolutionär offen und fluktuierend.[7]

Auch der menschliche Geist ist kein übergeschichtliches Kunstwerk, sondern geschichtlich geformt, und entzieht sich darum jeder Festlegung auf bestimmte apriorische, exakt geordnete Strukturen. Statt apriorisch einfach „gegeben“ zu sein, ist das menschliche Erkennen in evolutionärer Perspektive selbst geformt durch die Wirklichkeit, die es wiederum formt: zwischen erkennendem Subjekt und erkannter Welt besteht tatsächlich eine Wechselbeziehung – auch die Kategorien menschlichen Erkennens sind entwicklungsgeschichtlich und kulturell betrachtet also „a posteriori“ – wenn sie auch jeden konkreten Erkenntnisakt im Augenblick des Erkennens wiederum „a priori“ (der konkreten Erfahrung vorausgehend und das Erfahrene so erst konstruierend) konstituieren. Sie sind darum zwar weniger „objektiv“ und allgemeingültig, als Kant es dachte, aber damit auch weniger statisch, sondern dynamischer, flexibler und anpassungsfähiger, als sie als rein „apriorische“ Größen wären.

Im Sinne einer konsequent „geschichtlichen“ Interpretation menschlicher Existenz bedarf so auch Kants epistemologischer Konstruktivismus heute sicher mancher kritischen Revision und Modifikation. Auch ist Adornos und Horkheimers Thesen zur „Dialektik der Aufklärung“ wenigstens insoweit zuzustimmen, dass es auch erhebliche ethisch und wirkungsgeschichtlich problematische Anteile in Kants Denken gibt.[8] Dennoch lassen sich wesentliche Grundeinsichten Kants benennen, die für alles weitere philosophische und theologische Denken m.E. auch heute noch unhintegehbar sind, und darum auch für eine heutige Reformulierung des Gottesglaubens konstitutiv beachtet werden müssen. Vier dieser grundlegenden richtungsweisenden Einsichten in die transzendentalen „Bedingungen der Möglichkeit“ menschlicher Erkenntnis, und damit sowohl wissenschaftlicher wie auch religiöser Wirklichkeitsorientierung, will ich hier nochmals herausgreifen und in ihrer Bedeutung für die Denkbewegung meiner „Paradigmen“-Artikel kenntlich machen:

a) Der konstruktivistische Grundansatz

Die erste Grundeinsicht Kants, die m.E. heute noch weiterführend und unhintergehbar ist, ist seine Einsicht in den konstruktivistischen Charakter aller menschlichen Wirklichkeitserkenntnis. Dieser wird heute von vielen Seiten auch wissenschaftlich bestätigt.

So untermauern z.B. zahlreiche Ergebnisse der Neuropsychologie und Bewusstseinsforschung Kants konstruktivistische Grundthese. Der Gehirnforscher Robert E. Ornstein, etwa, der insgesamt darlegt, dass der menschliche Geist aus hirnphysiologischer Perspektive seine “Abbilder” der Welt nur “erträumt”, schreibt zu Kant: “Mit Kants Analyse … des Erkennens eines Gegenstandes entstand das moderne Verständnis davon, wie äußere Gegenstände im Geist dar- bzw. vorgestellt werden. Durch nichtbewusste Intuitionen formt bzw. ‘erträumt’ der menschliche Geist real ercheinende Abbilder der Welt, damit er in ihr operieren kann. Bezüglich der Realität wird eine Vermutung angestellt, ein scheinbares Abbild erzeugt, das dann mit bekannter Information verglichen wird. Der menschliche Geist verwendet die sehr schwachen Signale der Sinnesorgane als Rohmaterial und Kontrollsystem.”[9]

Ebenso entspricht Kants konstruktivistische Grundeinsicht dem Wirklichkeitsbild der neueren Physik. So schreibt etwa Hans-Peter Dürr im Vorwort seines Buches „Physik und Transzendenz“ mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Kant: „Eine konsistente Erklärung der Quantenphänomene“ bestätigt die „Schlussfolgerung, dass es eine objektive Welt … gar nicht ‚wirklich‘ gibt, sondern diese nur eine Konstruktion unseres Denkens ist, eine zweckmäßige Ansicht der Wirklichkeit, die uns hilft, die Tatsachen unserer unmittelbaren äußeren Erfahrung grob zu ordnen. … Durch unsere Sinneswerkzeuge und unsere Denkstrukturen prägen wir der Wirklichkeit ein Raster auf, das sie in ihren Ausdrucksformen beschränkt und ihre Qualität verändert. Die erstaunliche Bewährung der fundamentalen allgemeinen Einsichten der Physik in der Erfahrung, so hatte Immanuel Kant schon gelehrt, rührt daher, dass sie notwendige Bedingungen darstellen, unter denen Erfahrung überhaupt erst möglich ist. … Jede Objektivierung bedeutet Trennung, das heißt Zerstörung der nicht objekthaften Einheit, in der Beobachter und beobachtetes System miteinander verschmolzen sind. Ein Zuschauer ist immer gleichzeitig mitwirkender Akteur.“[10]

Auch heutige Systemtheorie und Konstruktivismus mit ihrer Grundthese, dass alles, „was gesagt wird … von einem Beobachter gesagt“[11] wird, der das Beobachtete durch sein Beobachten formt, so dass es nach konstruktivistischer Auffassung „die Wirklichkeit nicht gibt, sondern nur ein Multiversum unterschiedlicher Deutungen“[12], bauen auf dieser Einsicht auf und führen sie im Rahmen einer evolutionären Biologie weiter[13].

Theologisch wird dieser konstruktivistische Grundansatz in unterschiedlicher Weise explizit z.B. von John Hick und Gordon D. Kaufman rezipiert[14]; aber in der einen oder anderen Weise liegt er auch (fast) allen anderen von mir im Rahmen meiner „Paradigmen“-Artikel vorgestellten und ausgewerteten theologischen Ansätze zugrunde.[15]

Kant selbst benutzt z.B. in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft“ den Begriff der „Konstruktion“ für den Charakter menschlicher Erkenntnis, wenn er schreibt: „Dem ersten, der den gleichseitigen Triangel demonstrierte (er mag nunThales oder wie man will geheißen haben), dem ging ein Licht auf; denn er fand, dass er nicht dem, was er in der Figur sahe, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellete (durch Konstruktion), hervorbringen müsse, und dass er, um sicher etwas a priori zu wissen, er der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat.“[16]

Diese konstruktivistische Deutung menschlicher Wirklichkeitserkenntnis ist in gewisser Weise kontraintuitiv und wird darum von vielen Menschen bis heute gefühlsmäßig eher abgewehrt. Aber sie ist, wenn man sich einmal auf sie einlässt, logisch absolut kohärent und interpretativ von „zwingender“ Plausibilität, wenn sie auch erst auf einer hohen Stufe menschlichen Abstraktionsvermögens entwickelt werden kann, wie es Kants Philosophie verwirklicht. Gerade weil sie den menschlichen Alltagsüberzeugungen und der intuitiven menschlichen Grundorientierung in der Wirklichkeit widerspricht, ist ihre erstmalige ausgereifte Entwicklung bei Kant so genial. Wir müssen, schreibt etwa Lloyd Geering, „reach quite a high degree of sophistication before, with Kant, we can begin to draw a distinction between what we see in our heads (or mind eye’s)“ und „the external reality itself.“[17]

Die epochale Bedeutung seiner Grundthese vom „konstruktivistischen“ Charakter menschlichen Erkennens hat Kant selbst mit ihrer Deutung als „kopernikanische Wende“ in der Erkenntnistheorie herausgehoben, nach der, wie nach Kopernikus die Sonne nicht um die Erde, sondern die Erde um die Sonne kreist, so auch entgegen bisheriger Annahmen „unsere Erkenntnis“ sich nicht „nach den Gegenständen richten“ muss, sondern „die Gegenstände … sich nach unserer Erkenntnis richten“ müssen. Wir drücken mit den Formen unserer sinnlichen Anschauung und den Begriffen unseres Verstandes den so erkannten Dingen unseren „Stempel“ auf, und formen sie entsprechend unserer apperzeptiven Instrumente zu geistigen Konstrukten und Repräsentationen der erkannten Dinge in unserer Einbildungskraft.[18]

Die Folge ist, dass menschliche Erkenntnis „nie über die Grenze möglicher Erfahrung hinauskommen“ kann, sondern „nur auf Erscheinungen“ geht, „die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt liegen“ lassen muss. Raum und Zeit sind Formen unserer sinnlichen Anschauung[19], und die Kategorien der Quantität, Qualität, Relation und Modalität Begriffe unseres die erkannte Wirklichkeit mit ihnen formenden Verstandes; ob sie auch Dimensionen der „Dinge an sich selbst“ sind, können wir nicht wissen.[20] Wir kennen nicht die Welt, wie sie tatsächlich ist, sondern unser Erkenntnisvermögen konstruiert eine mentale Repräsentation dieser Welt, die Kant die „Erscheinung“ oder das „Phainomenon“ im Gegensatz zum „Ding an sich“, dem „Noumenon“ nennt. Unsere Welterkenntnis ist also eine zusammengesetzte Konstruktion, die an der Schnittstelle zwischen der Affektion unserer Sinne durch die „Dinge an sich selbst“ und ihrer Perzeption durch unsere ihnen ihren „Stempel“ aufdrückenden Wahrnehmungskräfte Sinnlichkeit und Verstand gebildet wird.[21]

Auf einen dritten konstitutiven Faktor der menschlichen Weltkonstruktion hat Lloyd Geering in seinem Buch „Tomorrow‘s God“ mit Bezug auf Kant hingewiesen. Nicht nur ist die direkt „erfahrbare“ Welt des Menschen immer geprägt von der konstruktivistischen Tätigkeit seiner apperzipierenden Sinnlichkeit und seines sie begrifflich formenden Geistes. Diese jeweils direkt sinnlich erfahrbare Welt ist zudem immer nur ein winziger Ausschnitt der Welt als Ganzer, auf die der menschliche Geist dabei schließt, und deren Konstruktion aus erinnerten Wahrnehmungen und geschichtlich und kulturell vermittelten „Weltinformationen“ damit der dritte Teil dieser zusammengesetzten menschlichen Weltkonstruktion ist: „What we see with the naked eye at one time is only an infinitesimal part of what we are referring to when we speak of the ‚world‘. Within the narrow horizon of our vision we are confined to what we can see from our own particular viewing point, and this even excludes the viewer. We see ourselves only by means of a mirror. What we mean by ‚the world‘ is something we have mentally constructed in the course of experience. As the coherent whole, which the word ‚world‘ implies, it exists primarily in the mind. Much of what we take to be the world, we have in fact never seen at all; it has been constructed by us from what we have learned from others. When we talk about ‚the world‘ we are referring to something which we can see, as it were, only with the mind’s eye, even though we do not doubt its external existence for one moment. … What is for us ‚the world‘ is a unity we ourselves have constructed in our own mind out of the phenomena of our experience and out of what we have been told by others. Each of us has been unconsciously constructing it from birth and we are continually modifying and extending it throughout life in the light of new experiences and information.“[22]

Klargestellt werden muss in diesem Zusammenhang hier m.E., dass Kants konstruktivistischer Grundansatz dabei, entgegen einer immer wieder von Kant-Kritikern angebrachten simplifizierenden Kritik, gerade nicht besagt, dass wir überhaupt keinen epistemologischen Zugang zur Wirklichkeit hätten, sondern alle vermeintliche Wirklichkeitserkenntnis vollständig und ausschließlich „nur“ aus Projektionen unserer Imaginationskraft bestünde.[23] Theißen spricht hier von einer „‘epistemische(n)‘ Passung des Menschen auf das Universum hin“, die auch Kant voraussetzt: „Wir können die Welt erkennen. Auch wenn wir die Wirklichkeit im Erkennen nicht abbilden, sondern konstruieren, haben unsere Konstruktionen doch Erkenntniswert. Wir entdecken in der Wirklichkeit eine Ordnung, die uns verwandt ist.“[24]

Wenn Sinnlichkeit und Verstand nur „Illusionen“ erzeugten, die mit der wirklichen Welt nichts zu tun hätten, könnten wir uns mit ihrer Hilfe ja gar nicht in der Welt orientieren, und es bestünde keinerlei Viabilität[25]. Kant vertritt keine rein idealistische oder gar solipsistische Position. Die Annahme einer Welt „an sich“ (unabhängig von unserem Denken von ihr) ist für eine kohärente Wirklichkeitserklärung nach Kant im Gegenteil konstitutiv erforderlich. Aber diese „mind-independend reality“ der Welt ist für jedes sie erkennende Subjekt nach Kants Interpretation eben nicht unmittelbar („objektiv“) gegeben, sondern nur vermittelt seines „subjektiven“ kognitiven Zugangs zu ihr.[26]

Anders gesagt: Wir kommen aus unserem Gehirn nicht heraus. Jede Welt, die es tatsächlich „gibt“, ist immer eine von einem bestimmten Gehirn konstruierte Erscheinungswelt. „Was wir erkennen, ist an die Konstruktionsprinzipien unseres Gehirns angepasst.“[27] Auch, was unserem Bewusstsein als „außen“ erscheint, ist in Wahrheit „innen“, nicht die „wirkliche“ Außenwelt, sondern ihre Rekonstruktion in den „Landkarten“ unseres Gehirns. Eine von dieser Hirnkonstruktion unabhängige, „tatsächliche“ Welt können wir aufgrund dieser von unserem Hirn erzeugten Landkarte der Wirklichkeit zwar logisch erschließen (postulieren), aber wir haben keinen hirnunabhängigen Zugang zu ihr; anders, als von irgendeinem Gehirn konstruiert nimmt sie niemals für irgendeines ihrer Geschöpfe Gestalt an, „erscheint“ sie nicht und wird sie darum nicht „wirklich“. In jedem Gedanken von Welt ist immer ein „Ich“ als Subjekt dieses Gedankens von Welt unablösbar dabei.

