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Magazin für Theologie und Ästhetik


Re-Lektüren

Über Google-Print und das seltsame Vergnügen, alte Texte zu lesen

Andreas Mertin

Fundstück I (1826)

Nach der Eingabe der Worte 'Kunst' und 'Religion' stoße ich zunächst auf die 1826 erschienene Schrift "Dr. Fesslers Resultate seines Denkens und Erfahrens als Anhang zu seinen Rückblicken auf seine 70jährige Pilgerschaft". Was für ein selbstbewusster Titel! Dr. Ignatius Aurelius Fessler ist, soweit ich es recht recherchiert habe, ein evangelischer Superintendent mit freimauererischen Tendenzen und einer Vorliebe für die antike Skulptur und die Kunst des Barock. Auf einer Seite zur Geschichte der Russlanddeutschen finde ich folgende Informationen:

IGNATZ AURELIUS FESSLER: * 1756 in Zurnsdorf (Östereich) † 1839 in Petersburg. Fessler, ein sehr vielseitiger Mann, wirkte zunächst als Kapuzinerpater in Ungarn, wurde dann jedoch Pietist und Freimaurer. Er war auch als Professor für orientalische Sprachen tätig. Dieser Tätigkeit schlossen sich 20 Jahre vorwiegend schriftstellerisches Schaffen in Deutschland an. 1791 trat er zum lutherischen Glauben über. Nach einem längeren Aufenthalt in der Herrnhuter Brüdergemeinde in Sarepta übte er von 1819-1822 das Amt eines lutherischen Bischofs aus. Während dieser Zeit hinterließ er im Bildungssektor deutliche Spuren. Sein Ziel war es, das kulturelle Leben in den Kolonien aufzubauen, eine deutsche Intelligenz heranzubilden und vor allem Ordnung im Schulwesen zu schaffen. Es muss gesagt werden, dass Fessler für die Aufrechterhaltung der Ordnung an Kolonistenschulen den ausdrücklichen Auftrag der russischen Regierung besaß. Er versuchte bei den russischen Behörden eine Schulreform durchzusetzen, die auch die Bildung eines Lehrerseminars vorsah. Der Versuch scheiterte. Allerdings war es seinem Einfluss zu verdanken, dass zur Konfirmation nur Konfirmanden zu gelassen wurden, die lesen konnten und im Katechismus Bescheid wussten. Er führte auch das so genannte Brautexamen ein.

Noch ausführlicher in der Darstellung ist das Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon Bautz. Dort kann man lesen, dass Fessler nach 1796 in Berlin zusammen mit Johann Gottlieb Fichte, die Statuten und das Ritual der Freimaurerloge Royal York reformieren sollte. Fessler ist etwas jünger als Goethe, wenig älter als Schiller. Als die französische Revolution die Welt dauerhaft verändert, ist er 33 Jahre alt und musste kurz vorher wegen seines Trauerspiels "Sidney" seine Professur niederlegen und nach Breslau fliehen. Insgesamt kann man sein Leben sicher als sehr bewegt ansehen.

Die Schrift, die ich bei Google herunter geladen habe, ist ein Anhang seiner Lebenserinnerungen und beschäftigt sich mit dem gesamten kulturellen und gesellschaftlichen Leben, und zwar mit I. Religion, II. Christenthum und Kirche, III. Philosophie, IV. Historie, V. Kunst, VI. Recht - Staat - Krieg, VII. Geschlecht - Liebe - Ehe, VIII. Paradoxien; alles in allem: mit Gott und der Welt. Mich interessiert natürlich zunächst das fünfte Kapitel: die Kunst. Was dachte dieser evangelische Superintendent über die Bedeutung der Kunst für die Religion, über die Kunst seiner Zeit und das Wahre, Gute und Schöne? Wie befangen war er von den Vorurteilen seiner Epoche, wie stark trat er für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität, die Ideale der Freimaurerei, auch in der Kunst ein?

