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Magazin für Theologie und Ästhetik


Irrungen, Wirrungen, Spiegelungen

Tà katoprizómena und seine LeserInnen

Andreas Mertin

Mit der 14. Ausgabe besteht das Magazin für Theologie und Ästhetik Tà katoptrizómena seit drei Jahren. Ich nehme das zum Anlass, einige Skurrilitäten, Beobachtungen, Vermutungen und Reflexionen rund um das Magazin und seine Rezipienten mitzuteilen - natürlich ironisch, wie die mit dem Magazin vertrauten LeserInnen schon vermuten werden.

Was begründet den Erfolg (oder Misserfolg) eines Magazins? Was möchten Leserinnen und Leser geboten bekommen und was interessiert sie nur am Rande? Worin unterscheidet sich die Rezeption eines Print-Magazins wie z.B. "Kunst und Kirche" von einem E-Zine wie Tà katoptrizómena?

Täglich bekommen die Herausgeber eines E-Zines Spiegelungen ihres Engagements und zwar weniger in Form von E-Mails oder Leserbriefen (auch die gibt es), als vielmehr - ausführlicher als jeder Zeitschriften- oder Fernsehredakteur - in Form von detaillierten Quoten. Einer kirchlich subventionierten Zeitschrift kann es über lange Zeit egal sein, was ihre Leser interessiert und was sie von ihr denken. Die Statistik einer Website aber gibt gnadenlos Auskunft nicht nur über die Zahl der Besucher und die von ihnen aufgesuchten Seiten, sondern auch - und das wissen vielleicht viele Nutzer nicht - über die Interessen und Fragestellungen, mit denen zumindest die jeweils erste Seite aufgesucht wurde. Die Statistik einer Website liefert nämlich die bei einer Suchmaschine eingegebenen Stichworte gleich mit, anhand derer jemand auf eine Seite stößt. Und da Suchmaschinen die am häufigsten genutzten Erschließungsinstrumente des Internets sind, erweist sich die Wahl von Worten und Wortkombinationen dementsprechend als entscheidend für den (angesichts dessen doch etwas zweifelhaft werdenden) Erfolg einer Seite im Netz.

Irrungen oder: Der Teufel steckt im Detail

Denn nicht immer ist die so erreichte Leserschaft unbedingt auch die gewünschte. Ein Beispiel: Anlässlich des so genannten Jahrtausendwechsels veröffentlichte Tà katoptrizómena im Heft 5 einen Monolog aus dem Kinofilm "Im Auftrag des Teufels", in der eine Wortkombination vorkam, die offensichtlich für eine bestimmte Klientel des Internets interessant ist. Jedenfalls gab die Website-Statistik für die entsprechende Magazinseite folgende Auskunft über die faktisch stattgefundenen Direktaufrufe nach der Eingabe von Suchbegriffen in Suchmaschinen:

Innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten wurde die Seite insgesamt 90mal und dabei nach der Eingabe von Suchbegriffen in Suchmaschinen genau zehnmal aufgerufen. Die Hälfte der "Leser" interessierte sich dabei für die Wortkombination "faust + ficken" bzw. "ficken + mit + der + Faust". Drei Aufrufe geschahen in der (ebenso vergeblichen) Hoffnung etwas über den Literaten John Milton zu erfahren (im Kinofilm ist John Milton der ironisch gebrauchte Eigenname des Teufels), einer der Suchenden wollte etwas über Kokainentzug wissen. Nur eine einzige Suchanfrage hatte wenigstens indirekt etwas mit dem Thema der Seite zu tun: dem Teufel in der Kunst. Der Grund, dass die ersten fünf überhaupt auf das Magazin verwiesen wurden, liegt in folgender Formulierung in der publizierten Silvesteransprache des Teufels:

Das könnte einem Print-Magazin mit analoger theoästhetischer Thematik nicht passieren. Wer sich für "ficken + mit + der + Faust" interessiert, schlägt kein Kunstmagazin auf und wird auch in den seltensten Fällen auf eines verwiesen. [Natürlich liest so jemand auch einmal die Zeitschrift "Kunst und Kirche", z.B. wenn sie als Verpackungsmaterial genutzt wurde, aber das gehört eher zu den systemimmanenten Unwahrscheinlichkeiten.]