Dabei ist die menschliche Weltkonstruktion nach Kant aber nicht beliebig und frei veränderbar, sondern von strenger intersubjektiver Allgemeinheit und in diesem Sinne „objektiv“ für alle Menschen gültig, so dass „die Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören“ nach der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ mit Kants transzendentaler Erkenntnistheorie „den sicheren Gang einer Wissenschaft“ gehen[28] kann. Ich denke die Welt mittels der konstruktiven Kapazitäten meiner Einbildungskraft, „erzeuge“ sie in meinem Gehirn, und die Welt wird sich, wie Mark Taylor es in seiner Deutung Kants formuliert, so auch erst in meinem Denken ihrer selbst bewusst: „In knowing the world, the subject knows itself, and in the subject’s self-consciousness, the world becomes aware of itself.“[29]

Auch darin wird Kant von modernen evolutionsgenetischen und neuropsychologischen Forschungsergebnissen bestätigt: Weil genetisch tatsächlich alle heute lebenden Menschen auf die gleichen afrikanischen „Urahnen“ des homo sapiens sapiens zurückgehen, und durch die genetische Durchmischung aller menschlichen Entwicklungslinien seitdem wiederum jeder heute lebende Mensch mit jedem früheren Menschen in irgendeinem Grade verwandt ist[30], haben Menschen unterschiedlichster Kulturen und Sprachen nicht nur den prinzipiell gleichen epistemologischen Zugang zur Welt, sondern trotz aller kultureller Differenzierungen auch epistemologischen Zugang zueinander, und können ihre „Weltsichten“ darum auch miteinander kommuzieren und abgleichen: „Dadurch, dass mein Gehirn Modelle der Gedankenwelt anderer entwickelt (in derselben Weise, wie es Modelle der physischen Welt entwickelt), kann ich in eine geistige Welt eintreten, die wir miteinander teilen. Indem ich meine Gedankenwelt mit anderen teile, kann ich aus ihren Erfahrungen lernen und andere Modelle übernehmen, die besser als meine eigenen Modelle sind.“[31]

Nach Kant ist menschliche Erkenntnis also weder einach realistisch als „Abbildung einer Welt an sich“ noch non-realistisch als individuelles Phantasieprodukt zu verstehen, sondern als intersubjektiv allgemeingültiger Vorgang, der dem Menschen eine „mind-independant reality“ gleichzeitig verbirgt und erschließt – Kant versucht, mit einer komplexen Inbeziehungsetzung realistischer und nichtrealistischer Beschreibungen des menschlichen Erkenntnisaktes gerade eine Synthese zwischen Realismus und Idealismus herzustellen - er selbst spricht von „empirischem Realismus“ und „transzendentalem Idealismus“[32] - und begründet damit keine anti-realistische[33], sondern vielmehr eine streng relationale Erkenntnistheorie: Wir kennen die Welt nicht, wie sie „an sich“ (ohne Relation zu uns) ist, sondern nur, wie sie in der Relation zu uns „erscheint“. Es gibt keine vom erkennenden Subjekt unabhängige, „objektive“ Welterkenntnis; vielmehr verändert allein die Tatsache, dass wir es beobachten, das beobachtete Objekt. Alle menschliche Wirklichkeitserfahrung ist streng relational zu verstehen: „What Kant discovered is the principle of constitutive relationality, in which identity is differential rather than oppositional“, schreibt wiederum Taylor[34]. Der Kant’sche Konstruktivismus bedeutet in diesem Sinne eben keinen epistemologischen Anti-Realismus, sondern denkt epistemologisch konsequent zu Ende, dass die Welt immer die erkannte Welt eines bestimmten Subjekts ist, das zwar den Begriff einer Welt „an sich“ (abgesehen von seinem eigenen Zugang zu ihr) denken, aber niemals über eine solche Welt abgesehen von seinem eigenen Zugang zu ihr – also subjektunabhängig in ihrem An-sich-Sein – gesichertes Wissen erlangen kann.[35]

Im Sinne einer evolutionären Erkenntnistheorie muss dabei sicher noch stärker als bei Kant betont werden, dass für eine plausible evolutionäre Weltinterpretation zwischen „erkennendem“ Subjekt und der von ihm „erkannten“ Wirklichkeit immer eine Wechselbeziehung besteht. Nicht nur „konstruiert“ das erkennende Ich die von ihm erkannte Welt, sondern die Welt wirkt im Sinne eines systemischen Denkens selbst auch wiederum auf das erkennende Ich zurück und verändert es. Bei diesem Vorgang wird immer auch das erkennende Subjekt transformiert – im Erkenntnisakt grenzt das Ich immer auch an sein Anderes, und die „postmoderne“ Betonung der unaufhebbaren Dimension von „Alterität“ in aller Wirklichkeitserfahrung muss darum hier den Subjektivismus der Kant’schen Erkenntnistheorie ggf. auch kritisch erweitern. So formuliert etwa Mark Taylor: „The pressing question is: Where does that which the self-conscious subject represents to itself come from?“ Kant an dieser Stelle mit Fichte weiterführend müsse man sagen, dass die „activity of self-representation … pressuposes a more primordial presentation, which must originate elsewhere. This elsewhere is the limit that is impossible to think but without which thinking is impossible“[36]

Dieser auch von Kant selbst schon gesehene und herausgearbeitete Bezug jedes Erkenntnisaktes auf sein liminales Anderes führt aber nicht wieder zu einer epistemologisch einfach realistischen Position, sondern, so Taylor, zum Wahrnehmen des menschlich niemals fassbaren Horizonts eines an-archischen (Ab)Grundes: „That is to say, the subject discovers that it has emerged from a groundless ground that it never can fathom.“[37] So verstanden begründet Kants Konstruktivismus auch in der Interpretation Taylors weder einfach einen metaphysischen Anti-Realismus noch einfach einen metaphysischen Realismus (das „neither, nor“ komplexer Schemata der Weltorientierung nach Taylor), sondern bringt beide Positionen in ein höchst beziehungsreiches und differenziertes Wechselspiel, in dem das „Ding an sich selbst“ eben nicht negiert, sondern transzendental als der zwar kognitiv niemals fassbare, aber dennoch für jede kohärente Weltsicht konstitutiv vorauszusetzende liminale Hintergrund einer kohärenten Wirklichkeitsbeschreibung gedacht wird.

Das gilt in analoger Weise auch für die Frage der Referentialität menschlicher Gottesrede, wie sie etwa durch Gordon Kaufmans theologischer Aufnahme des Kant’schen Konstruktivismus in seinem Programm von Theologie als „human imaginary construction“[38] entworfen wird. Entgegen immer wieder vorgetragenen Fehlinterpretationen seines „theologischen Konstruktivismus“ durch seine Kritiker ist auch Kaufmans konstruktivistisches Gotteskonzept nicht einfach metaphysisch „anti-realistisch“, sondern zielt im Sinne dessen, was Nordgren in seiner Analyse der Theologie Kaufmans einen „weak metaphysical realism“[39] nennt, immer noch auf die „Rekonstruktion“ eines ontologisch „realen“ Referenten theologischer Aussagen im Rahmen heutiger kosmologischer und evolutiver Weltsicht, eines „ultimate point of reference“, der im Kant’schen Sinne nicht nur der menschlichen Imagination entstammt, sondern sie als ihr liminaler Hintergrund begründet.

So paraphrasiert etwa Stone Kaufmans Ausführungen zur Frage eines theologischen „Realismus“ seiner Gotteskonstruktion folgendermaßen: „Kaufman’s analysis of the term ‚God’ is that it refers to that which produces and leads us to a fuller human existence and at the same time that which relativizes all our projects, accomplishments, and values. … Although this symbol is a construction of disciplined imagination for which we are responsible, it refers to a reality that is ‚neither a simple fantasy of ours nor something that we can manipulate or control, make or remake as we choose; God is a reality genuinly distinct from us and all our imaginings, that which – quite apart from our own doing – has given us our being as humans and continues to nurture and sustain us‘ (Kaufman 1993, 317)“.[40] Nordgren hält entsprechend für Gordon Kaufmans theologische Kant-Rezeption fest: „If ‚mystery‘ is an apophatic term applied to God, ‚creativity‘ expresses a piece of kataphatic theology, attempting to talk positively about God in a metaphorical mode by pointing to something significantly real in our perception of the universe.“[41]

b) Die Begrenzung des Wissens

Mit Kants epistemologischem Konstruktivismus eng verbunden ist seine Einsicht in die Begrenzung dessen, was der Mensch wissen, das heißt, was er zuverlässig erkennen und verlässlich begreifen kann. Dass die „Dinge an sich selbst“ dem menschlichen Erkenntnisvermögen durch seine eigene Struktur und Eigenart notwendig und unabänderlich verborgen bleiben müssen, bedeutet, so führt Kant weiter aus, dass unsere Erkenntnis sich nur auf einen sehr kleinen Teil der Wirklichkeit, nämlich soweit sie unserer Erfahrung zugänglich ist und damit für uns zur „Erscheinung“ wird, beziehen kann; den größeren Teil der Wirklichkeit, der den Zugangsbereich menschlicher Erfahrung übersteigt, können Sinnlichkeit und Verstand weder erfassen noch begreifen.

