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Magazin für Theologie und Ästhetik


Disfiguring

Postmoderne Perspektiven auf Kunst und Religion

Andreas Mertin

Mark C. Taylor: Disfiguring. Art, Architectur, Religion, Chicago/London 1992.


Fragen

Wie stellt sich postmodern das Verhältnis von Kunst und Religion dar? Wie läßt sich ein Raum öffnen für das Andere und die Differenz, jene Bereiche, die modernes Denken ausschließen wollte. Ist der postmoderne Einsatz der Kunst ein Versuch, vom Anderen zu sprechen, ohne es/ihn zum Gleichen zu machen? Was ist, wenn die von der Vormoderne vorausgesetzte und von der Moderne angestrebte Einheit nicht existiert? Was, wenn die von der Kunstreligion des 19. Jahrhunderts erhoffte Verbindung von Kunst und Religion nichts als ein Traum - vielleicht sogar ein Alptraum - wäre? Ist postmodern mit Hilfe der Ästhetik eine Theologie denkbar, die den Fallstricken von Theismus und Atheismus entgeht? Läßt sich - nicht nur ästhetische - Negativität radikal denken? Läßt sich in der Entwicklung der Theologie des 20. Jahrhunderts eine Parallele zur Entwicklung der Kunst in diesem Jahrhundert entdecken? Wo sind in der aktuellen Kunst Tendenzen zu erblicken, die über die Fragestellungen der Moderne hinausreichen? Läßt sich all dies benennen? How avoid speaking?

Das alles sind Fragen, die den postmodernen amerikanischen Theologen Mark C. Taylor in seinem Buch Disfiguring. Art, Architectur, Religion bewegen. In einem Gang durch weite Bereiche der Philosophie- und Kunstgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts beschreibt er die Problemlösungsversuche der verschiedenen Diskurse in Moderne und Postmoderne.

Zusammenfassung

In Taylors Perspektive charakterisieren zwei Bewegungen von Theologie und Kunst das 20. Jahrhundert, zwei eigentlich einander ausschließende Tendenzen, die dennoch durch eine Gemeinsamkeit verbunden sind: beide versuchen, das Reich Gottes (the kingdom) zu verorten. Die eine, die Taylor theologisch durch den Barthianismus und ästhetisch durch die abstrakte Kunst und die Bauhaus-Architektur vertreten sieht, betrachtet das Reich Gottes als nicht von dieser Welt (present elsewhere). Die andere, die theologisch durch Gott-ist-tot-Theologen wie Thomas Altizer und ästhetisch durch die Pop Art und die postmoderne Architektur vertreten wird, findet das Reich Gottes hier und jetzt (present here and now).

Ziel

Gegen diese Hauptströme der modernen Theologie und Kunst sieht Taylor in der Postmoderne eine neuartige Bewegung entstehen, die mit Sören Kierkegaard als theologischem Ahnherrn und Michael Heizer, Michelangelo Pistoletto und Anselm Kiefer als künstlerischen Protagonisten, eine A/Theoästhetik des Entzugs, der Wüste, der Einsamkeit und Verlassenheit (desert/desertion) etablieren. Die Konzeption ist nicht unähnlich dem, was Jean-François Lyotard als Ästhetik des Erhabenen beschrieben hat: in der Darstellung auf ein Nicht-Darstellbares anzuspielen - ein Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt - Anspielungen auf ein Denkbares erfinden,das nicht dargestellt werden kann. Es geht um eine "nonnegative negative theology, that nonethelesse is not positive" [316].