Auch jener Nutzer der Suchmaschine Google, der aus welchen Gründen auch immer "München + Mädchen + nackt + für + Klaus" eingab, dürfte sich nicht wenig gewundert haben, als er auf Petra Bahrs Aufsatz über Loie Fuller in der 2. Ausgabe von Tà katoptrizómena stieß. Tatsächlich kommen alle gesuchten Worte im Artikel vor (freilich in etwas anderer Reihenfolge), dennoch ist der Sinn und der Inhalt des Artikels offenkundig ein anderer. Missionarische religiöse Seiten haben derartige Effekte lange Zeit so genutzt, dass sie in den Metatags ihrer HTML-Seiten unter keywords die 100 am häufigsten nachgefragten Begriffe im Internet eintrugen, also "bumsen, ficken, nackt, ..." Der Sinn und Erfolg des so erzeugten Traffics dürfte aber eher zweifelhaft sein. Um nicht den Verdacht zu nähren, es gäbe nur Irrungen sexueller Natur, sei darauf verwiesen, dass auch die nach den Begriffen "Kohlenfaden-Glühlampe" bzw. "Brillenträgerin" Suchenden mit Petra Bahrs Aufsatz nicht unbedingt auf das von ihnen Gesuchte gestoßen sind. Von eher privaten und daher apokryphen Such-Formulierungen wie "Mailänder + Walter + Tübingen" einmal ganz abgesehen. Der Zufall ist im Internet ein beredter Lektürehelfer.

"Es geht darum, nach der Trennung von Theologie und Ästhetik zu sichten, was das gemeinsame Verhältnis konstituiert hat, welches die legitimen oder auch illegitimen Kinder dieser Beziehung sind und wie sowohl das diesbezügliche Sorgerecht, wie auch künftige Begegnungen zu regeln sind. Herausstellen muß sich zudem noch, ob einer der Beteiligten nicht faktisch in Bigamie gelebt bzw. Ehebruch getrieben hat" schrieb ich im Aufsatz "Holzwege. Zum Verhältnis von Theologie und Ästhetik in der Postmoderne" in der Erstausgabe des Magazins. Das wird denjenigen kaum interessiert haben, der aus einem unmittelbar rekonstruierbaren Interesse "Ehebruch+Sorgerecht" in die Suchmaschine eingegeben hat und prompt nicht nur auf den Aufsatz verwiesen wurde, sondern diesen auch anklickte - vermutlich wegen des seriös klingenden Wortes "Theologie" im Magazintitel.

Selbstverständlich sind derartige Verirrungen nicht die Regel, aber auch nicht ganz selten: sie gehören quasi zur Logik des Systems "Internet". Da jedes Wort digital erfasst wird, müssen Missverständnisse der geschilderten Art geradezu zwangsläufig entstehen. Jedes Mal, wenn Worte, die in ihrer Abfolge einen eindeutig-zweideutigen Sinn ergeben, in irgend einer kontingenten Reihenfolge in einem Magazintext auftauchen, werden die Suchmaschinen auf ihn verweisen. Ich schätze das Potenzial der (fehlgeleiteten) Leser, die aus diesem Grund Tà katoptrizómena im Internet aufsuchen, auf ungefähr 10%.

Wirrungen oder: Im Labyrinth des Netzes

Weniger zur Kategorie der Irrungen als vielmehr der Kategorie der Wirrungen gehört es, wenn in einer Debatte im World Wide Web die Erregung sich so steigert, dass ein Debattenteilnehmer seinem Gegner hämisch angesichts dessen Geisteszustand die Betreuung durch eine Seelsorgeinstitution nahe legt und in diesem Zusammenhang auf den Internet-Seelsorgeaufsatz von Sabine Bobert-Stützel in Heft 7 verweist. Natürlich klicken sofort neun Teilnehmer der Diskussion auf den so gelegten Link und lernen ganz unverhofft Tà katoptrizómena kennen.