Kant beschreibt die der Sinlichkeit und dem Verstand zugängliche Wirklichkeit der Erscheinungen im Verhältnis zur Gesamtwirklichkeit in einer für ihn sonst ungewöhnlichen sehr anschaulichen und bildhaften Sprache als „eine Insel, … umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane“, der aber für die Menschen unerkennbar bleibt und den Verstand, soll er auf ihn angewendet werden, notwendig in die Irre führt. Dieser Ozean der Dinge an sich selbst und der unsere Verstandeserkenntnis überschreitenden Wirklichkeit ist darum für das menschliche Denken der „Sitz des Scheins“, „wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.“[42]

Dieses Bild von der Insel und dem Ozean zeigt m.E. auch sehr deutlich den Unterschied zwischen Kants kritischer transzendentaler Philosophie und einem „empiristischen“ oder „naturalistischen“ (auch religiös-naturalistischen) Weltbild: Für den empiristischen Naturalismus früher und heute ist die (jedenfalls prinzipiell) empirisch zugängliche Wirklichkeit „all there is“; Kant nennt diese (faktisch und prinzipiell) empirisch zugängliche Wirklichkeit dagegen die „Welt der Erscheinungen“, die nur einen sehr kleinen Teil der größeren Wirklichkeit insgesamt darstellt, im Bild: eben nur eine kleine Insel im unendlichen Meer. Über das Meer, die die Insel der menschlich begreifbaren Welt umgebende größere Gesamtwirklichkeit, können Menschen nach Kant zwar nichts wissen. Die Vernunft muss sie aber notwendig voraussetzen, um ein kohärentes Weltbild konstruieren zu können. Das führt bei einem an Kant angelehnten theologischen Denken wie etwa dem Gordon D. Kaufmans zu einer fundamentalen Bedeutung der Dimension von „mystery“, eines unauslotbaren tiefen Geheimnisses, das alles empirisch mögliche Verstehen zugleich begrenzt und weit übersteigt. Eine solche prinzipiell unergründbare, transempirische Dimension der Gesamtwirklichkeit bleibt einem nur „naturalistischen“ Weltbild dagegen fremd.[43]

Die „Dinge an sich selbst“ können, so Kant, entgegen der naturalistischen oder empiristischen Auffassung, nie „gewusst“ werden, sondern „das Ding an sich“ ist „bloß ein Grenzbegriff“, der notwendig ist, um die Möglichkeit von Erfahrungserkenntnis zu begründen.[44] Zu diesen die mögliche Verstandeserkenntnis überschreitenden „Dingen an sich selbst“ gehören alle Dimensionen des Unbedingten, die unsere Vernunft zwar notwendig als die Grenze alles Bedingten denken muss, aber die der Verstand nie erfassen kann, und die Kant differenziert in die drei grundlegenden Vernunftideen von „Gott“ (dem Horizont des Ganzen, das alle uns zugänglichen und uns unzugänglichen Teile der Wirklichkeit integriert und trägt), von „Freiheit“ (dem Horizont des Verpflichtenden, der uns in der Ethik als der „kategorische Imperativ“ begegnet, und der nur sinnvoll gedacht werden kann, wenn der menschliche Wille die Fähigkeit hat, ihm aus Freiheit zu entsprechen) und von „Unsterblichkeit“ (dem Horizont des Unendlichen, das alles Endliche überschreitet und ihm erst seinen Sinn und seinen Platz gibt) aufschlüsselt.[45]

Auf die Grundfrage „Was können wir wissen?“ muss die Selbstkritik der Vernunft nach Kant also sehr bescheiden antworten: „Sehr wenig“, nur das, was unserer Erfahrung zugänglich ist, den kleineren Teil der Wirklichkeit; aber über die größere Wirklichkeit darüber hinaus können wir kein Wissen und keine vernünftige Erkenntnis haben. Die großen metaphysischen Wirklichkeitsdimensionen des Unbedingten kann unsere Vernunft zwar als Grenzbegriffe denken, aber sie bleiben dem Zugriff unseres Verstehens uneinholbar entzogen (auch eine „Offenbarung“ könnte nur mit den Bedingungen unseres Verstehens erfasst werden, und darum die prinzipielle Unerkennbarkeit einer vernunfttranszendenten Wirklichkeit nicht aufheben) und epistemologisch transzendent. Hier besteht, meine ich, - trotz Kants eigener Warnungen vor „mystischen Schwärmereien“ in der Religion - eine große sachliche Nähe zwischen Kants Vernunftkritik und den alten Einsichten der apophatischen, negativen Theologie, nach denen Gott positiv nicht beschrieben oder erkannt werden kann, weil alle unsere endlichen Verstehens- und Bescheibungskategorien dem Unendlichen unangemessen bleiben und darum in einer fundamentalen Weise „do not apply“ (John Hick). Was die großen Fragen des Lebens begrifft, müssen wir uns in unserer kleinen Insel inmitten des unendlichen Ozeans darum „at home in uncertainty“[46] machen, weil die Einsicht in die prinzipielle Unbegreiflichkeit der Dinge, wie sie wirklich sind, „subverts all truth-regimes to precisely the extent that they do not first negate themselves, that is, recognize themselves as variously and relatively applicable projections of our finitude”. (Catherine Keller)[47]

Für diese grundlegende Begrenzung alles unseres möglichen Wissens und Verstehens, die Kant in dem Bild von der „Insel, … umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane“[48] ausgedrückt hat, hat Karl E. Peters in seinem Essay „Empirical Theology and a ‚Naturalistic Christian Faith’“ ohne ausdrücklichen Bezug auf Kant ein in die gleiche Richtung zielendes, aber vielleicht noch weiterführendes Bild benutzt[49], das die „cloud of unknowing“[50] die den menschlichen Wirklichkeitsbezug undurchdringlich umgibt, noch einmal anders erläutert und beschreibt. Peters Bild ist das vom Lagerfeuer beduinischer Araber in einer sternenlosen Nacht: „The campfire illuminates their immediate surroundings. However, beyond the light is impenetrable darkness. … While the flickering light of the campfire represents visible reality, the darkness suggests unmanifested reality … out of which the world that we can see and know emerges. To me this metaphor indicates that all we can know is the manifest world. The campfire in the darkness suggests that there are limits of our knowing capabilities … and also that there is something more. But what the more is like remains a mystery.“[51]

Insofern ist es auch einer der bleibenden und unhintergehbaren Impulse der Philosophie Immanuel Kants für jede künftige Theologie, dass sie nicht mehr mit auf „Offenbarung“[52] begründeten Absolutheitsansprüchen und dem Anspruch vermeintlich sicheren Wissens über die „Letzte Wirklichkeit“ auftreten kann, sondern sich als Denkbewegung „an der Grenze“ verstehen muss, an der die erkennbare Welt die Welt eines unergründlichen Geheimnisses berührt, und sich darum konstitutiv - ohne sichernde Fundationen - „in Face of Mystery“ (Gordon Kaufman) vollzieht.

c) Das „Erhabene“ als Ansatzpunkt der Theologie

Lektürebasis:

Clayton Crockett: A Theology of the Sublime, New York 2001

Richard Kearney: Strangers, Gods and Monsters. Interpretating Otherness, New York 2003

Die Bedeutung der Philosophie Kants für künftiges theologisches Denken ist auch Thema in Clayton Crocketts „Theology of the Sublime“, der dabei besonders die theologische Bedeutung der Dimension des „Erhabenen“ innerhalb von Kants Beschreibung der ästhetischen Urteile in seiner dritten Kritik, der „Kritik der Urteilskraft“ herausarbeitet. Crockett betont, dass Kants transzendentale Begrenzung der Reichweite menschlichen Denkens konstitutiv bleiben muss auch für jede Theologie. „There is no privileged content that makes it go away. Even revelation would have to be received under the human conditions of thinking. Even the concept of God is subject to temporalization und subjectivization in being thought“, schreibt Charles E. Winquist in seiner einleitenden Zusammenfassung von Crocketts Buch.[53]

Crockett verbindet die Erkenntnistheorie Kants mit der Korrelationstheologie Paul Tillichs und der dekonstruktiven Textinterpretation Derridas, und hält einleitend zu seinen weiteren Ausführungen programmatisch fest: „Because we think, human beings raise theological questions, which is not to say that we necessarily possess answers to these questions. To ask about the significance of anything in an ultimate or fundamental sense is to ask a theological question. This is what Paul Tillich means by defining theology as ‚ultimate concern’. To ask a question and not to possess an immediate answer opens the space for theological thinking to occur.“[54]

Mit seiner Relektüre von Kant und Tillich nimmt Crockett eine theologische Position ein, der er selbst als „a radical Tillicheanism that includes American Death of God theology“ bezeichnet. Mit dieser Position wendet er sich gegen neoorthodoxe theologische Bestrebungen in jeder Form: „Much contemporary theology which identifies itself as such is reactionary and dogmatic, which prevents any serious grappling with the real issuses and problems of thought which confront modern and postmodern societies.“ Er unterscheidet seinen Ansatz aber auch von „much progressive or liberation theology“, so weit sie alle theoretischen Fragen praktischen Ziele unterordnet. Weder will er Praxis über Theorie stellen noch umgekehrt Theorie über Praxis, sondern „think critically beyond such simple-minded oppositions.“[55]

Hieraus ergibt sich ein kritischer Impuls auch gegen eine rein auf die Funktion von „Orientierung“ bezogenen Bestimmungen der theologischen Aufgabe: „Theologians and scholars desire in their writings to provide orientation to their readers, that is, to help them make sense of their world or their reality. Furthermore, most theologians want to minimize disorientation, in order to stress the harmony between reality and their specific interpretation of it. In a profound way, however, what is defined as religious represents that which challenges our orientations, and calls them into question in an unsettling way.“[56]

Auf diesem Hintergrund fragt er nach der Bedeutung von Kants Konzept des „Erhabenen“ für ein heute plausibles theologisches Denken. „From a Kantian point of view, the sublime can be understood as that which disrupts orientation, in a manner akin to Rudolf Otto’s ‚The Idea of the Holy’“. Für Otto ist das Numinose aber etwas, das „as an object shatters human capacity for representation externally“, während „a more genuinely Kantian understanding locates the unrepresentability within the very capacity or faculity“ menschlicher Wirchklichkeitskonstruktion selbst. „In terms of an understanding of religion, one could trace a trajectory from Kant through Schleiermacher to Otto and Tillich. … Schleiermachers ‚feeling of absolute dependance’, Otto’s „the Holy’ and Tillich’s ‚Depth of Reason’ represent different formulations of the Kantian sublime.“[57]

Theologie ließe sich so verstehen als kritische Interpretation der Wirklichkeit im Rahmen der menschlichen Erfahrungskapazität für das Erhabene, die „interrogates, destabilizes, or disorients“ alle „kinds of texts“[58]. Insofern wäre Theologie kein repräsentatives Denken über Gott als einen „Gegenstand“ des Denkens, sondern ein „Denken des Denkens“ selbst, als die Formulierung seiner transzendentalen Strukturen: „Following Kant, God is not an object of experience, transcendent or otherwise. The sublime takes place at the heart of the subject, in the transcendental imagination, which makes knowledge of an object possible in the first place … If the sublime is identified with God (or divine power), however tentatively, then God powerfully reappears within subjectivity, shattering it from inside, as the force of the negative imagination. … God becomes internal to the process of human thinking and representation, rather than external as a locus of transcendent power and teryfying might.“[59]

Insofern Theologie dennoch einen Anspruch beinhaltet, „to know or possess (wether discursively or intiutively) the truth which it invokes or to which it points“, muss sie diesen Anspruch auch immer zugleich dekonstruieren. „This demand to think or speak the ultimate cannot be avoided, but it also cannot be approached directly in a non-metaphorical way. Furthermore, any theological claim must be subject to deconstruction or else it becomes guilty of what Tillich calls idolatry.“[60]

Von Kant über Tillich zu Derrida führt eine Linie der Erschütterung von fundationalistischen Ansprüchen, die Tiefe der Wirklichkeit, das Göttliche, durch kognitive Bemühungen und sprachliche Zeichen repräsentieren, präsent werden lassen zu können. „The contemporary crisis of representation is a crisis of intelligibilty, and despite calls to return to premodern notions … any honest theological thinking must attend to that very disorientation.“ Gegen alle Versuche, solche „claims of unintelligibility“ im Sinne einer neuen „Orthodoxie“ als selbst wiederum dogmatisch zu diskreditieren, „such problems with intelligibility actually provide the possibility for humility, if the calling into question of established notions of intelligibility … allows the space to reinvision intelligibility itself.[61]

Auch Crockett betont die Nähe einer solchen an Kant, Tillich und Derrida orientierten kritischen Epistemologie des Erhabenen zur theologischen Tradition einer „negativen“ oder „apophatischen“ Theologie: „In many ways, this reading of Kant pursues the most negative of negative theologies in an apocalyptic way which is relevant for the situation of our contemporary world. A negative theology grapples with ultimate questions but does not simply accept answers uncritically. Broadly understood, such a negative theology exhibits a restlessness or discontent regarding the immediate world; it troubles experience in such a way that theology does not conceive itself as a result but rather a process of questioning or interrogating existence in a meaningful thinking.“[62]

Kritische Theologie wird in diesem Sinne immer auf Kants Selbstkritik des Denkens aufbauen müssen, und von „Gott“ außer im Bereich der „praktischen Vernunft“ v.a. im Bereich des Ästhetischen, des „Sinns und Geschmacks für das Unendliche (Schleiermacher), und darum im Rahmen der nach Kant der menschlichen Urteilskraft einwohnenden Kapazität einer Wirklichkeitsdeutung im Erleben des „mathematisch“ und „dynamisch Erhabenen“ reden müssen, die bei Kant schon Rudolf Ottos spätere Unterscheidung des „mysterium fascinosum“ und „mysterium tremendum“ in der Erfahrung des Heiligen vorwegnimmt.[63]

In dieselbe Richtung weist auch Richard Kearneys Interpretation des „Erhabenen“ bei Kant in seinem „Strangers, Gods and Monsters“. Kearney behandelt hier die Frage: „How do we interpret those limit situations of death, deity, sublimity, trauma or terror, which seem to shatter reason and leave us speechless?“[64] und entwickelt zu ihrer Beantwortung „a diacritical hermeneutics of alterity“, die er als einen „dritten Weg“ zwischen (romantischer) angleichender Vereinnahmung und (postmoderner) radikaler Distanzierung des Fremden bezeichnet. Dabei kommt auch er immer wieder besonders auf die Kategorie des „Erhabenen“ bei Kant zu sprechen, die für ihn ermöglicht, die Erfahrung von Alterität nicht jenseits des menschlichen Selbstseins, sondern gerade in der menschlichen Subjektivität zu verorten und zu beschreiben, ohne das Fremde zu vereinnahmen und ohne den möglichen Schrecken des Fremden zu nivellieren - ein Schrecken, der sich in besonderer Weise z.B. in „the feeling of awe and shock“ zeigt „experienced by many who witnessed … the events of 9/11“[65].

