"Am Anfang war das Auge"

Probleme theologischen Umgangs mit der Kunst

Andreas Mertin


Wols, L'Oeil de Dieu, 1949, 46x65cm

Vor zehn Jahren habe ich im Magazin anlässlich der damaligen documenta zehn Grund-Sätze für eine protestantische Sicht auf die Kunst vorgestellt, die Perspektiven aufzeigen sollten, wie sich Theologie und Kirche mit der Bildenden Kunst auf der Höhe der Zeit auseinandersetzen könnten. Das braucht an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden. Stattdessen geht es im Folgenden um einige Holzwege, die sich in der täglichen theologischen Arbeit immer wieder beobachten lassen.

Unabhängig davon wie man vor dem Hintergrund der bisherigen Geschichte die Zukunft des Dialogs von Kunst und Kirche beurteilt, zeigt der konkrete Umgang mit Kunst in der Gegenwart einige Probleme, die sich nicht zuletzt aus Gewohnheiten ergeben, die den Theolog:innen ganz normal erscheinen, welche aber durch die Entwicklung der Moderne überholt sind.

So ist die Reduktion von eigentlich autonomen Werken der zeitgenössischen Kunst auf „Botschaften“ nicht nur unter Theolog:innen weit verbreitet. Insbesondere soziale und sozialtherapeutische Aufgaben werden der Bildenden Kunst untergejubelt.

Einige in Kirche und Diakonie haben sich darauf spezialisiert, Kunst als Antibiotikum gegen nahezu alles, was gesellschaftlich schiefgelaufen sein könnte, einzusetzen – ohne freilich jemals Behandlungserfolge erzielen zu können. Dafür gewinnen sie aber mediale Aufmerksamkeit und darauf kommt es ihnen an. Kunst wird so zum angeblichen Therapeutikum gegen Demenz, gegen Armut, gegen Ausgrenzung, gegen Handicap oder auch gegen Corona. Das ist eine weitgehend mittelalterliche, jedenfalls ganz und gar nicht moderne Vorstellung von Kunst.

Früher war diese quasi magische Denkweise gegenüber Bildobjekten im religiösen Raum weit verbreitet. Die Bewohner Konstantinopels stellten im siebten und achten Jahrhundert Ikonen auf die Stadtmauern, um Feinde abzuwehren, die Antoniter in Isenheim ließen nach 1500 einen Altar malen, um Kranke zu heilen, Reiche erkauften sich mit Bildern einen kürzeren Weg ins Himmelreich. Späte Erscheinungsformen dieser magisch zu nennenden Vorstellungen haben wir in der Gegenwart noch dort, wo von Kunsttherapien gesprochen wird.

Diese Funktionalisierung der Kunst ist aber eigentlich seit dem 18. Jahrhundert obsolet geworden. Nicht jedoch im Bereich von Kunst und Kirche. Hier feiern die Instrumentalisierung und die Ingebrauchnahme der Kunst für außerästhetische Zwecke immer noch Triumphe, Theolog:innen und Gemeinden haben es nicht anders gelernt.

Im Folgenden möchte ich in vier Texteinheiten anhand von einigen Beispielen, die im Monat Dezember 2021 auf meinen Schreibtisch kamen, einige Grundprobleme dieses theologischen Umgangs mit der historischen wie der zeitgenössischen Kunst erörtern.


Die Dialektik von Form und Inhalt

In der ersten Texteinheit geht es um das Verhältnis von Form und Inhalt in der Kunst.

Die mangelnde Beachtung der künstlerischen Form und der sich darin artikulierenden intentio auctoris sowie der intentio operis zugunsten einer willkürlichen, an der Textillustration orientierten intentio lectoris ist ein gravierendes Problem im Blick auf das Verstehen von Kunst. Wir schauen gar nicht mehr auf die Kunstwerke, sondern meinen, Spiegelungen unserer eigenen Ideen in den Objekten wiederentdecken zu können.

Dagegen ist mit Otto Pächt daran zu erinnern, dass gegenüber der Kunst immer der Satz gilt: "Am Anfang war das Auge".


Von der Propagandakunst zu den SharePics

In der zweiten Texteinheit geht es um die Reduktion von Kunstwerken auf Propagandabilder bzw. aktuell der Missbrauch von Kunst zu SharePics. In Zeiten, in denen die social media eine zentrale Bedeutung bekommen haben, werden auch deren Strategien zur Aufmerksamkeitserregung gerne kopiert. Und eine davon lautet: Bündle Deine Botschaft in einem SharPic. Und für die Theologie und die Kirche ist das deshalb so attraktiv, weil sie nun ihre eigenen Texte in die Bilder gleich eintragen kann.

Eigentlich hatte sich die Kunst mit und nach der Renaissance von dieser Form der Textüberlagerung von Bildern verabschiedet, nun aber, da die Kompetenz zum erkennenden Schauen von Bildern nicht mehr sehr verbreitet ist, kehrt die Text-Bild-Symbiose zurück, ganz nach dem Motto: Sagen wir den Betrachter:innen doch gleich, worum es geht.


Pseudo-Verismus oder: was ist wahr?

In der dritten Texteinheit geht es um ein neuerdings immer häufiger auftretendes Problem, die identitätspolitische Korrektur der christlichen Kunst-, Bild- und Kulturgeschichte durch Entfernung, Modifikation oder Etikettierung von als ‚unwahr‘ erkannten Bildern. Das setzt voraus, dass lebensweltliche Kriterien von „wahr“ und „unwahr“ auf Kunstwerke oder Bildobjekte angewendet werden können und zwingt dazu, Kriterien aufzustellen, aus denen deutlich wird, wie ethische oder moralische Wahrheitsurteile über Kunstwerke oder Bildobjekte gefällt werden können.

Es wären dann allerdings Kriterien, die mit dem Selbstverständnis der Kunst nichts zu tun haben und der Autonomie der Kunst widersprechen.


Modelle der Akkommodation, Inkulturation, Kontextualisierung

In der vierten, abschließenden Texteinheit geht es zum einen um die Frage, ob und wie eine zeitgenössische Inkulturation von biblischen Geschichten überhaupt gelingen kann, wenn die Kunst selbst biblische Geschichten gar nicht mehr illustriert und die verbliebenen Illustrationen eben dann doch nur Design von Ideologien sind? Es ist ja das eine, Kriterien identitätspolitischer Kunst aufzustellen, die andere Frage ist, ob die Kunst sich darauf einlässt. Nimmt man dann nur noch jene Kunst, die sich auf die ihr heteronomen Kriterien einlässt, unabhängig davon, wo sie im Betriebssystem Kunst steht? Die andere Frage ist, was denn gelingende Modelle von Akkommodation, Inkulturation und Kontextualisierung sind, bei denen alle Beteiligten sagen können, dass die Objekte sich auf der Höhe der Zeit befinden und zugleich das gewünschte Ergebnis zeitigen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/135/am744.htm
© Andreas Mertin
, 2022