Zu den Wirrungen gehört es auch, wenn andere Netz-Aktivisten aus der Tatsache, dass Tà katoptrizómena im Internet kostenlos erscheint, die Erlaubnis ableiten, einfach mal in verschiedenen Ausgaben der Zeitschrift zu "wildern" und ganze Aufsätze ohne Benachrichtigung der Redaktion oder der Autoren im eigenen Ambiente publizieren. Das Urheberrecht in Deutschland, auf das wir in jeder Ausgabe und in jedem Artikel mit dem kleinen ©-Zeichen verweisen, macht deutlich, dass derartige Freibeutereien bei aller Freiheit im Netz nicht nur unzulässig sind, sondern die Netzkultur auch schädigen. Was nicht heißt, dass man die Texte nicht zum Abdruck bekommen könnte, so wie ja auch das Magazin selbst dankbar auf Publikationen an anderen Orten, in anderen Kontexten und auch in Print-Magazinen zugreift. Aber dazu werden natürlich die Abdruckgenehmigungen der jeweiligen Autoren eingeholt. Denn auch Autoren möchten gerne wissen, in welchen Kontexten sie erscheinen.

Wunderbar sind schließlich jene Hinweise von Einzelnen, "Künstlern" und ihren Vertretern, die aus der Kombination von "Theologie" und "Ästhetik" im Magazintitel schließen, dass sie hier vor allem religiöses Kunsthandwerk anzeigen und weiterempfehlen können. Wir verfolgen - soweit die Zeit es zulässt - jede Linkempfehlung, die uns zugeht (und darunter sind auch sehr viele außerordentlich interessante Projekte), aber manchmal ist es doch schon skurril, wie Kunst und Religion miteinander verbunden werden.

Spiegelungen oder: Der Punktsieg der Populärkultur über die Hochkultur

Der wahre Spiegel des Interesses an Tà katoptrizómena ist aber die faktische Nachfrage nach einzelnen Artikeln, Aufsätzen und Autoren. Seit dem ersten Erscheinen kann das Magazin ein kontinuierlich steigendes Interesse aufweisen, die Abonnentenzahl nimmt zu, die Zugriffe sind für ein doch höchst spezialisiertes Periodikum außerordentlich hoch.

Die populärsten Beiträge des Magazins für Theologie und Ästhetik sind - nicht ganz unerwartet - die populärkulturellen. Das sind zum einen Besprechungen von Videoclips, zum anderen Analysen von Mainstream-Kinofilmen und Beschreibungen von Szene-Phänomenen wie Tattoo und Piercing. Sie führen mit Abstand die Nachfrage an. Das kommt vor allen Dingen daher, dass auf sie nicht nur von den konstanten Leserinnen und Lesern, sondern vor allem auch nach Suchworteingabe in die Suchmaschinen zugegriffen wird. Und da das Informationsbedürfnis über Pop-Größen wie Madonna, Michael Jackson oder über Kinofilme wie "Lola rennt" entsprechend groß ist, wird auch auf die Seiten des Magazins, die sich mit diesem Themenspektrum auseinandersetzen, entsprechen häufig zugegriffen.

Jedoch fällt der Sieg der Texte über die so genannte Populär- und Alltagskultur über die Texte über die so genannte Hochkultur und die fachwissenschaftlich- oder kulturhermeneutischen Texte nicht ganz so triumphal aus, wie man es gewöhnlich außerhalb des Cyberspace beobachten kann. Allenfalls handelt es sich um einen Punktsieg. Markus Steinmayrs kritische Analyse von Vinterbergs Fest erfreut sich glücklicherweise ebenso reger Nachfrage wie Paul Gräbs beschreibende Bestandsaufnahme des Verhältnisses von Kunst und Kirche in den letzten 30 Jahren oder Petra Bahrs Aufsatz über Loie Fuller. Und auch Serviceleistungen wie die Linklisten zu Museen und Galerien im Netz werden gerne und häufig genutzt.

Und schließlich kann man auf den Homepages verschiedener Künstler anhand der Literaturhinweise nachlesen, dass die Kritiken im Magazin für Theologie und Ästhetik auch in der Kunstszene aufmerksam zur Kenntnis genommen werden. Das erfreut die Redaktion natürlich.