Für Kant, so Kearney, liegt „das Erhabene“ bezogen auf solche menschlichen Schreckenserfahrungen nicht in der Monstrosität des Geschehenen als solchem, sondern „Kant identifies the depth of the sublime“ vielmehr „in terms of our resistance to something dreadful. It is, he says, our response to terror, that is in fact sublime rather than terror itself. … In other words, it is because our mind discovers unsuspected depths within itself in the face of some immesurable menace outside of us that we feel ‚sublime‘.“[66] Das „Erhabene“ zeigt sich also in der Fähigkeit des Menschen „to somehow transcend the immediate danger – at least in our minds. What we call sublime, therefore, is precisely that which ‚raises imagination to a presentation of those cases in which the mind can make itself sensible to the appropriate sublimity of the sphere of its own being, even above nature‘.“[67]

Mark Patrick Hederman fasst in einer Besprechung von Richard Kearneys Buch Kearneys Deutung des „Kantian sublime“ weiter so zusammen: „Examining the category of the sublime in Kant …, Kearney shows“, dass „das Erhabene“ bei Kant eine Spur von Transzendenz in der menschlichen Subjektivität selbst darstellt, „a revelation of the more in subjectivity, which is prised into exercise, surprised into self-identification by the shock of the encounter with the unexpected.“ Das bedeutet für eine theologische Interpretation der menschlichen Kapazität zur Wahrnehmung des „Erhabenen“ bei Kant: „The event of alterity awakens the subliminal capacity in us, the otherwise dormant sensitivity to what is beyond us.“[68]

In dieser Weise kann sich auch nach Kearney gerade Kants Analyse der ästhetischen Urteilskraft in seiner dritten Kritik für heutiges nachtheistisches theologisches Denken als besonders fruchtbar erweisen. Die eigentliche Frage ist dann nicht, ob „Gott“ außerhalb der menschlichen Wirlichkeitskonstruktion tatsächlich „existiert“ (Küng) oder theologisch als „sich gebend“ und sie so begründend vorauszusetzen ist (Jüngel, Dalferth, Marion).[69] Vielmehr ist im Anschluss an Kants Interpretation der menschlichen Wahrnehmung des „Erhabenen“ theologisch die Frage zu stellen, ob die unterschiedlichen menschlichen Gotteskonstruktionen tatsächlich nur eine „delusion“ sind (Dawkins), oder nicht doch die Spur eines „Anderen“, eines „Mehr“ in der menschlichen Subjektivität markieren (Kearney, s.o.), das, nach Taylor, „is impossible to think but without which thinking is impossible“[70]

Bei einer solchen Interpretation und Rezeption der „grounds for theology“ (Firestone) bei Kant kann die Gottesfrage, meine ich, im Rahmen der drei Grundfragen der Wirklichkeitsorientierung nach Kant („Was kann ich wissen“ à erste Kritik, „Was soll ich tun“ à zweite Kritik, „Was darf ich hoffen?“ à dritte Kritik und Religionsschrift) nicht wie in der vor-kantischen Metaphysik in erster Linie als theoretische („Was kann ich wissen“), oder wie in der „traditionellen“ Kant-Interpretation in erster Linie als ethische („Was soll ich tun“), sondern fundamentaler, theoretische und praktische Dimensionen in „ästhetischer“ Perspektive zugleich vertiefend und integrierend, als soteriologische Frage („Was darf ich hoffen?“) gedeutet und bestimmt werden, als die Frage nach dem, was menschliches Leben gerade angesichts seiner Sinnkrisen (Gräb) und Absurditätserfahrungen (Theißen) dennoch trägt, birgt und tröstet.

d) Gott nicht als Gegenstand, sondern als („regulativer“) Horizont des Denkens

Die vierte Grundeinsicht Kants, die m.E. heute noch weiterführend und unhintergehbar ist, ist seine „transzendentale“ Deutung des Gottesglaubens nicht als Gegenstand des Wissens, sondern als „regulative“ Idee für die Orientierung menschlichen Handelns, und als unbedingter Horizont des bedingten menschlichen Denkens.

„Denn das, was uns notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten … verlangt.“ Über dieses Unbedingte, das unsere Vernunft als Horizont und Grund alles Bedingten denken muss, können wir aber nichts wissen, da gemäß der konstruktivistischen Grundthese „das Unbedingte nicht an den Dingen, sofern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, sofern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst, angetroffen werden“ muss.[71] Otfried Höffe erläutert in seiner Kant-Einführung diese neue Deutung des Göttlichen so: Die Vernunftideen des Unbedingten „haben zwar keine konstitutive Funktion für die Erkenntnis, … doch haben sie eine regulative Bedeutung. Die Erfahrung zeigt uns notwendigerweise immer nur Teile und Ausschnitte der Wirklichkeit; die Vernunft sucht diese Fragmente zu einem Ganzen zusammenzusetzen, und hat recht damit. Nur ist uns das Ganze nie gegeben, wohl ständig aufgegeben; es ist der Fluchtpunkt des stets fortschreitenden Forschungsprozesses, nicht der Gegenstand einer besonderen Wissenschaft, die sich Metaphysik nennt. Weil alle Erfahrung Fragmentcharakter hat“ kann das Denken die einzelnen Teile solcher Erfahrung „nie zu einem vollständigen Ganzen“ zusammensetzen. „Das Ganze ist wie ein Horizont, von dem nur Kinder glauben, man könne jemals seinen Rand erreichen. Die Vorstellung, das Ganze der Erfahrung sei nicht bloß der Horizont oder Fluchtpunkt der Erkenntnissuche, bringt den transzendentalen Schein hervor und hat die Philosophie so lange genarrt.“[72]

Das erinnert auch an John F. Haughts bereits im ersten Teil meiner „Paradigmen“-Artikel notierte Formulierung dieses Gedankens: „God is not one object among others in our experience. Rather, God may be understood as the ultimate horizon which makes all of our experiences possible in the first place.“[73] Diese Neubestimmung Gottes als eines unbedingten „Horizontes“, vor dem alles Bedingte erscheint, hat m.E. ein großes verbindendes und integrierendes Potential, mit dessen Hilfe die verschiedenen hier und zuvor beschriebenen Ansätze und Perspektiven geordnet und komplex zusammengeschaut (nicht vereinheitlicht!) werden können. Von dieser auf Kant zurückgehenen Neubestimmung des Göttlichen als dem immer vorauszusetzenden, aber nie fassbaren Horizont eines „Ganzen der Erfahrung“, vor dem jedes mögliche Denkobjekt „sichtbar“ wird und erscheint, aus möchte ich abschließend nochmals den Versuch einer weiteren Zusammenschau der verschiedenen Denkansätze für einen „für mich heute trag- und sagfähigen Glauben“ machen, die ich in den drei Teilen meiner „Paradigmen“-Artikel zusammengestellt und reflektiert habe.

Anmerkungen

[1] Zu Hicks theologischer Kantrezeption vgl. z.B. Firestone, Kant and Theology, 72ff.

[2] Zu Kaufmans theologischer Kantrezeption vgl. Nordgren, God, 66ff., und Firestone, Kant and Theology, 93ff.; Firestone sieht (gemäß Kants berühmtem Satz in seiner ersten Kritik: „Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.") durch Kants transzendentale Erkenntnistheorie in der Zusammenschau aller drei Kritiken – trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass es von Gott nach Kant kein „Wissen“ geben kann - drei positive Grundlagen für konstruktives theologisches Denken begründet, die über die „traditionelle“ agnostische oder atheistische Interpretation von „Kant’s Religion“ hinausführen, und die damit auch Kants eigene explizite religiöse Aussagen in seiner Religionsschrift begründen und kohärent erscheinen lassen: „Kant’s Moral Grounds for Theology“, „Kant’s Poetic Grounds for Theology“ und „Kant’s Ontological Grounds for Theology“. Die Bedeutung der Kantrezeption Gordon Kaufmans sieht Firestone v.a. darin, über die rein praktisch-ethische hinaus die zweite, die poetische Grundlage für positives theologisches Denken bei Kant richtungsweisend herausgearbeitet zu haben: „Kaufman’s poetic understanding of theology defines the theological task as an imaginative use of words meant to capture the mystery of our existence as an experienced whole“, und führt damit über die unfruchtbare „realist/non-realist debate“ in der Gottesfrage hinaus, die theologisch, so Firestone, ohnehin den Karren vor das Pferd spanne (Firestone, Kant and Theology, 93). Theologisches Denken konstruiere mit Hilfe des Gottessymbols als dem „ultimate point of reference“ nach Kaufman ein integrierendes Konzept zur Orientierung menschlichen Lebens im Ganzen der Wirklichkeit. Mit dieser „holistischen“ Interpretation der als „profound mystery“ alles Wissen prinzipiell übersteigenden Letztwirklichkeit nehme er ein theologisch entscheidendes Grundmotiv von Kants kritischer Philosophie auf und setze es theologisch fruchtbar um: In Kants Denken macht erst der regulative Horizont des „Ganzen“ die Anwendung der menschlichen „Vernunft“ auf die Wirklichkeit überhaupt möglich: „The whole makes possible reason in its empirical employment, but is also part (of) the integral structure of reason itself and crucial to resolving the perennial questions of knowledge, duty, hope and identity.“ (Firestone, Kant and Theology, 105f.)

[3] Vgl. Caputo/Scanlon, Transcendence and Beyond, 1f.

[4] Grundlegend für diese Aufnahme und Weiterführung der Kant’schen Kritik ist immer noch Schleiermachers Verortung der Religion im menschlichen „Gefühl der schlechthinnigen Abhänggkeit“ und ihre ästhetische Deutung als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“. Zu Schleiermachers ethischem und theologischem Denkansatz im Allgemeinen und zu seiner Rezeption und Weiterführung Kant’scher Impulse im Besonderen vgl. auch insgesamt Marina, Transformation. Diese neuere Studie über Schleiermachers Begründung der Ethik ist m.E. zugleich auch eine brillante und wegweisende Einführung in Schleiermachers religiös-philosophisches Denken überhaupt und in seine Bedeutung auch für heutiges theologisches Nachdenken.