Programm

Taylor geht zunächst von dem paradoxen Tatbestand aus, daß im 20. Jahrhundert Theologen, Religionsphilosophen und Kunstkritik eine religiöse Bedeutung der bildenden Künste energisch bestreiten, während führende moderne Künstler ebenso energisch darauf bestehen, daß ihr Werk von religiösen Fragen und spirituellen Einflüssen nicht getrennt werden könne. Daher möchte Taylor einen Dialog herstellen zwischen Religion und bildender Kunst, indem er die Kunst und Architektur des 20. Jahrhundert aus einer theologischen genauer a/theologische Perspektive interpretiert. Entfalten möchte er seine Argumentation in beide Richtungen: zum einen die spirituellen Voraussetzungen der Künstler aufzuweisen und zum anderen die religiöse Bedeutsamkeit ihres Werks aufzuzeigen. Dabei liegt sein Einsatzpunkt nicht bei der Beziehung zwischen Religion und Ästhetik, sondern zwischen Religionund Kunst. Taylor zeigt sich überzeugt, daß bestimmte Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunst unentdeckte Ressourcen für die theologische Reflexion beinhalten. Eine sorgfältige Erforschung von Gegenwartskunst eröffne einen Raum für die a/theologische Imagination. Als Leitwort für diese Rekonstruktion von Kunst und Theologie im 20. Jahrhundert dient Taylor das Wort "Disfiguring" in der Fülle seiner unterschiedlichen semantischen Schichten:

Disfiguring: "Disfiguring enacts denegation in the realm of figure, image, form, and representation. As such, disfiguring is a formation that is a deformation and a deformation that is a formation. In the process of disfiguring, revelation and concealment as well as presence and absence are interwoven in such a way that every representation is both a re-presentation and a depresentation." [7] "In different terms, disfiguring figures theunfigurable in and through the faults, fissures, cracks, and tears of figures." [8]

Taylor sieht drei "Epochen", drei Strategien des disfiguring, von denen eine der Moderne zugerechnet werden könne, während die beiden anderen alternative postmoderne Versionen seien: "In the first place, to disfigure is to de-sign by removing figures, symbols, designs, and ornaments. Second, to disfigure is to mar, deform, or deface and thus to destroy the beauty of a person or object. Finally, disfiguring is an unfiguring that (impossibly) "figures" the unfigurable." [8] In letzterer Spielart wird ein Raum für das a/theologische Denken geschaffen: "one must think what modernism leaves unthought by trying to figure a disfiguring that struggles to figure the unfigurable. It is this endless task that certain contemporary artists and architects call the a/theologian. To heed this call is to approach the possibility of refiguring the sacred by rethinking the interplay of art, ethics, and religion." [9f.]

Theoesthetics

Den Ursprung der Theoästhetik - im Deutschen legt sich dafür der Name Kunstreligion nahe - sieht Taylor in jener Intellektuellengruppe bzw. ästhetischen Avantgarde, die sich 1790 in Jena versammelt hatte und an der Vertreter des Sturm und Drang, der Klassik sowie der Romantik beteiligt waren. Es sei Schleiermachers Verdienst, die Kantianische Verlagerung der Religion in das Gebiet der praktischen Vernunft rückgängig gemacht und ihr einen Platz im Bereich des Empfindungsvermögens und der Gefühle zugewiesenzu haben. Auf diese Weise schaffe Schleiermacher eine später oft übersehene enge Verbindung von Kunst und Religion: "The divine and the human meet in the creative activity of the imagination" [22]. Dieser Verbindung spürt Taylor nun, ausgehend von Kants "Kritik der reinen Vernunft" und der "Kritik der Urteilskraft", über Schillers "Briefe zur ästhetischen Erziehung" und Schellings "Philosophie der Kunst", bis zu Hegels "Ästhetik" nach: "When taken together, the aesthetic theories formulated by Kant, Schiller, Schelling, and Hegel interpret religion - religare - as a binding that is a rebinding - re-ligare. This rebinding is supposed to bind together what has fallen apart. As such, religion promises to heal the wounds, mend the tears, cover the faults, and close the fissures that rend self, society, and word" [46]. Die Theoästhetik ist tief in die Diskurse des 20.Jahrhunderts eingedrungen. Freilich hat sich das Setzen auf diese Verbindung von Kunst und Religion historisch nicht erfüllt, die Hoffnung der Theoästhetik ist in Hiroshima und Auschwitz untergegangen. Wie aber haben die Künstler das Ziel der Wiedervereinigung des Auseinandergebrochenen im 20.Jahrhundert zu erreichen gesucht, wie haben sie Theoästhetik umgesetzt? Die erste Bewegung dieser Art erläutert Taylor unter den Leitwörter iconoclasm und purity.