Die Lektüre der 54 Seiten zum Thema Kunst ist überaus spannend und beklemmend zugleich. Beklemmend, weil man in der Retrospektive sieht, wie sehr die theologischen und ideologischen Einstellungen der Zeit sein Urteilsvermögen überformen, spannend, weil man sieht, wie stark gerade der philosophische Idealismus auf seine Zeitgenossen gewirkt hat. Fesslers Urteile sind entschieden und klar, seine Stellungnahmen lassen selten an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Anders als in der Literatur, in der Goethe und Schiller eine wichtige Rolle spielen, kommen zeitgenössische Künstler der Bildenden Kunst wie Caspar David Friedrich (und der so genannte Ramdohr-Streit) oder die Nazarener bei ihm nicht vor. Ganz ideologisch wird Fessler, wenn er sich mit der französischen Kultur befasst, kaum etwas findet Gnade vor seinen Augen. Deren Schriftsteller seien - wie man heute sagen würde - intellektuell verkopft, zu echtem Gefühl und damit zur Poesie nicht fähig. Zeitgenössische französische Künstler - wie Jacques-Louis David, Eugène Delacroix oder Théodore Géricault - scheint Fessler nicht zu kennen. Unverkennbar ist sein ästhetisches Vorbild die Antike und hier - der ästhetischen Anschauung des 18. Jahrhunderts und darin Johann Joachim Winckelmanns KLassizismus entsprechend - die Skulptur.

Der Text von Fessler setzt im Kapitel über die Kunst ein mit der programmatischen Bestimmung: "Der höhere Kunstsinn schliesst sich nur in dem religiösen Gemüthe auf; er verstärkt sich unter unablässiger Contemplation des Ideals von dem Wahren, Schönen, Guten und Heiligen." (S. 227) Atheisten und Agnostiker sind demnach schlechte Künstler und Kunstrezipienten - vielleicht muss ein Superintendent so reden, aber skurril ist es aus heutiger Perspektive doch. Woraufhin das zielt, wird dann in der folgenden Bemerkung deutlich: "Das heilige Gebieth der bildenden Kunst wurde durch die Symbolik des Heidenthums und die Allegorik des Christenthumes vollendet, indem jenes die Unendlichkeit im Endlichen darstellte, dieses die Endlichkeit als blossen Wiederschein des Unendlichen zeiget; die Kunstgebilde beyder aber durch die Gestaltung der göttlichen Idee, als heilige Offenbarungen der Kunst sich ankündigen ... Vor dem Jupiter des Phidias steigert sich das Wohlgefallen des Beschauers zur Erfurcht und Anbethung; vor Guido Renis Madonnen geht das Wohlgefallen in süsse Sehnsucht und Liebe über." (S. 228) Das also ist für den Superintendenten Fessler 1826 die vorbildliche Kunst: Die Zeusstatue des Phidias in Olympia, eines der Sieben Weltwunder, und der klassizistisch angehauchte Barockmaler Guido Reni mit seinen Madonnen. Und das sind die anzustrebenden Wirkungen der bildenden Kunst: Erfurcht und Anbetung einerseits sowie süße Sehnsucht und Liebe andererseits.

Letztlich geht es um das Ideale, um eine Idee, "wie sie in dem Laokoon und in Guido Reni's Sebastian, in der Niobe und in Domenichino's Agnes mit gleicher Kraft Würde und Zartheit ausstrahlet." (S. 232)

Und weil es hier jeweils um religiöse Ideen und (das) Ideale geht, schlussfolgert Fessler: "Aus all dem dürfte folgen, dass ohne innige und tiefe Religiosität wie kein vollendeter Künstler, eben so kein hellsehender Kunstkenner und wahrer Kunstverehrer gedacht werden kann; und gleichwie die göttliche Idee des Schönen und Heiligen als Seele das vollendete Kunstgebilde beleben muss, so ist auch nur das Göttliche im Menschen der erzeugende oder der erkennende Grund jedes echten Kunstwerkes." (S. 232)

Im nächsten Schritt differenziert Fessler zwischen der Kunst an sich und ihren konkreten Gestaltungen in Musik, Literatur und bildender Kunst. Idealisch (sowie mathematisch und mystisch) ist hier nur die Musik, während Plastik, Literatur und Malerei ihren Stoff empirisch, typisch und historisch behandeln. Für die Werke der Musik gilt: "diese führen, nach der Mannigfaltigkeit ihres Charakters, dem beschauenden und fühlenden Gemüthe bloss reine Formen der Anschauung, z.B. des Grossen und Erhabenen, des Begrenzten und des Unendlichen, so wie nur die reinen und allgemeinen Ausdrücke der Gefühle, etwa der Sehnsucht, der Liebe, der Trauer, der Freude oder der Ehrfurcht, ohne einen besonderen Gegenstand und Inhalt, vor. Welche Anschauung auch den Künstler ergriffen, welches Gefühl sich seiner ganz bemächtiget haben möchte, dem Geiste des geniessenden Kunstfreundes bleibt unbedingt freygestellt, was er unter den melodischen und harmonischen Fortschreitungen des Kunstwerkes, im Endlichen, oder im Unendlichen, fest halten, was er als den Ausdruck seiner Empfindung, gleichsam als seinen Text unterlegen will." (S. 236)