[5] Zitiert nach Höffe, Religion, 9

[6] James, Reality, 39, im Anschluss an Gedanken Kaufmans; über die Bedeutung von Sprache für die menschliche Fähigkeit zur Weltkonsruktion vgl. auch Lloyd Geering, Tomorrow’s God: “We live in a world of language, yet language is a human creation. In a very important sense the world in which we live is one which humans, as a species, have created.” (21) Zugleich aber kann man in einem “paradoxical enigma” (14) auch sagen, dass die Sprache erst den Menschen geschaffen hat, weil menschliche Sprache und menschlicher Geist ko-evolviert sind: Denn “it is also true that the creation of words led to the evolution of the human mind on the foundation of the former and more primitive animal mind.” (18) So ist beides festzuhalten: “Language is the collective product of the powers of human imagination and creativity and, as it develops, it further stimulates that same imagination and creativity.” (14)

[7] Vgl. schon die entsprechenden Formulierungen Georg Simmels von 1896: “Kant ist noch ganz von der Vorstellung beherrscht, dass die Welt ihren Hauptprinzipien nach ein System bildet, und dass, indem eben diese Formen und Prinzipien derselben in dem erkennenden Geist liegen, unsere Erkenntniskräfte selbst ein gleichsam architektonisches, nach dem Prinzip der Symmetrie gebildetes System ausmachten. Unsre Seelenkräfte überhaupt zeigen ihm strenge Dreiteilung: Erkenntnisvermögen, Gefühlsvermögen, Wille. Das Erkenntnisvermögen seinerseits teilt sich in genau geschiedene Etappen auf: Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft. Der Verstand wiederum funktioniert in zwölf genau bestimmten Kategorien, in die er das Weltbild fasst und von denen je drei wieder eine Abteilung bilden. Kurz, der menschliche Geist erscheint ihm als ein durchaus symmetrisches Gebilde, das weder mehr noch weniger Glieder haben kann, als die logische Regelmäßigkeit erfordert. Dies ist der Punkt, an dem sich die moderne Weltanschauung aufs entschiedenste von der Kantischen trennt. Uns erscheint der menschliche Geist so gut wie jedes andere organische Gebilde als eine Station einer ins Unendliche gehenden Entwicklung. Hervorgegangen aus dem Zusammentreffen unzähliger Zufälligkeiten, abhängig von einer Unübersehbarkeit historischer Bedingungen, ausgestattet mit der buntesten Erbschaft aus allen vergangenen Anpassungsperioden - fehlt ihm vollkommen jene innere Abrundung und logische Vollständigkeit, die ihm Kant zuspricht.“ (Simmel, Kant)

[8] Vgl. zur Bewertung der Streitschrift von Adorno und Horkheimer insgesamt den Artikel von Eckhart Arnold: „Aufklärungskritik als metaphysische Denunziation. Über den Begriff der Aufklärung bei Horkheimer und Adorno“ (http://www.eckhartarnold.de/papers/2005_Adorno/toc.html)

[9] Ornstein, Bewusstsein, 234; vgl. weiter insgesamt Frith, Wie unser Gehirn die Welt erschafft, und Roth, Aus Sicht des Gehirns. Roth hält als Ergebnis seiner Darstellung des heutigen Standes der “Erforschung der neurobiologischen Grundlagen von Bewusstseinszuständen” (8) gleich zu Beginn seines Buches fest: “Die Feststellung muss also lauten: Ich bin ein Konstrukt des Gehirns, dem ein konstruierter Körper und eine konstruierte Umwelt zugeordnet sind. … (W)ir leben in einer konstruierten Welt, aber es ist für uns die einzige erlebbare Welt.” (50; vgl. insgesamt v.a. 69-89)

[10] Transzendenz, 21-25; vgl. bei den von Dürr zusammengetragenen Einzelbeiträgen u.a. die Ausführungen von Max Born zum Verhältnis von Beobachtern und beobachteter physikalischer Wirklichkeit 86ff. (Die „Beobachter“ gleichen eher den Zuschauern bei einem Fußballspiel, die durch ihren Beifall, ihre Lieder, Rufe und Pfiffe das Spielgeschehen beeinflussen, als dem passiven Publikum bei einem Theaterstück), von Niels Bohr zur „Komplementarität“ unterschiedlicher Deutungsperspektiven und zum „Beobachtungsproblem in der Quantenphysik“ 99ff., Erwin Schrödingers Beitrag zu Kant 131ff., Daniel Bohms Ausführungen zum Verhältnis von „Fragmentierung und Ganzheit“ in der menschlichen Erkenntnis 207ff., und die Gedanken zur Überwindung der Trennung einer „objektiven“ und „subjektiven“ Wirklichkeitsdeutung durch die Ergebnisse von Relativitätstheorie und Quantenphysik in Werner Heisenbergs „Gespräche(n) über das Verhältnis von Naturwissenschft und Religion“ 251ff.; entsprechend schreibt auch Brian Green in seinem „Der Stoff, aus dem der Kosmos ist“: „Physiker wie ich sind uns sehr wohl bewusst, dass die Wirklichkeit, die wir beobachten … vielleicht wenig oder gar nichts mit der Wirklichkeit dort draußen zu tun hat.“ (Kosmos, 9) Hans-Peter Dürr selbst hat die wirklichkeitskonstruierende Bedeutung der menschlichen, auch der wissenschaftlichen Beobachtung in seinem Buch „Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen“ noch pointierter beschrieben, indem er sie nicht nur mit der Metapher eines „Fischernetzes“ verdeutlicht, das durch seine Maschengröße den Nachweis kleinerer Fische von vornherein ausschließt, sondern mit dem Bild eines „Fleischwolfs“, durch den die beobachtende Forschung die beobachtete physikalische Wirklichkeit „dreht“: „Wenn wir etwas bewusst wahrnehmen oder verschärft: wenn wir Wissenschaft treiben, dann verwenden wir nicht nur ein Netz, sondern mehr so etwas wie einen Fleischwolf: Wir stopfen oben die Wirklichkeit hinein, drehen an einem Hebel herum, zerhacken alles klitzeklein, pressen die ganze Masse durch eine vorgeformte Lochscheibe und heraus kommen je nach Lochscheibe verschiedenartige Würstchen oder Nudeln.“ Wenn wir diese „Forschungsergebnisse“ für ein Abbild der Wirklichkeit selbst halten, unterliegen wir einem großen Irrtum. „Das Ergebnis unserer Beobachtung (die ‚Würstchen‘ etc.) ist wesentlich ein Produkt der speziellen Art des Beobachtungsprozesses, unserer Art der Wahrnehmung und der speziell ausgewählten Erkenntnisstruktur. Es ist kein getreues Abbild der dahinter verborgenen oder vermuteten ‚eigentlichen Wirklichkeit‘.“ (Dürr, Auch die Wissenschaft, 22)

[11] Pörksen, Ungewissheit, 12

[12] Pörksen, Ungewissheit, 17

[13] Für eine differenzierte Darstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Kants transzendentalphilosophischer Epistemologie und heutigem Konstruktivismus vgl. Elstner, Bedeutung, 15-20

[14] Zur Rezeption und Weiterführung Kants bei Kaufman vgl. auch James, Reality, 35ff.; 45

[15] In gewissem Sinne kann man den theologischen Konstruktivismus schon auf Luther zurückführen. Wenn Luther in seinem “Großen Katechismus” in der Auslegung des Ersten Gebotes formuliert: „Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott“, dann ist der Gott des Menschen nicht mehr gedacht als rein externe, vom menschlichen Glaubensakt unabhängige Größe, sondern erst „das Trauen und Glauben des Herzens … macht (beide), Gott und Abgott“, d.h., das existentielle „Hängen meines Herzens“ „konstruiert“ erst die Wirklichkeit, auf die es sich bezieht, für mich als göttlich (im Sinne dessen, was Tillich später in Weiterführung diese Grundgedankens Luthers einen „ultimate concern“ genannt hat).

[16] Kant-Zitate aus Kritik der reinen Vernunft, B XI

[17] Geering, Tomorrow’s God, 37

[18] Die Verunsicherung menschlicher Weltgewissheit, die die Einsichten Kants und des Konstruktivismus bewirken, lässt sich auch nicht, wie z.B. Konrad Lorenz gemeint hat, durch den Hinweis auf die Ergebnisse einer “evolutionären Erkenntnistheorie” beseitigen, nach der der Mechanismus der “Selektion” zu einer immer besseren “Anpassung” des menschlichen Erkenntnisapparates an die “Bedingungen” seiner “Umwelt” und damit zu einer tatsächlichen “Treffsicherheit” menschlichen Erkennens geführt habe. Die Annahme, dass selektiv erfolgreiche Umweltanpassung der menschlichen Sinnlichkeit zu einem “(exakten) Bild der Umwelt” im menschlichen Gehirn führen müsse, ist, wie etwa Ernst von Glasersfeld aus konstruktivistischer Perspektive bemerkt hat, schon “logisch gesehen falsch”. Evolutionär erfolgreich macht nach der Evolutionstheorie ein System der Welterkenntnis nicht seine Fähigkeit, eine erkenntnisunabhängige Wirklichkeit möglichst exakt abzubilden, sondern seine größere Fähigkeit, durch erfolgreiche Orientierung in der Welt das Überleben zu sichern, egal, wodurch dieser “Erfolg” tatsächlich begründet ist. In diesem Sinne formuliert Glasersfeld: “Anpassung heißt doch nur, dass man durchkommt, dass man einen gangbaren Weg gefunden hat und eben nicht scheitert”, so, wie etwa ein Pilot im Instrumentenflug sicher durch einen Sturm kommt, ohne dass ihm seine Bordinstrumente ein tatsächliches “Abbild” der Vorgänge außerhalb seines Flugzeugs liefern würden (ein Bild zur Veranschaulichung der konstruktivistischen These, dessen Verwendung auf den Neurobiologen Humberto Maturana zurückgeht). Evolutionäre Anpassung durch Selektion führt eben logisch nur zur “Viabilität” menschlicher Welterkenntnis, nicht zu einer niemals überprüfbaren, aber nach Glasersfeld extrem unwahrscheinlichen tatsächlichen “adaequatio intellectus ad rem” (vgl. Pörksen, Ungewissheit, 51).

[19] Vgl. zum heutigen Verständnis von Raum und Zeit, das in vielfacher Hinsicht Kants These, Raum und Zeit seien keine erkenntnisunabhängigen „objektiven“ Gegebenheiten der Wirklichkeit, bestätigt, aus physikalischer Sicht Greene, Kosmos: Schon die Relativitätstheorie führt zu der Erkenntnis, „dass Raum und Zeit“ keine absoluten Größen sind, sondern sich relativ zu unserer Beobachtung verhalten, und also „im Auge des Betrachters liegen“ (66) Diese Relativierung der „objektiven“ Struktur von Raum und Zeit wird quantenphysikalisch noch verstärkt: So haben quantenphysikalisch z.B. Elektronen gar keinen festen „Ort“ im Raum, sondern ihr „Wahrscheinlichkeitsfeld“ umfasst den gesamten Raum – sie sind nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit, und auch erst im Augenblick seiner Messung durch einen Beobachter, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort im Raum anzutreffen (sog. „Nichtlokalität“ der Quantenteile, 99-147; Zusammenfassung 148-150). Auch der für menschliches Erleben konstitutive „Zeitfluss“ (153-169) und der damit verbundene „Zeitpfeil“ (der physikalisch einen extrem unwahrscheinlichen [„niederentropen“] Anfangszustand des Universums voraussetzt; vgl. 169ff.) lassen sich in einer physikalischen Beobachtung der Zeit nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten nachvollziehen. Manche Physiker folgern daraus, „dass die Raumzeit“ insgesamt „eine Illusion sein könnte“; Greene selbst ist vorsichtiger, hält aber ebenfalls fest, „dass Raum und Zeit“, physikalisch gesehen, „obwohl allgegenwärtig, keine wirklich fundamentalen Begriffe“ zur Beschreibung der Wirklichkeit sind (528), sondern unser Eindruck einer raum-zeitlichen Wirklichkeit lediglich das Ergebnis einer „Quantenmittelung“ (530) in unserer „gewöhnlichen Erfahrung“ (531) ist. Noch weitgehender sind Erwin Schrödingers Schlussfolgerungen aus der physikalischen Nichtauswarbarkeit einer in eine bestimmte Richtung geordneten Zeit: „In meinen Augen ist die ‚statistische Theorie der Zeit‘“, indem sie „die einseitige Richtung des zeitlichen Ablaufs“ in Frage stellt, geradezu revolutionär „für die Philosophie der Zeit“: Sie „bedeutet eine Befreiung von der Tyrannei von Vater Chronos. Was wir selbst in unserem Geist konstruieren, kann nach meinem Empfinden unmöglich diktatorische Macht über unseren Geist haben, weder die Macht, ihn ins Leben zu rufen, noch die Macht, ihn zu vernichten.“ Das führt für ihn zu einer neuen Haltung auch zur Frage der menschlichen Sterblichkeit: Wir „dürfen … - zumindest glaube ich das – bei aller gebührenden Anerkennung, dass die physikalische Theorie zu allen Zeiten relativ ist …, behaupten, sie lege in ihrem derzeitigen Zustande entschieden nahe, dass der Geist nicht durch die Zeit vernichtet werden kann.“ (Dürr, Transzendenz, 140) Zu einer etwas anderen Wertung kommt Mainzer, Zeit, der gegenüber Kants These von der transzendentalen Idealität der Zeit eine Mittelposition bezieht: „Unsere Zeittheorien werden zwar im menschlichen Bewusstsein entworfen und sind in diesem Sinne von ihm abhängig. Darin hat Kants Transzendentalphilosophie Recht. Unsere Zeittheorien weisen aber ebenfalls über das menschliche Bewusstsein hinaus. Sie entwerfen nämlich eine kosmische, physikalische und biologische Evolution …, in denen die Emergenz des menschlichen Zeitbewusstseins, das über sie reflektiert, erst möglich wurde. Darin haben alle diejenigen Philosophen Recht, die Zeit schon vor und unabhängig vom menschlichen Dasein als fundamentale Struktur von Sein vermuteten.“ (126)