Iconoclasm

Den Prozeß des disfiguring haben viele Künstler, angefangen von Piet Mondrian, Kasimir Malevich, Ad Reinhardt, Pablo Picasso, George Braque, Wassily Kandinsky bis hin zu Barnett Newman und Mark Rothko, durch Elimination des Figurativen, durch Abstraktion zu verwirklichen gesucht. Manche Künstler waren dabei tief beeinflußt von der theosophischen Bewegung um die Jahrhundertwende, in der Taylor eine strukturelle Entsprechung und Fortsetzung der Theoästhetik sieht. Andere sahen in der nicht-euklidischen Geometrie einen Schlüssel zum tieferen Verständnis der Wirklichkeit. Die religiösen Implikationen dieser neuen Kunst sind zuerst von Kandinsky explizit gemacht worden. Ziel der ästhetischen Erziehung sei es, die Einheit des Menschlichen und Göttlichen zu entdecken. Kandinskys religiöse Inspiration zeigt sich dabei weitgehend durch die russische Orthodoxie, den philosophischen Idealismus und die Theosophie beeinflußt. Eine andere, verwandte Form der Theoästhetik entwickelt Piet Mondrian, nur daß hier die russische Orthodoxie durch den Calvinismus ersetzt wird. Für ihn ist der Beginn des 20. Jahrhunderts die Geburtsstunde der wahren spirituellen Kunst: Abstract-real painting gives us an image of the regained harmony. Ähnliche Züge finden sich im Werk von Malevich.

Ad Reinhardt, lutherischer Abkunft, wie Taylor vermeldet, teilte die Faszination der Theosophie. Präziser aber läßt sich seine Arbeit als künstlerischer Ausdruck negativer Theologie beschreiben: "Reinhardt insisted that his artistic purpose was to retrieve the spiritual in a secular culture... Reinhardt's mystical ascent leads to a nothingness that he too identifies with god ... abstraction removes every vestigate of form and figuration in order to reach the formlessness of the unfigurable or unrepresentable" [85]. Ad Reinhardt ist über die Abstraktion nicht hinausgegangen, aber er hat einen Raum eröffnet, den andere, wie z.B. Barnett Newman oder Mark Rothko mit Anspielungen oder auch konkreten Verweisen auf das Kreuzesgeschehen oder die Mystik gefüllt haben.

Purity

Karl Barths Römerbriefkommentar und der Purismus der Architektur Corbusiers und des Bauhauses ist Taylors nächster Haltepunkt auf der Reise in die Gegenwart. Karl Barths Theologie wird zugespitzt auf ihre ikonoklastischen Züge gegenüber der Idolatrie des Kulturprotestantismus. Der Kulturprotestantismus verabsolutiere das Endliche. Dagegen stellt Barth sein Nein!, er betont die Differenz zwischen dem Menschen und Gott, Gott ist der ganz Andere. "The end of this movement is the isolation of the individual and the silence of God ... This is the silence that spread over Europe during and after the war; this is the silence that Rothko heard and painted in his last years; and this is the silence that resounds in Mies van der Rohe's most successful buldings" [100f.] Freilich ist bei Barth das Schweigen nicht das letzte Wort, denn Gott spricht durch seinen Sohn und wird wirksam durch den Heiligen Geist. Darin sieht Taylor allerdings eine Aufgabe des ursprünglichen Purismus der Barthschen Theologie: "God, who first appeared absent, now seems present - here and now. When presence becomes total presence, the transcendent God dies. Those who came after Barth toll the death of the God he praised". Ästhetisch sieht Taylor Parallelen bei mehreren Architekten aus den Anfängen des Jahrhunderts, etwa in der Architektur Le Corbusiers. Dessen ästhetisches Programm sei ein komplexes Produkt religiöser Visionen, einer Synthese radikalen Christentums, theosophischer Spiritualität und idealistischer Metaphysik. Le Corbusier stelle seine puristische Ästhetik in den Dienst der Utopie.

