Juni 2012

Liebe Leserinnen und Leser,

diese Ausgabe des Magazins für Kunst | Kultur | Theologie |Ästhetik ist ein Protest, ein Ausdruck des Entsetzens darüber, dass die Evangelische Kirche sich der Herausforderung durch die Bildende Kunst der Gegenwart schnöde und grundlos entzogen hat.

Seit 30 Jahren war die documenta in Kassel als wichtigste Ausstellung Bildender Kunst auf der ganzen Welt immer auch eine Frage an den Protestantismus, wie er es denn mit den Erkenntnissen der zeitgenössischen Kunst hält, welche Einsichten er aus dem gewinnt, was im Spielraum der Freiheit (Dietrich Bonhoeffer) geschieht. Wenn, wie Schleiermacher meinte, Kunst die Sprache der Religion ist, wenn, wie Karl Barth schrieb, Kunst „die dem Menschen ursprünglich gegebene Verheißung dessen (ist), was er werden soll“, dann kann das Schweigen des Protestantismus in dieser Frage nur als Form eines theologischen Offenbarungseides begriffen werden.

Das NICHTS des Handelns, das der leitende Bischof der Kirche von Kurhessen-Waldeck, in einem Brief an Horst Schwebel, einen der Herausgeber dieser Zeitschrift, als besondere Provokation und implizite Stellungnahme bezeichnet hat, ist kaum etwas anderes als das klare Eingeständnis des eigenen Versagens, Theologie und Kirche kulturell auf der Höhe der Zeit angemessen denken zu können. Hier versagt nicht nur ein kirchlicher Ausstellungsbetrieb – das freilich auch –, sondern hier scheitert mehr.

Deutlich wird, dass die Funktionsträger der Evangelischen Kirche in den Jahren nach 1945 nichts aus dem historischen Desaster des Protestantismus im Umgang mit der Zeitgenossenschaft der Kunst gelernt haben, sondern dass sie insgeheim die Aktivitäten der Evangelischen Kirche im Bereich der Kunst und der Kultur nur als „Speck für ästhetische Mäuse“ (D. Fr. Niebergall) begreifen.

Wenn Paul Tillich Recht hat mit seiner These, dass der Protestantismus „ein Pathos für das Profane" habe, weil er es liebt, vor die Tore des Heiligtums zu gehen, und dort das Göttliche zu finden, dann kann der bewusste Verzicht auf die Zuwendung zur profanen Kunst nur als protestantische Selbstaufgabe begriffen werden. Wenn nach Tillich gilt, dass der künstlerische Stil jeder Epoche ein Dokument der religiösen Existenz dieser Epoche ist, dann steht es eben nicht im Belieben eines Kirchenfürsten, eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst zu initiieren oder sie abzusagen. Es geht nicht nur um das Ausstellen von Kunst, sondern im Kern um Theologie, jenseits aller theologischen Schulbildungen. Wer das nicht begreift, hat die protestantische Theologie seit der Aufklärung und dem Deutschen Idealismus nicht begriffen.

Im Vorfeld dieser dOCUMENTA (13) haben die Herausgeber dieses Magazin nichts unversucht gelassen, die Verantwortlichen daran zu erinnern, was ihre Aufgabe als Leiter der Kirche ist. Horst Schwebel hat frühzeitig dem Bischof der Landeskirche von Kurhessen-Waldeck geschrieben und auf die Konsequenzen seiner Unterlassung hingewiesen; Andreas Mertin hat sich bereits vor einem Jahr mit dem Ratsvorsitzenden der EKD getroffen, um ihm die Bedeutung des Ereignisses im weltweiten Rahmen vor Augen zu führen; gemeinsam haben wir mögliche Kuratoren und Künstler benannt, mit denen eine Auseinandersetzung zwischen protestantischer Kirche/Theologie und Gegenwartskunst denkbar gewesen wäre. Gebracht hat es: NICHTS.

Parturient montes, nascetur ridiculus mus: Drei Jahre lang haben die aktuell in der Evangelischen Kirche in Deutschland für die Bildenden Künste Verantwortlichen und Engagierten getagt, um am Ende: NICHTS zu präsentieren.

Man muss sich das einmal vorstellen: da sitzen das Kulturbüro der EKD, der Verein ARTHEON und das Marburger EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart mit den Vertretern der EKKW vor Ort zusammen und es gelingt ihnen in dreijähriger Arbeit nicht, der Kunst während der dOCUMENTA (13) in der Kirche einen Freiraum einzuräumen. Während inzwischen die Exponate der letzten documenta-Begleitausstellungen im Museum präsentiert und diskutiert werden, fällt den aktuell Verantwortlichen NICHTS ein bzw. wenn ihnen etwas eingefallen sein sollte, dann können sie es nicht realisieren, weil sie viel zu wenig hinter dem Konzept bzw. der Sache von Kunst und Kirche stehen. Vermutlich aber haben sie schlichtweg keine theologische Vorstellung davon, was sie eigentlich wollen.

Diese Provokation des NICHTS ist aber eine andere, als die, die Entscheidungsträger zu ihrer eigenen Rechtfertigung vorbringen. Diese Ideenlosigkeit provoziert Abkehr, nicht Abkehr von der Religion und von der Gottesfrage, nicht Abkehr von der Kunst, sondern Abkehr von einer Institution, die sich der Herausforderung der Zeitgenossenschaft erst gar nicht mehr stellt.