[20] Sehr gut lässt sich diese Einsicht Kants hirnphysiologisch z.B. am Phänomen des menschlichen Farbensehens belegen. So schreibt z.B. Ornstein in seiner “Evolution des Bewusstseins”: “Die Fixpunkte in unserem Gehirn ermöglichen uns auch die Wahrnehmung von Farbe. In der Natur gibt es keine Farbe. Was wir als Farbe sehen, sind verschiedene Wellenlängen des Lichts, die von verschiedenen Oberflächen reflektiert werden.” (246f.) Obwohl der vielfältige Farbeindruck für die menschliche Weltkonstruktion von überwältigender Wirkung und Bedeutung ist, ist er doch keine Dimension der “Dinge an sich selbst”. “Wir sehen keine Farben, sondern erfinden sie; die Evolution hat eine Palette von Farben ausgewählt, die uns die Informationen geben, die wir brauchen. Und die Verbindungen und Verknüpfungen in unserem geistigen System sorgen dafür, dass wir den Rest zusammenträumen können.” (Ornstein, Bewusstein, 250) Vgl. detaillierter zum Thema “Farbwahrnehmung” auch Roth, Aus Sicht des Gehirns, 70-73. Roth erweitert diese aufs “Farbensehen” bezogene Analyse menschlicher Sinneswahrnehmung auch auf den Bereich anderer Sinneswahrnehmungen: “In ähnlicher Weise können wir feststellen, dass es objektiv keine Töne und Geräusche gibt, sondern unterschiedliche Schwingungen von Luftmolekülen, die ... auf komplizierte Weise … Töne, Geräusche, Melodien und Worte in unserem Gehirn entstehen lassen.” (76)

[21] Kritik der reinen Vernunft, B XVIff.; Gerhard Roth weist zusätzlich darauf hin, dass „zumindest … bei einem erwachsenen Menschen“ die Wirklichkeitskonstruktion des Gehirns „in vielen Details“ gar „nicht mehr der aktuellen Wahrnehmung, sondern dem Gedächtnis“ entstammt. Nur durch diese „Abkürzung“ kann das Gehirn uns in einer bestimmten Umgebung so schnell orientieren, wie es das tut. Nur „bei Säuglingen und Kleinkindern“ nimmt „(d)er Konstruktionsvorgang“ der Welt zunächst noch den „mühsamen“ und langsamen Weg über die Zusammensetzung und Auswertung der Impulse der direkten Sinneswahrnehmung. Erwachsene benutzen diesen Weg allenfalls noch dann, „wenn sie sich in einer komplett unbekannten Umgebung befinden. In der Regel können wir jedoch innerhalb kürzester Zeit auf der Basis von Erfahrung sehen, was Sache ist.“ (nach Pörksen, Ungewissheit, 153)

[22] Geering, Tomorrow’s God, 35f.

[23] Diese Fehlinterpretation der Kant’schen Erkenntnistheorie ist z.B. auch für Whitehead und weite Teile der Prozessphilosophie leitend; vgl. die entsprechende Kantdeutung bei Faber, Poet of the World, 270f.; und zum Unterschied zwischen Whiteheads Epistemologie und einer kritisch an Kant orientierten wie bei Gordon D. Kaufman: James, Reality, 37f.

[24] Theißen, Zeichenwelt, 207

[25] Auch nach konstruktivistischer Auffassung sind demnach “Thesen und Theorien” über die menschlich konstruierte Welt nicht beliebig, sondern sind daraufhin zu prüfen, ob sie sich “als produktiv erweisen oder ob sich die große Unbekannte, die man etwas pauschal als die Wirklichkeit bezeichnet, unseren Deutungen widersetzt” (Pörksen, Ungewissheit, 18); es gelten also für alle menschlichen Konstruktionen die Kriterien der “Plausibilität” genauso wie der “Viabilität”, die immer eine zwar nie objektiv fassbare, aber dennoch wirkliche vom Beobachter tatsächlich beobachtete “Welt” als Grenzbegriff voraussetzen.

[26] Roth weist aus gehirnwissenschaftlicher Perspektive darauf hin, dass wir unseren unmittelbaren sinnlichen Zugang zur Welt heute immerhin “mithilfe sinnesphysiologischer Methoden in begrenztem Umfang” erweitern und partiell überprüfen können, so dass wir zum Beispiel die Bedeutung der “Unterschiede im Wellenlängenspektrum des sichtbaren Lichtes” für unsere Konstruktion einer farbigen Welt beschreiben können. Das bedeutet aber nicht, dass uns jetzt auf dem Umweg über die “Forschungsresultate der Sinnesphysiologie” doch so etwas wie eine “objektive” Überprüfung unserer Sinneseindrücke möglich ware, “denn die Messungen, die wir als Sinnesphysiologen machen, finden wiederum in unserer Wahrnehmungswelt und damit unter deren Bedingungen statt.“ Was uns aber möglich ist, ist die unmittelbare Wahrnehmungswelt unserer Sinne durch “eine zweite Wahrnehmungswelt” zu ergänzen, “die genauer und standardisierter ist als die erste”. Durch einen Vergleich dieser beiden Welten können wir unsere Sinnesleistungen besser einschätzen und ihre “Täuschbarkeit” zumindest etwas begrenzen. (Aus Sicht des Gehirns, 76)

[27] Theißen, Zeichenwelt, 207

[28] Kant, Kritik der Reinen Vernunft, B VII

[29] Taylor, After God, 125

[30] Vgl. hierzu insgesamt Olsen, Geschichte des Menschen

[31] Frith, Wie unser Gehirn die Welt erschafft, 243; vgl. im Zusammenhang insgesamt 215-243

[32] Eine solche „Mittelstellung“ zwischen epistemologischem „Realismus“ und „Idealismus“ nimmt nach meiner Wahrnehmung insgesamt auch noch der heutige systemtheoretische „Konstruktivismus“ ein, jedenfalls in der Form, wie er z.B. von Francisco J. Varela oder Gerhard Roth vertreten wird. Nach Varela ist Erkenntnis auch im Sinne des Konstruktivismus zu interpretieren als „eine Ko-Konstruktion von Subjekt und Objekt“: „Meine Auffassung ist, dass sich Subjekt und Objekt gegenseitig bestimmen und bedingen, dass der Erkennende und das Erkannte in wechselseitiger Abhängigkeit entstehen, dass wir weder eine äußere Welt im Inneren abbilden noch willkürlich und blind eine solche Welt konstruieren und nach draußen projizieren.“ Wie Kant mit seinem Mittelbegriff von „empirischem Realismus und transzendentalem Idealismus“ zielt auch Varelas Form von Konstruktivismus (im Unterschied zu manchen einseitigen Spitzenformulierungen des sog. „Radikalen Konstruktivismus“) „auf einen mittleren Weg, der einerseits die Extreme des Subjektivismus und Idealismus und andererseits die Einseitigkeiten des Realismus und Objektivismus vermeidet“. (nach Pörksen, Ungewissheit, 51; vgl. die entsprechenden Passagen bei Gerhard Roth: Pörksen, Ungewissheit, 143-149, und Roth, Aus Sicht des Gehirns, 88f.)

[33] Zur Frage von epistemologischem Realismus und Anti-Realismus bei Kant vgl. insgesamt Westphal, Anti-Realism. Westphal setzt sich mit der häufig anzutreffenden Kant-Interpretation auseinander, nach der seine konstruktivistische Grundthese, „that objects must conform to our knowledge“, Kant zum paradigmatischen Anti-Realisten mache. Dagegen zeigt Westphal differenziert auf, dass Kant tatsächlich „would have no trouble in affirming“, dass die menschliche Erkenntnis tatsächlich auf eine erkenntnisunabhängige „Welt an sich“ bezogen und ihre Weltsicht in diesem Sinne ontologisch „realistisch“ ist: Kant setzt entgegen immer wieder anzutreffender gegenteiliger Behauptungen seiner Kritiker in allen seinen Schriften voraus, „that the world or God exists independently of our thinking or talking about them. … That is what the thing in itself is all about“ (131). Kant vertrete keine ontologisch antirealistische These, sondern vielmehr eine „hermeneutics of finitude“, nach der nur Gott die Dinge so sehen kann, wie sie wirklich sind, wir Menschen mit unserem endlichen Erkenntnisvermögen aber nicht: „So the distinction between the phenomenal and the noumenal, along with the equivalent distinction between appearances and the things in themselves is for Kant the distinction between the perfect way God knows anything and the imperfect way we humans know the same reality“ (132). Für Menschen gilt, dass ihre Erkentnis weder völlig realistisch noch völlig unrealistisch ist: „The ‚object’ of our experience and judgment is neither mere fact nor mere fiction but the product of the real and the receiving apparatus through which it is filtered in becoming present to us“ (144).

[34] Taylor, After God, 110

[35] Vgl. hierzu auch die Diskussion über den konstruktivistischen Charakter jeder Weltsicht und die Vorstellung einer davon unabhängigen Realität „an sich“ zwischen Hans-Peter Dürr und Raimon Panikkar: Dass ich „mir vorstellen“ kann, „dass das Universum ohne mich existiert“, dass also die Welt schon Milliarden Jahren vor meinem jetzigen Denken der Welt da war, und nach meinem Tod immer noch da sein wird, bedeutet auch nach der kosmotheandrischen Philosophie Raimon Panikkars eben nicht, dass die Welt für mich abgesehen von meinem Denken dieser Welt „objektiv gegeben“ wäre. Auch „dieses Denken, dass das Universum vor Milliarden Jahren da war, ist unser Denken jetzt“, betont Panikkar. Insofern sind nach Panikkar die „Realitäten“ von Gott, Welt und Mensch immer nur miteinander, in unaufhebarer kosmotheandrischer Relation gegeben, ihre gedankliche Konstruktion als getrennt gedachte „Entitäten“ an sich immer eine Abstraktion von der grundlegend relationalen, ad-vaitischen Wirklichkeit. (Dürr/Pannikar, Urquelle, 100-104)

[36] Taylor , After God, 112; vgl. auch Geering, Tomorrow’s God, 41.47: „Although external reality (the inferred ‚real world‘) is not dependent on language, what we know“ von ihr „certainly is.“ Dass „our world“ darum als die Konstruktion unseres Geistes („largely through the medium of language“) verstanden werden muss, führt zwar zu keinem ontologischen Anti-Realismus, aber doch zu einer weitgehenden Relativierung des epistemologischen Realismus der menschlich erkannten Welt: „Whatever is to be understood as the genuinely ‚real world‘ is more elusive than we usually think.“ Wir müssen darum nach Kant unterscheiden zwischen „unserer“ (mental konstruierten) Welt und „the inferred or real world which … we assume our world to be.“ „Unsere“ Welt ist immer schon die von uns interpretierte und konstruierte Erscheinungswelt, von der her wir die reale Welt nur als ein ontologisches Postulat, das sich aus dieser subjektiven Erscheinungselt ergibt, erschließen können: „Our world, the world to which we respond in the way we live, is not simply reality itself (whatever that might be) but reality understood and interpreted through the grid of language and of our myth-based culture.“

[37] Taylor , After God, 111

[38] Vgl. Kaufman, Creativity, 120 u.ö.