Auch die Entwürfe von Theo van Doesburg, Gerrit Rietveld, Walter Gropius, Peter Behrens, Adolf Loos und Mies van der Rohe werden einem Purismus zugeschlagen, dessen Wurzeln Taylor vor allem protestantisch bedingt sieht. Bei Mies van der Rohe sei die Absolutheit des Objektes total. Das Maximum an Strukturiertheit sei verbunden mit einem Maximum an Bilderlosigkeit: "That language of absence is projected on an ulterior 'void' that mirrors the first void and causes it to resonate" (Manfredo Tafuri).

Currency

Das dialektische Gegenstück zum Purismus und Ikonoklasmus ist die beredte Pop Art und der architektonische Postmodernismus in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Schon Baudelaire hatte als eine Hälfte der Moderne ihren Zeitgeist, das Modische, Aktuelle, ihre Präsenz im Hier und Jetzt bestimmt. Mit Andy Warhol wird die Kunst ganz präsent. "The currency of the realm is no longer abstraction but (re)figuration in which the presence of the Real appears to be here and now" [144]. Nach einem Exkurs über die sozioreligiöse Bedeutung des Geldes kommt Taylor zu dem Schluß: "Insofar as gold functions in the economic system in a manner analogous to the way God functions in the religious system, the end of the go[l]d standard is the economic equivalent of the death of God" [154]. Dessen Tod hatte insbesondere der Theologe Thomas Altizer verkündet. Altizers Theologie ist eine radikale Infragestellung der Barthschen Theologie der Differenz. "Altizer's No to Barth's No is at the same time a Yes to a radical immanence in which every vestige of transcendence disappears" [155]. Für Altizer besteht eine Parallele in der Entwicklung von Kunst und Religion im 20. Jahrhundert. Wie die Gott-ist-tot-Theologie die Trennung von Gott und Welt durch die Wiederentdeckung der Heiligkeit von Natur und Kultur aufhebt, so führt das Ende der Kunst als eine die Alltagslebenswelt durchbrechende Form zur Ästhetisierung der Lebenswelten. Mit der zweiten ästhetischen Revolution dieses Jahrhunderts, dem Verschwinden des Rahmens, werden Welt und Kunst eins: "In the absence of any beyond, representation becomes presentation" [157]. Mit Robert Rauschenberg, Jasper Johns und Andy Warhol wird - so Taylor - die Parallele zur Gott-ist-tot-Theologie augenfällig: Pop Art "is the artistic translation of the death of God" [158].