Zugegeben: Der Salon de Kassel war diesmal eine besondere Herausforderung für die Arbeit auf dem Konfliktfeld von Kunst und Kirche. Die Leitung der dOCUMENTA(13) hat es den Kirchen nicht leicht gemacht und alles getan, um deren Arbeit zu erschweren und zu behindern. Das ist aber kein Grund dafür, es nun seitens der evangelischen Kirche der dOCUMENTA(13) leicht zu machen und feige den Kopf in den Sand zu stecken. Der anmaßende Gestus der documenta, über die sicher notwendigen Grenzziehungen hinweg Kunst zu unterbinden, damit es keine alternativen Wahrnehmungen gibt, ist einer offenen und an Wahrheit und Erkenntnis orientierten Gesellschaft nicht würdig. Dagegen muss sich gerade auch die protestantische Stimme erheben.

Eine protestantische Sicht auf die Kunst ist aber auch heute noch möglich und sie wird auch entwickelt. Nur anscheinend eben nicht im Zentrum der Kirche, nicht im Kulturbüro der EKD oder den EKD-Instituten, sondern eher an der Peripherie, also bei jenen Exzentrikern der liberalen und dialektischen Theologie, für die schon das seinerzeitige Impulspapier der EKD nur Verachtung übrig hatte. Während im Kern der Kirche die Instrumentalisierung der Künste dominant geworden ist (Kunst als Beitrag zur Mission), wird an der theologischen Peripherie der Kunst durchaus ihr Eigenrecht zugestanden. Dort will man pointiert wahrnehmen (und für wahr nehmen), was die Kunst zu sagen und zu zeigen hat.

Was man von der Kunst gerade auch im Blick auf die Frage des Entzugs und der Verweigerung hätte lernen können, zeigt ein Blick in die jüngere Kunstgeschichte: 4′33″ - Oder: die wahre Provokation des NICHTS. Das 20. Jahrhundert hat in einer Radikalität sondergleichen die Frage nach dem NICHTS gestellt. Dabei zeigt sich, dass gerade die Präsentation des NICHTS einer ganz besonderen Inszenierung bedarf, dass die Kunst nicht einfach nur im Weglassen oder Ausfallen lassen liegt, sondern paradoxerweise in der Darstellung. Auch die Inszenierung des NICHTS ist ja erkenntnisorientiert, die Frei- und Leerräume wollen sorgfältig komponiert und konstelliert werden. Auch die Geschichte des reformierten Kirchenraumes zeigt ja, dass es mit dem Ausräumen nicht getan ist, sondern auch der Freiraum der Gestaltung bedarf. In der Kunst war das immer klar. Künstler wie Kasimir Malewitsch, Marcel Duchamp, Robert Rauschenberg und John Cage sind dem immer wieder nachgegangen. Ohne Inszenierung ist das NICHTS erkenntnislos.

Das trifft nun im besonderen Maße für die Aktivitäten der Evangelischen Kirche zur documenta 13 zu. Als Motto könnte jener enigmatische Spruch von Theodor Däubler dienen, der lautet: "Einsichtslos will jeder laut das Nichts verheißen". Genau darum geht es: Das NICHTS ist in diesem Falle „einsichtslos“, weil es weder ein Vakuum erzeugt noch ein Bedürfnis. Dieses NICHTS dokumentiert nur die erschreckend anästhetische Selbstgenügsamkeit einer Institution im Getriebe der Welt. Weiter gilt, was der Praktische Theologe E.C. Achelis vor mehr als 100 Jahren so formulierte: bloß keine Erkenntnis, die vom dem abweichen könnte, was einem vertraut ist, denn "die Gemeinde ... sucht normalerweise an den Bildern nicht Kunstgenuss und Erweiterung ihres Kunstverständnisses, sie sucht lediglich eine religiöse Wirkung der ihr längst bekannten Werke". Seit mehr als hundert Jahren hat sich daran wenig geändert. Wie armselig!

Die Herausgeber des Magazins für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik haben sich daher entschlossen, den Titel der Zeitschrift tà katoptrizómena noch einmal ganz wörtlich zu nehmen und in dieser Ausgabe zu spiegeln, was im Zentrum der evangelischen Kirche und im Angesicht der weltweit wichtigsten Ausstellung zeitgenössischer Kunst an theologischer und intellektueller Auseinandersetzung geschieht: NICHTS!

In dieser Ausgabe wird daher Ihnen als Leserinnen und Lesern des Magazins die Erkenntnis schwer gemacht, denn Sie sehen: NICHTS oder sagen wir genauer: nahezu NICHTS. Wie bei einem Palimpsest hat sich über das zu Sagende und das zu Erkennende ein anderer Text gelegt, der dem entspricht, was Sie bei der documenta-Begleitausstellung an Erkenntnissen gewinnen können: ein weißes Rauschen mit dem Erwartungswert Null. Wer die Subtexte lesen will, muss sich schon etwas einfallen lassen (man ist freilich nicht auf bloße Imagination verwiesen).

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Die kommende Ausgabe 78 beschäftigt sich direkt mit der dOCUMENTA(13), die die zentrale Kunstausstellung des Jahres 2012 ist. Heft 79 setzt sich mit dem Thema Kirchenräume heute auseinander und greift noch einmal verschiedene theologische, kulturelle, architektonische und kulturwissenschaftliche Debattenbeiträge auf.

Leserinnen und Leser, die Beiträge zum Heft 78 einreichen wollen, werden gebeten, diese bis zum 15. Juli 2012 bei der Redaktion abzugeben. Die Abgabetermine für die folgenden Hefte liegen jeweils spätestens 2 Wochen vor dem jeweiligen Erscheinungstermin.

Wir wünschen – trotz allem - eine angenehme und erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin, Jörg Herrmann und Horst Schwebel