[39] Nordgren, God, 208

[40] Stone, Religious Naturalism, 203: Zitat aus Kaufman, Mystery

[41] Nordgren, God, 208

[42] Kritik der reinen Vernunft, B 294f.

[43] Insofern beginnen Religion und Theologie genauso wie die Philsophie aus einer Kant’schen Perspektive immer mit dem „Staunen“, oder wie Kant selbst es formuliert hat, mit „immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht“ für die Geheimnisse der Welt und des menschliche Lebens in ihr – so interpretiere ich jedenfalls seine berühmte (für Kant vergleichbar zu dem Bild von der „Insel“ und dem „Ozean“ ebenfalls außergewöhnlich poetische) Aussage im „Beschluss“ seiner „Kritik der Praktischen Vernunft: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." (KpV 288, zitiert nach Ludwig, Imperativ, 15f.) Die Bedeutung des „Staunens“ für das menschliche Leben und seine philosophische und theologische Deutung hat verschiedentlich auch Eberhard Jüngel (im Anschluss an Karl Barth) herausgestellt, wenn er z.B. im Vorwort zu seiner Predigtsammlung „Zum Staunen geboren“ schreibt: „Nach Aristoteles beginnt die Philosophie mit dem Staunen, weil der gewohnte Gang der Dinge durcheinander geraten ist. Dass da etwas nicht an seinem Ort ist, macht den Menschen nachdenklich. Er beginnt zu staunen. Denn er weiß jetzt, dass er etwas nicht weiß. Aber eben dieses sein Nichtwissen will er überwinden. Deshalb fängt er an zu philosophieren: mit dem Ziel, nicht mehr staunen zu müssen, nihil admirari ... Ganz anders verhält es sich mit dem Staunen, das dem Glauben eigentümlich ist. Auch es entzündet sich an einem Ungewohnten. Doch es kann keine Rede davon sein, dass dem Glaubenden ‚das Ungewohnte je gewöhnlich, das Neue je altbekannt vorkommen, dass er das Befremdliche je domestizieren könne‘ (K. Barth). So wenig man ‚Orplid, das Land, das ferne leuchtet‘, jemals eingemeinden wird, so wenig wird das dem Glauben eigentümliche Staunen jemals obsolet. Ganz im Gegenteil: je mehr man das Erstaunliche erkennt, desto staunenswerter wird es.“ (Jüngel, Staunen, 9) In dieser Betonung der Dimensionen des Staunens („Zum Staunen geboren“) und des Geheimnisses („Gott als Geheimnis der Welt“) für jede theologische Orientierung sehe ich eine weitere Verbindung meines heutigen theologischen Suchens und Fragens zu meiner früheren Faszination durch das Barth’sche (und Jüngel’sche) theologische Denkgebäude, auch wenn ich sonst in vielerlei Hinsicht inzwischen wohl unumkehrbar „über den Barth hinaus“ bin. Kritisch zu Jüngels Formulierung würde ich hier allenfalls anmerken, dass auch die Philosophie (jedenfalls im Kant’schen, aber wohl auch schon im aristotelisch-platonischen Sinne) nicht wirklich das Ziel hat, „nicht mehr staunen zu müssen“. Auch für Kant werden ja „Bewunderung und Ehrfurcht“ tatsächlich nicht kleiner, sondern größer (er spricht ausdrücklich von „immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht“) durch die philosophische Beschäftigung mit dem, über das er staunt – in Kants Worten: „je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt“. Und für Plato und Aristoteles ist dieses Motiv des sich nicht verkleinernden, sondern tatsächlich immer größer werdenden Staunens trotz mancher scheinbar gegenläufiger Formulierungen m.E. grundsätzlich dennoch mit dem Bezug auf das sokratische (durch das philosophische Fragen nicht „obsolet“, sondern erst richtig deutlich werdende) „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ gewahrt.

[44] Kritik der reinen Vernunft, B 311

[45] Unter den drei großen transzententalen Vernunftideen nach Kant – „Gott“ (theologische Ideenklasse), „Freiheit“ (kosmologische Ideenklasse) und „Unsterblichkeit“ (psychologische Ideenklasse) habe ich mich bisher gemäß des theologischen Ansatzpunktes meines Nachdenkens hauptsächlich mit der Frage nach „Gott“ beschäftigt (was zum Ausdruck kommt in den bisherigen drei großen Teilen meiner „Paradigmen theologischen Denkens“). Die Frage nach der „Unsterblichkeit“ und einer heute plausiblen Deutung des christlichen Grundsymbols der „Auferstehung“ klang dabei an verschiedenen Stellen an, und meine bisherigen Gedanken hierzu habe ich dann separat zusammenfassend festgehalten in meinem Artikel „Christliche Hoffnung angesichts des Todes“, Teile I und II (in: Tà katoptrizómena. Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik. Heft 73, Jahrgang 13/2011, https://www.theomag.de/73/index.htm). Auch mit der dritten Kant’schen Vernunftidee und der Frage der „Freiheit“ habe ich mich zuletzt ausführlicher beschäftigt. Für Kant war diese dritte Vernunftidee die wichtigste, weil sie für ihn zur rationalen Begründung von ethisch verantwortlichem Menschsein entscheidend war, auf die sein kritisches Denken insgesamt zielte. Kant versuchte, die Idee der Freiheit angesichts der für ihn noch vollständig bestimmenden zeitgenössischen deterministischen Auffassung von Kausalität dadurch zu sichern, dass er sie als in der phänomenologischen Welt der Erscheinungen zwar nirgends zu finden, aber dennoch als in der noumenalen Welt der „Dinge an sich“ notwendig vorauszusetzen dachte. Diese dualistische Lösung des Freiheitsproblems bei Kant kann aber m.E. heute nicht mehr überzeugen, und wird von mir darum auch nicht als einer der heute noch unhintergehbaren Beiträge Kants zur Deutung von „Gott, Welt und Mensch“ aufgenommen. Der Grund ist, dass es sich m.E. bei der „regulativen Idee“ der Freiheit (Wir müssen handeln, als ob wir frei wären, auch wenn sich die Idee der Freiheit vielleicht nur annäherungsweise empirisch plausibilisieren lässt) um eine andere Art von Idee handelt, als bei der Idee von „Gott“. Auch wenn es es sich beides Mal um die Erfahrung ordnende „Metaideen“ handelt, sind sie doch im Blick auf ihre Fundamentalität für die Wirklichkeitskonstruktion unterschieden. Es ist für mich vom Begriff der Freiheit her nicht notwendig oder auch nur stimmig, sie als grundsätzlich erfahrungstranszendent zu denken. Wohl aber ist eine prinzipielle Erfahrungstranszendenz im Gottesbegriff m.E. selbst vorgegeben. Der Gottesgedanke ist der Gedanke eines Horizontes des „Ganzen“, der alle Einzelerfahrung ordnend übersteigt, der nochmals fundamentaleren Grundbedingung aller sonstigen transzendentalen Bedingungen der Wirklichkeit. Eine solch fundamentale Bedingung aller Bedingungen der Wirklichkeit ist die Freiheit aber schon ihrem Begriff nach m.E. nicht, und muss darum, was die Möglichkeit ihrer Plausibilisierung in der Erfahrung angeht, anders behandelt werden, als die Gottesfrage. Weiterführend im Nachdenken über die Freiheitsfrage waren für mich über Kant hinaus v.a. die drei Werke von Peter Bieri über das „Handwerk der Freiheit“ in der Fassung von 2006, von Daniel C. Dennett über eine evolutionäre Sicht auf das Freiheitsproblem („freedom evolves“) in der Fassung von 2004 und Geert Keils philosophische Einführung und Diskussion des Problems der „Willensfreiheit“ von 2007. Alle drei arbeiten sich in ihrer Weise an der Frage eines „kompatibilistischen“ oder „inkompatibilistischen“ Freiheitsbegriff ab, d.h., an der Frage, ob und wie die Idee der „Freiheit“ mit einer deterministischen Sicht der Wirklichkeit „kompatibel“ sein könnte. Bieri arbeitet begrifflich heraus, dass der Begriff einer „unbedingten Freiheit“ in sich widersprüchlich und schon rein begriffslogisch unmöglich ist: Wäre meine Freiheit nicht durch mich selbst, d.h. durch die Gesamtheit der Bedingungen meiner Person, ihrer Geschichte und ihrer Umwelt bedingt, wäre sie nicht meine Freiheit, und damit überhaupt keine „Freiheit“ im für die Freiheitsfrage wesentlichen Sinn. Insofern plädiert er für eine mit ihrer vielfältigen Bedingtheit „kompatibilistische“ Sicht von Freiheit. Keil wendet ein, dass „Bedingtheit“ nicht mit „Determination“ gleichgesetzt werden darf: Menschliche Willens- und Handlungsfreiheit ereignet sich immer innerhalb eines Geflechts sie bedingender und begrenzender Ursachen. Aber das heißt nicht, dass sie dadurch vollständig determiniert wäre. Der Gedanke einer vollständig deterministisch strukturierten Wirklichkeit wäre in der Tat für Keil mit dem Gedanken der „Freiheit“ inkompatibel. Aber, so fährt er fort, Kausalität und Determination müssen nach heutiger Weltsicht unterschieden werden. Der Gedanke der „Freiheit“ ist inkompatibel mit Determinismus, aber sehr wohl kompatibel mit der Annahme eines vielfältigen Bedingungsgeflechtes, innerhalb dessen sie sich ereignet. Tatsächlich scheint mir das Weltbild der modernen Physik Keils „Libertarismus“ insofern zu stützen, dass sie dem für Kant noch bestimmenden Grundbild einer determinierten Welt den Abschied gegeben hat. Mit einer Welt der nicht determinierten Potentialität und offener „Möglichkeitsfelder“ am Grunde der Wirklichkeit (Dürr) scheint mir die Idee der „Freiheit“ in der Tat mehr Resonanzen entwickeln zu können als mit dem deterministischen Weltbild der klassischen Newtonsschen und Laplaceschen Physik – vgl. auch Max Borns im Zusammenhang dieser Fragen wichtige Hinweise auf den Unterschied von „Determinismus“ und „Kausalität“ (Dürr, Transzendenz, 74ff.). Dennoch bleibt die Aufgabe der Begründung der Möglichkeit echter Freiheit und „agency“ eine Herausforderung. Noch weiterführend erscheint mir hier Dennetts Buch zu sein, weil er die Entwicklung von „Freiheit“ in eine evolutionäre Weltsicht einzeichnet und dadurch im Rahmen heutiger Wirklichkeitsdeutung erheblich plausibler macht. „Freiheit“, so Dennett, ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das fragile und kostbare Ergebnis eines langen evolutionären Entwicklungsprozesses, der von anfänglich möglicherweise vollständig determinierten Systemen zu immer weniger determinierten, entscheidungs- und handlungsfähigen führte. Gab es am Anfang vielleicht wirklich nur „happenings“, so entwickelte die Natur nach und nach Wesen, die immer weitgehender zu Subjekten ihres eigenen Handelns wurden und immer komplexere Fähigkeiten zur „agency“ entwickelten. Für die Frage der Freiheit ist es darum unwichtig, so Dennett, ob man die Natur wie in der klassischen Physik deterministisch oder wie in der Quantenphysik probabilistisch denkt. Eine kausal vollständig determinierte Entscheidung wäre nicht „freier“ oder „unfreier“ als eine durch Quantenzufälle probabilistisch bestimmte. Tatsächlich liegt der grundlegende Denkfehler des Inkompatibilismus und mancher Spielarten des „Kompatibilismus“, so Dennett, darin, dass sie „determination“ mit „inevitability“ verwechseln. Aber das ist ein logischer Fehlschluss. Auch, wenn die Natur nach vollständig deterministischen Gesetzen strukturiert wäre, so hätten eben diese Gesetze mit Notwendigkeit zur Entwicklung von Lebensformen geführt, die verschiedene Möglichkeiten der Zukunft im Kopf vorausberechnen und entsprechend der Ergebnisse dieser Berechnung ihr Verhalten so steuern können, dass vorher unvermeidliche Übel auf einmal vermeidbar werden. Menschliche Kultur besteht zu großen Teilen eben darin, das, was von Natur aus „inevitable“ schien, „evitable“ zu machen – durch Technik, Medizin, strategisches Denken und vieles andere. Keiner muss heute mehr z.B. durch einen grauen Star erblinden: wir können diese scheinbar natürlich determinierte Zukunft durch eine einfache Operation verhindern. Nicht jedes von der Natur „vorherbestimmte“ Übel können wir vermeiden, aber viele, und durch den menschlichen Erfindungsreichtum werden es immer mehr. Die Evolution hat uns ein immer größeres Maß an Freiheit im Sinne von „Vermeidungsspielräumen“ und „Handlungsfreiräumen“ geschenkt. Wenn die Natur uns „determiniert“ hat, dann dazu, „avoiders“ zu sein, die immer größere Möglichkeiten haben, durch Verhaltensvarianten das scheinbar Unvermeidliche eben doch zu vermeiden. Wir können die Dinge ändern, weil wir uns selbst ändern können: „Our natures aren’t fixed because we have evolved to be entities designed to change their natures in response to interactions with the rest of the world“. (93) Zusammenfassend kann man zur Freiheitsfrage aus meiner Sicht vielleicht vorsichtig Folgendes sagen: Kompatibel mit dem Bedingungsgeflecht unserer Wirklichkeit (das nach heutiger Weltsicht zwar nicht als deterministisch festgelegt, aber dennoch als kausal geschlossen zu interpretieren ist) ist wohl kein „starker“, absoluter Freiheitsbegriff (völlige Herausnahme der Bestimmung menschlichen Handelns aus dem sonstigen Kausalitätsnetz unserer Wirklichkeit, der Wille als „unbewegter Beweger“, vgl. dazu Keil, Willensfreiheit, 96-100, 152, 177), aber doch ein „schwacher“, relationaler (echte menschliche Handlungsbestimmung „unter gegebenen Bedingungen“ [Keil], Fähigkeit, den eigenen Willen auf Grundlage eigener Abwägungen zu bilden und ihm entsprechend entsprechend zu handeln, ohne äußeren und inneren Zwang), wie er auch einer „schwachen Metaphysik“ (Vattimo) und einer „weak theology“ (Caputo) entspricht. Aus der kompatibilistisch-inkompatibilistischen Sackgasse führt hier physikalisch wohl auch „die Idee der Komplementarität“ (z.B.: Licht als „Welle“ und Licht als „Teilchen“), wie etwa Max Born im Anschluss an Einsichten von Niels Bohr ausführt: „Die Tatsache, dass es in einer exakten Wissenschaft wie der Physik Fälle gibt, die einander ausschließen und ergänzen und nicht durch die gleichen Begriffe beschrieben werden können, sondern zweierlei Ausdrucksweisen erfordern, muss einen Einfluss – und ich denke, einen willkommenen Einfluss – auf andere Gebiete des menschlichen Handelns und Denkens haben. … In der Philosophie besteht eine ähnliche Alternative in dem zentralen Problem der Willensfreiheit. Jede Entscheidung kann auf der einen Seite als ein spontaner Vorgang im Bewusstsein betrachtet werden, auf der anderen Seite aber als das Ergebnis von Motiven, die in der Vergangenheit oder Gegenwart durch die Berührung mit der Außenwelt erzeugt worden sind. Wenn man dies als ein Beispiel für Komplementarität betrachtet, scheint der ewige Konflikt zwischen Freiheit und Notwendigkeit sich als ein erkenntnistheoretischer Irrtum herauszustellen.“ (Dürr, Transzendenz, 88f.)