Logo Centrism

Eine andere Form der Beredtheit entwickelt die postmoderne Architektur. Das Leitwort "Logo-Zentrismus" (wobei Logo für Firmenzeichen, Signet steht), das Taylor zu deren Beschreibung verwendet, definiert er so: "Logo centrism designates the centrality of the logo - the figure, image, and sign. Within a logo centric economy, signs do not refer to a more basic, fundamental, or essential reality but are signs of signs, figures of figures, images of images. Since everything appears to be image, nothing appears but appearance. Logo centrism is the reverse side of the logocentrism that constitutes the foundation of the dominant theological, philosophical, and aesthetic tradition in the West. In contrast to logo centrism in which figure, sign, and image are privileged, logocentrism affirms the centrality of the logos - speech, word, or reason" [188]. Robert Venturi dient Taylor dabei als Beispiel für die modernistische Variante der Postmoderne in der Architektur, welche weiter am Ganzen, an der Einheit orientiert bleibt. Für Philip Johnson sei Postmoderne jedoch wie Moderne ein "style", bei ihm handele es sich keineswegs um eine substantielle Wende als vielmehr um einen Modetrend. Der Eklektizismus von James Stirling - sein bekanntestes Werk ist die Stuttgarter Staatsgalerie - gehe dagegen weit über Venturi und Johnson hinaus. "Stirling combines traces of Greek, Roman, and Egyptian architecture with references to Schinkel's Altes Museum, and brightly colored high-tech ornamentation to create a dramatic building that is extremely controversial ... If this work is a collage, it is not synthetic; if it is an assemblage, it holds apart as much as it brings together; if it is a combine, the fragments it combines remain fragmentary in their free associations. Stirling's work effectively reflects the irreducible discontinuity of contemporary experience" [206f.]. Die Architekten Michael Graves und Charles Moore (insbesondere dessen Disney-Hotel) bieten ähnliche Beispiele für diese Entwicklung. Taylor summiert: "Rejecting every strategy of abstract or nonrepresentational art, postmodern architecture disfigures modern disfiguring be reveling in signs, images, representations, and figures that do not point beyond themselves but stage an endless play. If there is nothing beyond the image, reality is logo centric" [222]. Die Ironie der Postmoderne sei adäquater Ausdruck des Gott-ist-tot-Zeitalters, in der das Motto laute: "Anything goes".

Refuse

Die dritte Art des disfiguring beschreibt Taylor unter den Stichworten refuse und desertion. Hier geht es um den Vorgang der denegation, "through which the repressed or refused returns. Neither simply an affirmation nor a negation, de-negation is an un-negation that affirms rather than negates negation. The affirmation of negation by way of un-negation subverts every effort to negate negation. When interpreted in terms of denegation, disfiguring figures the impossibility of figuring in such a way that the unfigurable 'appears' as a disappearing in and through the faults, fissures, cracks, and tears of figures" [230]. Es geht um einen Postmodernismus, der einen Raum für das Andere und die Differenz schafft und der die Rückkehr zum Gleichen und Einen unmöglich macht. Als Architekten dieser Raumeröffnung sind die Dekonstruktivisten Bernard Tschumi (beeinflußt durch George Bataille) und Peter Eisenmann (beeinflußt von Jaques Derrida) zu nennen. Tschumi baute mit dem Parc de la Villette das erste dekonstruktive Gebilde, ein architektonischer Raum, der von Diskontinuitäten, Rissen, Brüchen, Zitaten und Unterbrechungen geprägt ist. Es ist der Versuch einer architecture-as-experience-of-limits. Architektur soll einen Raum definieren, in dem sich Realität und Phantasie, Vernunft und Verrücktheit, Leben und Tod treffen; Architektur wird zum erotischen Objekt. Mit Roland Barthes läßt sich diese Architektur als obtuse beschreiben: "Obtuse meaning is not directed towards meaning ... does not even indicate an elsewhere of meaning ... It outplays meaning - subverts the whole practice of meaning ... Obtuse meaning appears necessarily as a luxury, an expenditure with no exchange" [251]. Peter Eisenmann entwickelt dagegen eine textuelle Architektur, was nicht von ungefähr an Jaques Derridas Archi/Textur und Labyrinth erinnert. Derrida und Eisenman haben sogar zusammen einen, freilich nicht realisierten, Architekturentwurf geschaffen: Choral Work. Eine verwandte Architektur hat Eisenman in seinem bekanntesten Werk geschaffen, dem Wexner Center for the Visual Arts in Ohio. Eisenman beschreibt seine Architektur als Versuch, einen Platz zu schaffen, der "a palimpset and a quarry" ist. Letztlich, so meinen Derrida, Eisenman und Taylor, wird hier eine Architektur des Exils (ohne Hoffnung auf Rückkehr) geschaffen: "Architecture unsettles rather than settles, dislocates rather than locates" [266].