Diese Hochschätzung der Musik kann an eine längere Tradition anknüpfen, die mit den Namen Augustin, Boethius, Beda und dann auch Guido von Arrezzo verbunden ist. Bei ihnen werden die Wurzeln der Musik in den Zahlenverhältnissen und ihren kosmischen Entsprechungen gesucht und theologisch fundiert, indem sie allegorisch gedeutet wurden. Dennoch ist die Vollkommenheit der Musik nach Fessler niedriger als die göttliche Harmonie des Kosmos.

"Immer wird ein richtig geleiteter Kunstsinn den Werken der Plastik den Vorzug über die Werke der Mahlerey einräumen" (S. 238) schreibt Fessler und das liegt natürlich daran, dass die Plastik die idealen Formen besser ausdrücken kann.

Und innerhalb der Plastik selbst ist es natürlich zunächst und vor allem die Antike, welche den kunstsinnigen Superintendenten zu fesseln und zu überzeugen vermag, ja ihn zu geradezu enthusiastischen Äußerungen hinreißt. Er erläutert dies ausführlich im Vergleich von Giovanni Lorenzo Berninis "Die Verzückung der heiligen Theresa von Avila" in der Kirche Santa Maria della Vittoria in Rom mit dem "Apollo von Belvedere" des antiken Bildhauers Leochares aus dem 4. Jahrhundert vor Christus. Bernini ist der Hauptvertreter der römischen Barockskulptur und hat gerade mit der Verzückung der heiligen Theresa von Avila die gekonnte Mischung aus Plastik und Architektur vor Augen geführt. Dennoch vermag er Fessler im Vergleich mit der Antike nicht ganz zu überzeugen:

"Obgleich in der heiligen Märterin der Ausdruck des Angesichtes an Wahrheit, Anmuth und würde nichts zu wünschen übrig lässt, so kann man dennoch das Missfallen über das Abgerundete, Schwebende, Unbestimmte der Formen, und über das unverkennbare Streben des Künstlers, in Marmor zu mahlen, nicht sogleich unterdrücken; und so vollkommen es ihm auch gelungen war, in der heiligen Nonne den Ausdruck der göttlichen Begeisterung und des völligen Zerfließens in der Gottheit dem Steine einzuhauchen, so ist doch ihr Blick des Entzückens, ihr halb offener Mund, ein gänzliches Versinken und Vergehen in himmlischer Liebe andeutend; das erstorben scheinende Gefühl ihrer Körperlichkeit und das sinkende Haupt, das Hinschwinden ihrer Selbstheit bezeichnend, mehr geeignet ängstliche Bekümmerung und Beklemmung, als behagliches Wohlgefallen zu erwecken." (S. 241) Letztlich ist ihm Berninis Werk vermutlich viel zu konkret, zu historisch, zu real , vielleicht auch zu illustrativ und daher viel zu wenig idealisch.

Ganz anders verhält sich das mit seinem Vergleichswerk, dem Apollo des Leochares, auch wenn ihm dieses nur als Abguss zur Betrachtung zur Verfügung stand:

"Aber noch mehr und Höheres, als behagliches Wohlgefallen, wirket die Betrachtung des wahrhaft göttlich erscheinenden Apollo von Belvedere, in welchem Formen und Charakter, Schönheit und Ausdruck in höchster Reinheit und Harmonie in einander fliessen; in welchem die menschlich erreichbare Höhe des Kunst-Ideals glücklich errungen worden ist. Je öfter ich mich in dem Dresdner Gypssaale auch nur dem treuen Abgusse von diesem vollendeten Werke der Plastik näherte und vor ihm weilte, desto mächtiger drängte sich mir ein Höheres, als die innigste Verschmelzung der Schönheit mit dem Ausdrucke auf; jedes Mahl steigerte sich meine Ueberzeugung, dass aus der Kunst, sie möge in Gebilden, Gemählden, Dichtungen oder Harmonien zu uns reden, eine Offenbarung sich ausspreche, von welcher alle Alterthumskunde, Schul-Theologie und Weltweisheit nichts wisse. Nur das vollendete Gemüth des Künstlers war fähig, diesen Apollo zu schaffen. Die Idee des Ewigen, Heiligen und Göttlichen musste seine Seele ganz überwältiget, und sich ihr Ideal der Schönheit eingebildet haben; erst dadurch erlangte seine Phantasie die hohe Schwungkraft, für die Darstellung seiner geistigen Anschauung die schönen Formen zu schaffen, und sein Gefühl den richtigen Tact, die Wahrheit und das Maass des Ausdruckes zu treffen" (S. 241f.)