Und selbst für Schülerreferate und Seminararbeiten wird inzwischen gerne auf - vor allem populärkulturelle - Beiträge aus Tà katoptrizómena zugegriffen. Dabei kommt es auch zu heftigen Rückmeldungen von Fans, die ihr Idol angegriffen wähnen und jede Kritik für ein Sakrileg halten. So zum Beispiel, wenn nach einer kritischen Besprechung von Rammsteins Clip"stripped" in Heft 6 folgende etwas patzige Email eintrifft: "Jemand der sich ernsthaft mit Rammstein auseinandersetzt, sollte relativ schnell zu der Einsicht kommen, dass diese Band sich mit Thematiken beschäftigt für welche die Kirche keine Schullösung parat hat, um ihren unmündigen Schäflein den Weg zu weisen. Also ist es Teufelswerk, hat rechtsradikale Tendenzen und sollte von allen wahren Christen geächtet werden. Vielleicht sollten Sie sich einmal die Mühe machen und alle Texte von Rammstein lesen/hören und versuchen sie zu verstehen (was jedoch einen gewissen Grad an Intelligenz und Intellekt voraussetzt) bevor Sie etwas Fremdes verfluchen." Nun ja.

Die Mehrzahl der Reaktionen ist freilich eher positiver Art, sie betrifft Anregungen für neue Themen, Aufsatzangebote und Verweise auf interessante ästhetische und theologische Projekte im und außerhalb des World Wide Web.

Tà katoptrizómena und seine LeserInnen

Wer liest Tà katoptrizómena? Das lässt sich natürlich nicht eindeutig beantworten; nur ungefähre Rückschlüsse lassen sich ziehen. Abgesehen von den an spezifischen Fragen orientierten LeserInnen, die durch Stichworteingabe in Suchmaschinen zu einem bestimmten Artikel gelangen und sich von dort aus weiterklicken, lebt das Magazin natürlich vom Interesse seiner AbonnentInnen und AutorInnen. Und diese rekrutieren sich, soweit das für die Redaktion erkennbar ist, insbesondere aus vier Bereichen: zum einem aus dem Bereich der Universitäten und Fachhochschulen und hier vor allem aus dem akademischen Mittelbau, zum zweiten aus dem Bereich der kulturell interessierten LehrerInnen und MultiplikatorInnen, zum dritten aus dem direkten künstlerisch-ästhetischen Bereich, also KünstlerInnen, ArchitektInnen, KunstkritikerInnen, und schließlich aus dem Bereich der in der Kirche Arbeitenden. Das ist eine LeserInnenschar mit recht unterschiedlichen Erwartungen, sei es im Blick auf die Hochkultur, sei es im Blick auf die populäre Kultur.

Geographisch kommen gut zehn Prozent aller AbonnentInnen aus der Schweiz, Österreich und den Niederlanden, hinzu kommen AbonnentInnen aus Bulgarien, Frankreich, Italien, Singapur und den USA. Gelesen wird das Magazin aber auch - wie Emails und Verlinkungen zeigen - in England, Finnland und Sibirien.

In einem gewissen Sinne kann das Magazin inzwischen als Angebot für eine Plattform einer theo-ästhetischen Crossover-Kultur begriffen werden. Nach dem Ende jener Phase der Autonomisierung der Diskurse, die auf Abgrenzung bedacht war, sind wir nun in einem Stadium des Experiments, des Versuchs, autonom gewordene Diskurse nicht im Stadium der Abgrenzung zu belassen, sondern neue Grenzüberschreitungen zu wagen, ohne eine neue Verpflichtung auf Wiedervereinigung und Einheit einzugehen.

In der Zukunft wollen wir uns vor allem verstärkt darum bemühen, Beiträge aus anderen kulturellen, vor allem internationalen Kontexten einzuholen, um das Spektrum auch in dieser Hinsicht zu erweitern. All das hängt natürlich vom vertretbaren Zeitaufwand ab, denn Tà katoptrizómena ist und bleibt ein nicht kommerzielles, sozusagen ehrenamtliches Projekt, dass auf der Idee des freiwillig geteilten Wissens basiert.


© Andreas Mertin 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 14/2001
https://www.theomag.de/14/am38.htm