Desertion

Michael Heizer, Michelangelo Pistoletto und vor allem Anselm Kiefer sind Taylors Kronzeugen für die dritte Art des disfiguring in den Bildenden Künsten. Drei unterschiedliche Bereiche bzw. Medien stehen jeweils im Blickpunkt dieser Künstler: bei Michael Heizer geht es um die Negativität, bei Michelangelo Pistoletto geht es um den Spiegel und bei Anselm Kiefer um den Mythos.

Michael Heizer schafft Kunstwerke, bei denen es explizit um die Negation geht, er ist, wie Taylor schreibt, geradezu besessen vom Negativen. Er sucht Wege, das Negative zu bestätigen, ohne es zu negieren, er versucht, durch seine Arbeiten einen negativen Raum zu schaffen. Bevorzugter Platz seines Schaffens ist die Wüste. Double Negative ist eine 240 000 Tonnen Verrückung (displacement) in der Wüste, 457x15x9 m groß (LxTxB), zwei Schnitte in den Sandstein, ein negatives Zeichen in der Leere. "In Double Negative there is the implication of an object or form that is not actually there ... The title Double Negative is a literal discription of the two cuts, but it has metaphysical implications because a double negative is impossible. There is nothing, yet there is still a sculpture" [Michael Heizer]. "Neither simply present nor absent", so fügt Taylor hinzu, "Double Negative is the presence of an absence that is the absence of presence. And vice versa" [276]. Heizers Werk führt uns nach Taylor immer tiefer in die Verlassenheit (desert), und in der Mitte der Verlassenheit, läßt uns Heizer allein (deserts).

Michelangelo Pistoletto versucht mit seinen Spiegel-Werken den Raum zwischen Positiv und Negativ, zwischen Abstraktion und Figuration, den Raum der Differenz zu umschreiben unbd damit Desorientierungen einzuschreiben. Der Blick auf den Betrachter der in/hinter dem Spiegel erscheint, kehrt sich um: "Staring at myself from behind the mirror, I discover the blindness that has always been inherent in my insight. To know myself, I must reflect on myself by returning to myself from my exile in others ... Drawn into the draw of the mirror, I gradually realize that I never have been, am, or will be one. Rather, I am no one" [288]. Beim Blick in den Spiegel verliert (deserts) das Subjekt sich selbst. Pistolettos Kunst beschreibt so präzise die Grenzen der Reflexion.

Anselm Kiefer thematisiere das Verdrängte in der modernen bildenden Kunst, sei es in formaler, sei es in inhaltlicher Hinsicht. Zu diesem Verdrängten gehört insbesondere die Geschichte: "Behind the events of the past century, he glimpses a more ancient past that is portrayed in myths, stories and rituals of Greece, Rome, Scandinavia, Babylon, The Hebrew Bible, the New Testament, Jewish and Christian mysticism" [291]. Schon auf den ersten Blick sind Kiefers Arbeiten ein Ausdruck des disfiguring; Risse, Löcher, Verletzungen, heterogene Materialien, Asche, Stroh, Metall, Brandwunden. Ein Ausdruck von Verwüstung und Verlassenheit (devastation and desertion) charakterisiert sein Werk. "The fracture of unity that sends everything and everyone into exile creates the space for Kiefer's artistic venture" [293].

"Kiefer's strategy of disfiguring is neither modern nor postmodern. He neither erases nor absolutizes figure but uses figure with and against itself to figure the unfigurable ... The absolute Other opens 'in' figure the trace of something that is 'outside' figure" [299f.]. Kiefer erzählt in seinen Bildern nach eigenem Bekunden Geschichten, um zu zeigen was hinter den Geschichten steckt. So erscheint eine Vergangenheit, die niemals als solche präsent war, ein "unrepresentable before that disfigures all figures" [302].