[46] Keller, Face of the Deep, 194

[47] Keller, Face of the Deep, 207

[48] Kritik der reinen Vernunft, B 294f.

[49] Dagegen scheint mir Platons „Höhlengleichnis“ (Politeia VII) entgegen einer in der Literatur gelegentlich anzutreffenden Interpretation kein früher bildlicher Vorläufer von Kants im Bild von der „Insel im Meer“ ausgedrückter epistemologischer Begrenzung des Wissens zu sein. Zwar sind die „Schattenbilder“, welche die Gefangenen nach Plato in der Höhle sehen, ebenfalls „Erscheinungen“, die die Gefangenen mit den „Dingen an sich selbst“ verwechseln. Platon geht aber davon aus, dass dieser Schein nur eine Täuschung ist, von der der Mensch durch fortschreitende philosophische Bildung befreit werden soll und kann. Durch den vierstufigen Aufstieg zur Erkenntnis kann der Mensch die „wahre Welt“ der Ideen schließlich sehen, und von den bloßen sinnlichen Abbildern dieser Ideen unterscheiden lernen. Dagegen gilt für Kant die Begrenzung menschlichen Erkennens auf „Erscheinungen“ fundamental und unaufhebbar. Die „Erscheinungen“ sind für die Menschen die „wahre Welt“. Die Welt der „Dinge an sich selbst“ ist nicht eine übergeordnete „eigentliche“ Ideenwelt, sondern ein bloßer transzendentaler Grenzbegriff, mit dessen Hilfe die Vernunft durch Selbstkritik ihre unaufhebbare Verhaftung in der Sinnen- und Verstandeswelt der Erscheinungen wahrnehmen und eingestehen kann.

[50] Vgl. die gleichnamige anonyme mittelalterliche, neben den Gedanken des pseudonymen christlichen Dionysius Areopagita, des jüdischen Moses Maimonides und des scholastischen Nikolaus von Kues für den Ansatz „negativer Theologie“ grundlegende Schrift

[51] Peters, Empirical Theology, 96

[52] Das heißt nicht, dass Theologie nach Kant den Begriff der „Offenbarung“ völlig aufgeben müsste, aber dass sie, wie schon im ersten Teil meiner „Paradigmen“ in der Darstellung des pluralistischen religionstheologischen Ansatzes von Perry Schmidt-Leukel reflektiert, Offenbarung nicht mehr „instruktionstheoretisch“, sondern allenfalls „kommunikationstheoretisch“ deuten kann, d.h., nicht mehr im Sinne einer „übernatürlichen“ Mitteilung vernunfttranszendenter Informationen, sondern im Sinne von Erschließungsmomenten der Wirklichkeit selbst, in denen uns etwas bisher (so) noch nicht Gesehenes aufleuchtet oder einleuchtet. Vgl. auch die entsprechenden klassischen Ausführungen dazu bei Paul Tillich, Dynamics of Faith, nach denen „Offenbarung“ heute nicht mehr „as a divine information about divine matters“ verstanden werden darf, sondern als „first of all the experience in which ultimate concern grasps the human mind“. In einem solchen kritischen Verständnis religiöser „Offenbarung“ kann für Tillich auch der seit der Moderne bestehende Konflikt zwischen Glaube und Vernunft überwunden werden und „replaced by reconciliation“: „Wherever such a revelatory experience occurs, both faith and reason are renewed.“ (90) Glaube hebt in diesem Sinne verstanden die Vernunft nicht auf, sondern bestätigt und vertieft sie; „If reason is grasped by an ultimate concern, it is driven beyond itself; but it does not cease to be reason, finite reason. The ecstatic experience of an ultimate concern does not destroy the structure of reason. Ecstasy is fulfilled, not denied rationality. Reason can be fulfiled only if it is driven beyond the limits of its finitude, and experiences the presence of the ultimte“; in diesem Sinne kann eine kritische Theologie sagen: „Reason is the presupposition of faith, and faith is the fulfillment of reason.“ (88)

[53] Theology of the Sublime, XI

[54] Theology of the Sublime, 1

[55] Theology of the Sublime, 5

[56] Theology of the Sublime, 17

[57] Theology of the Sublime, 19

[58] Theology of the Sublime, 22

[59] Theology of the Sublime, 30

[60] Theology of the Sublime, 35

[61] Theology of the Sublime, 112

[62] Theology of the Sublime, 112

[63] Vgl. hier auch Chris L. Firestones Ausführungen zu „Kant’s Poetic Grounds for Theology“, die er ebenfalls wesentlich in der Interpretation von Kants „Kritik der Urteilskraft“ begründet sieht: „The grounds for theology on this interpretation of Kant are comprised of feelings of beauty and sublimity poetically understood in the unceasing dialogue of human beings concerned with the whole of reality.“ (Firestone, Kant and Theology, 111).

[64] Kearney , Strangers, 229

[65] Kearney , Strangers, 129

[66] Kearney , Strangers, 129

[67] Kearney , Strangers, 130

[68] Hederman in Mannousakis, After God, 275; vgl. auch Flood, Religion, 174: „Kant spoke of (the) aesthetic as apprehension of the beautiful and the sublime, where the sublime exceeds the beautiful and refers to the capacity oft he mind to apprehend the limitless, particularly the greatness of nature accompanied by a sense of reason’s ability to transcend nature.“; vgl. allgemein zur Bedeutung der Kategorie des „Erhabenen“ für die religiöse Erfahrung: 4-6, 15ff., 22, 24,164, 173f.

[69] In diesem Sinne sind auch alle in der christlichen Theologie immer noch vertretenen theologischen Ansätze für mich nicht mehr nachvollziehbar, die versuchen, durch den Trick eines sog. „hermeneutischen Zirkels“ den herkömmlichen theistischen Gottesglauben christologisch variiert und im Rahmen einer „hermeneutischen Theologie“ oder „hermeneutischen Philosophie“ modernisiert doch wieder als tragfähige Denkvoraussetzung einzuführen – theologische Zirkelbewegungen, die in irgendeiner Weise so etwas besagen wie: Ich glaube an das „Sichereignen der Gegenwart Gottes“ (Dalferth, Radikale Theologie, 191) - oder an Gottes „Selbstunterscheidung“ und „Selbstidentifikation“ (Jüngel, Geheimnis, 521 und Zusammenhang) oder an „God’s revelation as pure gift“ (Jean-Luc Marion, so formuliert in der Zusammenfassung seiner Gedanken durch David Tracy im Vorwort zu „God without being“, XII) - weil das „Sichereignen der Gegenwart Gottes“ (oder Gottes „Selbstunterscheidung“ und „Selbstidentifikation“, oder „God’s revelation as pure gift“) mich an das „Sichereignen der Gegenwart Gottes“ (oder Gottes „Selbstunterscheidung“ und „Selbstidentifikation“, „God’s revelation as pure gift“) glauben lässt – als ob sich mit so einer jede rationale Nachfrage über eine bestimmte Grenze hinaus ausschließenden Selbstimmunisierung ein ansonsten im Rahmen einer evolutionären Kosmologie und Weltsicht nicht mehr plausibel zu machendes Konstrukt einer „von außen“ in die Welt einwirkenden, sie hervorbringenden, zu ihr sprechenden oder sie erlösenden göttlichen Entität „durch die Hintertür“ doch wieder plausibilisieren oder gar als axiomatisch geltende Fundation theologischen Denkens begründen ließe. Für mich sind heute solche offenbarungszirkulären Denkfiguren, auch wenn sie von ansonsten brillanten theologischen Denkern vertreten werden, nur noch Reiterationen im Kantischen Sinne („Begriffe ohne Anschauungen sind leer“) letztlich sinn- und inhaltsleerer theologischer Tautologien, die für mich eben nicht mehr als „trag- und sagfähig“ zu erweisen sind.

[70] Taylor, After God, 112

[71] Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVIff.

[72] Otfried Höffe, Immanuel Kant, München 1983, 138f.; zu Gordon Kaufmans Aufnahme und Weiterführung von Kants Gedanken der „regulativen Ideen“ vgl. James, Reality, 45-50. Nach Kaufman ist jede „Reifizierung“ des Göttlichen, die „the mystery of God into finite human categories“ auflöst, zugleich ein fundamentaler „category error“, weil sie ein regulatives Konzept, „whose meaning is its function of anchoring a worldview“, mit einer Beschreibung eines „concrete object“ menschlicher Wirklichkeitserkenntnis verwechselt (James, Reality, 50).

[73] What is God, 20

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/76/sts6b.htm
© Stefan Schütze, 2012