Nicht Charakter und Geschichte, nicht Existentielles und Subjektives soll eine Plastik zeigen, sondern die Idee des Schönen, Heiligen und Göttlichen. Nur dann kann sie als vollkommene Skulptur betrachtet werden.

Im Folgenden wendet sich Fessler dann der Malerei zu. Hier verweist er zunächst auf eine Darstellung von Ludovico Carracci mit einer idealen Abbildung des Johannes des Täufers in der Wüste (S. 243f.), die sich aber von mir nicht verifizieren ließ. Gefunden habe ich nur zwei durchaus verschiedene Darstellungen seines Vetters Annibale Carracci zum selben Thema. Der idealisierenden Beschreibung Fesslers ist nicht zu entnehmen, ob es sich um eines dieser Werke handelt und seine Zuschreibung an Ludovico Carracci evtl. falsch ist. Gelobt wird jedenfalls an diesem Bild "das Idealische des Guido, das Colorit des Tizian, das Feuer des Tintoretto, die Harmonie des Veronese und die Grazie des Correggio".

Fesslers nächstes Beispiel ist Leonardo da Vincis Abendmahl, bei dem er schon die Motivwahl (den Moment der Verratsankündigung), höchst lyrisch verklärt. Das Werk scheint er nach eigenem Bekunden nur durch „gute und genaue Kopien“ zu kennen, was angesichts der Verfallsgeschichte des Bildes sicher problematisch ist. Nächste Künstler auf seiner Liste sind Tizian, Correggio, Tintoretto und Veronese, alle werden für ihr Werk in höchsten Tönen gelobt. Den Abschluss seiner Reflexionen zur Bildenden Kunst bildet schließlich die verbale Skizze eines idealen Bildes zum Lobe der Kultur der Menschheit, das im Stile von Raffaels „Schule von Athen“ und Overbecks „Triumph der Religion in den Künsten“ alles versammelt, was in Fesslers Augen Rang und Namen hat. Dem schließt sich eine böse Abrechnung mit dem französischen Kulturleben an, das auf einem derartigen Gemälde keinen Platz verdient: niemand würde „den gepriesenen Meistern und anmassenden Lehrern des Geschmacks an der Seine einen Platz darauf einräumen“, den bei ihnen wäre „der Tempel der Kunst ganz im Dunkeln“. Spätestens an dieser Stelle wird Fesslers Abhängigkeit vom Zeitgeist überdeutlich.

Ich breche hier die Paraphrase der Überlegungen Fesslers ab. Der weitere Text wendet sich insbesondere der Literatur zu. Erkennbar ist, dass Fessler ganz im Banne der Darstellungsästhetik des Ideals des Schönen steht. Im Vergleich etwa zu den Reflexionen der Gebrüder Schlegel ist er stärker an der Antike orientiert, aber in der Tonlage durchaus verwandt. Was bei ihm noch nicht auftaucht, ist der romantische Gedanke des Fragments. Was an Fessler fasziniert, ist überhaupt die seinerzeit noch vorhandene Bereitschaft, als Theologe und Superintendent in den kulturellen Reflexionen der Zeit mitzureden. Das war zur Zeit der Romantik vielleicht letztmalig möglich. Es ist die Zeit, in der vielleicht zum letzten Male versucht wurde, Kunst und Religion zusammen zu denken. Dass dieses Projekt gescheitert ist, wissen wir als Menschen der Moderne, warum es gescheitert ist, wird aus dem folgenden Fundstück deutlich, das zeigt, wie die Religion selbst zur zeitgenössischen Kultur ungleichzeitig wird und nur noch mit überholten normierenden, eher bürgerlichen als christlichen Vorstellungen reagiert. Das intellektuelle Reflexionsniveau der neoklassizistischen und romantischen Zeit erreicht die religiöse Reflexion der Kunst nicht mehr.



© Andreas Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 44/2006
https://www.theomag.de/44/am200a.htm