Die Erfahrung von Kunst, die die Werke von Michael Heizer, Michelangelo Pistoletto und Anselm Kiefer vermitteln, ist die eines elemtaren Risses, einer offenen Wunde, eines nicht auslotbaren Raumes: "Art - as images, as words, and as rhythm - indicates the menacing proximity of a vague and empty outside, a neuter existence, null, without limits, sordid absence, a suffocating condensation where being ceaselessly perpetuates itself as nothingness ... (Art has led us) to a time before the world, before the beginning. It has cast us out of our power to begin and to end; it has turned us toward the outside without intimacy, without place, without rest. It has led us into the infinite migration of error ... It ruins the originby returning it to the errant immensity of an eternity gone astray" [Maurice Blanchot]. Das Ende der Kunst, so schließt Taylor dieses Kapitel, ist desert ... desertion. Es bleibt die Frage, wie dies theologisch eingeholt werden kann.

A/Theoesthetics

Zum Ahnherrn postmoderner Theologie wird Sören Kierkegaard: "Kierkegaard reinterprets religion as a nonsynthetic third that is neither aesthetic nor ethical. This disjunctive third opens the space and creates the time for the return of the otherness and difference that modernity refuses. By struggling to figure this unfigurable Other, Kierkegaard is, in one - but only one - sense, postmodern avant la lettre" [310f.]. Die Beschreibung des Ästhetischen und des Ethischen faßt Taylor als prospektive Kritik der ersten beiden Stufen des disfiguring. "The goal of modernist disfiguring is union with the Logos that is identified with the Real ... The goal of modernist postmodernism disfiguring is the union with the logo that is identified with the Real. Whether regarded as immediate or mediated, modernist and their postmodern followers believe this reunion with the Real is realizable" [313]. Aber was, wenn die Wiedervereinigung unmöglich ist, was, wenn das Ganze unrealisierbar ist? Was, wenn der Traum der Theoästhetik nichts als ein (Alp-) Traum ist? "What if religion is not a rebinding (re-ligare) that gathers together what has fallen apart but a rebinding that creates a double bind that can never be undone?" [314]. Kierkegaards Dialektik des Weder/Noch eröffnet einen Raum für die Differenz, das Andere, sie bezeichnet eine Grenze, an der die Möglichkeit einer A/theoesthetic und einer A/Theology entsteht. "A/theology explores the space between the alternatives that define the Western ontotheological tradition. Thus, a/theology is neither theistic nor atheistic; it can be encompassed by neither positive or negative theology. If it must be described in classical terms, it might be defined as something like a nonnegative negative theology, that nonethelesse is not positive. A/theology pursues or, more precisely, is pursued by an altarity that neither exists nor does not existsbut is beyond Being and nobeing" [316]. A/theologie gibt die Hoffnung auf Erlösung auf, es gibt keine Auferstehung, weder hier und jetzt, noch in der Zukunft. Religion ist dann die Einsicht, daß wir unentrinnbar an und durch religiöse, psychologische, politische, soziale, kulturelle und historische Strukturen gebunden sind. Religion ist ein Versuch, die repressiven Folgen dieser Bindung zu minimieren, ihr Widerstand zu leisten. Das, was uns in diesen Widerstand ruft, 'bezeichnet' A/Theologie als das Andere, das unbenennbare, undenkbare Andere: altarity.

Kritik

Mark Taylor unterscheidet sich in zwei Punkten wohltuend von seinen westeuropäischen Theologenkollegen: zum einen, daß er nicht vornehmlich auf Werke mit offensichtlich religiösem Inhalt rekurriert - also keine christliche Restikonologie betreibt -, was ihm ermöglicht, auch Werke der Pop Art und der Land Art in seine Überlegungen mit einzubeziehen; zum anderen, daß er das Gebiet der säkularen Architektur - ohne jegliche Fokussierung auf den Kirchenbau - in seine Überlegungen einbezieht. Der Preis, den er dafür zahlt, ist freilich hoch, führt Taylor doch unterderhand Elemente der Künstlerästhetik und Genieästhetik in den ästhetischen Diskurs wieder ein; etwa wenn er ausgiebig auf religiös-biografische Hintergründe und explizite Selbstauslegungen der Künstler eingeht. Konsequenter wäre es gewesen, das dekonstruktive Verfahren nicht nur phänomenologisch anhand der Arbeiten einiger Architekten und Künstler einzuführen, sondern Dekonstruktivismus produktiv in der Kritik der beiden anderen Arten des "disfiguring" anzuwenden. Taylor versucht keineswegs bei den verschiedenen Künstlern,Architekten, Philosophen und Theologen zwischen den Zeilen zu lesen, dasVerdrängte, Vergessene oder Zukurzgekommene zu thematisieren, vielmehr herrscht in der Charakterisierung der zentralen theologischen Figuren des 20. Jahrhunderts eine Typisierung vor, die mit gutem Grund als Schubladendenken beschrieben werden kann. Zudem erweisen sich manche dieser Zuweisungen auch auf den zweiten Blick nicht als schlüssig. Karl Barth als historische Strukturanalogie zur Architektur des Bauhauses aufzufassen, kann nur einem Blick über den Atlantik als logisch erscheinen (oder Karl Barth hat einen schlechten Übersetzer ins Amerikanische gehabt). Sprache und Stil weisen Barth unzweideutig als Expressionisten aus, die Lektüre der Kirchlichen Dogmatik erinnert in ihrer Textur an alles andere als an die Architektonik des Bauhauses. Auch die Zuweisung der Gott-ist-tot-Theologie an Barths "followers" ist - wenn sie nicht rein chronologisch gemeint ist - vollständig falsch. Unerträglich sind auch andere Vereinfachungen und perspektivische Verzerrungen wie die Verkürzung des Calvinismus' auf einen gnostischen Dualismus [102].

Seine innovativen Momente entwickelt das Buch vor allem in den letzten drei Kapiteln, also in der Phänomenbeschreibung des dekonstruktiven disfiguring und seiner theologischen Adaption [Refuse - Desertion - A/Theoesthetic]. Es empfiehlt sich, die Lektüre zunächst hier zu beginnen, zumal vieles von dem anfangs Ausgeführten sich erst mit dem letzten Kapitel erschließt. Die von Taylor skizzierte Linie der Theoästhetik von Kant bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist brüchiger, differenzierter und fragmentarischer als er es darstellt. Ob etwa Kant in eine Geschichte der Theoästhetik integriert werden kann, ist mehr als fraglich. Zu gewaltsam werden hier Systematisierungen in die Geistesgeschichte eingetragen, die die These, die sie stützen sollen, nicht halten können. Die Idee der (produktiven) Zeitgenossenschaft von Bildender Kunst, Architektur und Religion bleibt somit spekulativ, zumal Taylor konsequent alle Momente ausblendet, die diesem Konstrukt widersprechen könnten. So wird zwar erhoben, welcher Konfession die beteiligten Künstler und Architekten angehörten, nicht gefragt wird jedoch danach, welche Kunstwerke die jeweiligen Theologen in den Blick genommen haben. So wird zwar auf die Theoästhetik des Kulturprotestantismus verwiesen, seine empirische Feindschaft gegenüber der zeitgenössischen Kultur wird nicht erarbeitet. So wird der Polytheismus der Werte, den Max Weber diagnostizierte, schleichend wieder zu einem Monismus des menschlichen Strebens. Letztlich gelingt es Taylor nämlich nicht, aus dem Hegelschen Denkmodell von These (Moderne), Antithese (modernistische Postmoderne) und aufhebender Synthese (Postmoderne; Dekonstruktivismus; A/Theology) auszusteigen. Deutliches Indiz dafür ist die Statuszuschreibung für die Kunst: Auch bei Taylor ist mit der neuesten Kunst wieder das Ende der Kunst erreicht, eine seit Hegel immer wieder verbreitete These, die durch die Vielzahl ihrer Wiederholungen nicht plausibler geworden ist. Zu vermuten ist da schon eher, daß auch die Wüste nur ein vorübergehender Aufenthaltsort der Kunst ist, einmal unterstellt, das treffende Paradigma für den Rückzug in die Wüste sei Jesus und nicht Johannes.

© Andreas Mertin, Hagen 1999


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